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3.

Nach den sechs Jahren eines lasterhaften, üppigen, verweichlichenden Stadtlebens und dem zweimonatigen Aufenthalt im Gefängnis, unter den Kriminalverbrechern, erschien das Leben mit den Politischen trotz der Strapazen, die es mit sich brachte, der Maslowa doch sehr angenehm und erfreulich. Der tägliche Marsch von zwanzig bis dreißig Werst, bei guter Kost und einem Rasttage nach je zwei Tagemärschen, hatte sie körperlich sehr gekräftigt, und der Verkehr mit den neuen Kameraden eröffnete ihr neue Lebensinteressen, von denen sie bisher keine Vorstellung gehabt hatte. So »prächtige Leute«, wie sie sich ausdrückte, hatte sie bisher noch nicht kennengelernt. »Da habe ich nun geweint,« sagte sie, »daß ich verurteilt worden bin, und ich muß ja Gott mein Lebtag dafür danken!« Sie begriff die Beweggründe, welche diese Leute leiteten, und hatte als Kind des Volkes mit ihnen, die zwar selbst aus der Mitte der Herren stammten, aber doch so tapfer für das Volk eintraten, warme Sympathien.

Sie war von allen ihren neuen Kameraden entzückt. Am meisten aber schwärmte sie für Maria Pawlowna, ja sie schwärmte nicht nur für sie, sondern hegte für sie geradezu eine ehrerbietige, begeisterte Liebe. Es machte auf sie einen tiefen Eindruck, daß dieses schöne, aus einer reichen Generalsfamilie stammende Mädchen, das drei fremde Sprachen beherrschte, sich wie die einfachste Arbeiterin hielt, daß sie alles, was ihr reicher Bruder ihr schickte, an die andern verteilte, daß sie nicht nur einfach, sondern sogar ärmlich gekleidet ging und ihrem Äußeren gar keine Aufmerksamkeit schenkte. Dieser Zug besonders – die völlige Abwesenheit jeder Koketterie – versetzte die Maslowa in höchstes Erstaunen und Entzücken. Wohl wußte Maria Pawlowna, daß sie schön sei, und es war ihr auch angenehm, sich schön zu wissen, andererseits jedoch war sie über den Eindruck, den sie auf die Männer machte, nicht nur nicht erfreut, sondern fürchtete sich vielmehr davor und empfand aller Verliebtheit gegenüber geradezu Abscheu und Grauen. Ihre männlichen Kameraden wußten das, und wenn sie sich auch zu ihr hingezogen fühlten, so wagten sie doch nicht, es ihr zu zeigen, und verkehrten mit ihr ganz so wie mit einem männlichen Kameraden. Nicht selten kam es vor, daß unbekannte Männer gegen sie zudringlich wurden – da verließ sie sich aber, wie sie sagte, auf ihre ungewöhnliche Körperkraft, auf die sie nicht wenig stolz war. »Eines Tages,« erzählte sie Katjuscha lachend, »hängte sich solch ein Herrchen auf der Straße an mich und war auf keine Weise loszuwerden. Da hab' ich ihn aber geschüttelt, daß er einen ganz gehörigen Schreck bekam und sich auf die Strümpfe machte.«

Sie erzählte Katjuscha, sie habe von Kindheit an einen Widerwillen gegen das Herrenleben empfunden und für das Leben der einfachen Leute geschwärmt. Man habe sie stets darum gescholten, daß sie sich immer im Mädchenzimmer, in der Küche oder im Stalle statt im Salon aufhielt.

»Und ich war gerade mit den Köchinnen und Kutschern so recht lustig, während ich mich mit unseren Herren und Damen immer langweilte,« erzählte sie. »Und wie ich dann die Dinge richtig zu verstehen begann, da sah ich, daß unser Leben ein sehr schlimmes war. Eine Mutter hatte ich nicht mehr, und den Vater liebte ich nicht; mit neunzehn Jahren verließ ich das Haus und trat mit einer Freundin zusammen als Arbeiterin in eine Fabrik ein.«

Später, nachdem sie die Fabrik verlassen, lebte sie bei den Bauern im Dorfe, zog dann in die Stadt und wurde in einer Wohnung, in der sich eine Geheimdruckerei befand, gelegentlich einer Haussuchung verhaftet. Maria Pawlowna erzählte selbst nie davon, von den andern jedoch erfuhr Katjuscha, sie sei darum zu Zwangsarbeit verurteilt worden, weil sie die Schuld eines andern, der bei jener Haussuchung auf die Polizei geschossen hatte, auf sich genommen habe.

Seit Katjuscha Maria Pawlowna kennengelernt hatte, hatte sie gesehen, daß diese in allen Lagen und Verhältnissen nie an sich dachte, sondern immer nur darauf sann, wie sie andern dienen und, ob in großen oder kleinen Dingen, helfen könnte. Einer ihrer jetzigen Genossen namens Nowodworow hatte im Scherz von ihr gesagt, daß sie den »Sport des Wohltuns« betreibe. Und das entsprach in der Tat der Wahrheit. Wie der Jäger dem Wilde nachspürt, so war ihr ganzes Lebensinteresse darauf gerichtet, immer neue Gelegenheiten auszuspüren, um den Mitmenschen zu dienen. Und dieser Sport war ihr zur Gewohnheit, zur Aufgabe ihres Lebens geworden. Sie widmete sich dieser Aufgabe auf so natürliche Weise, daß alle, die sie kannten, ihre Hilfeleistungen nicht als etwas Besonderes schätzten, sondern sie einfach als selbstverständlich beanspruchten.

Als die Maslowa zu den Politischen kam, empfand Maria Pawlowna ihr gegenüber eine starke Abneigung, ja geradezu einen Widerwillen, der Katjuscha nicht entging. Sehr bald jedoch bemerkte sie, daß Maria Pawlowna diese Empfindung in sich zu bekämpfen suchte und sich ganz besonders gut und freundlich gegen sie verhielt. Und die Güte und Freundlichkeit eines so ungewöhnlichen Wesens rührte die Maslowa so sehr, daß sie sich ihr mit ganzer Seele hingab, sich unbewußt ihre Ansichten aneignete und sie unwillkürlich in allem nachahmte. Diese Ergebenheit und Liebe machte auf Maria Pawlowna einen großen Eindruck, und auch sie gewann Katjuscha aufrichtig lieb.

Ein besonderes Band zwischen diesen beiden Frauen bildete die Abneigung, die sie beide gegen die grob sinnliche Liebe hatten. Die eine haßte diese Liebe darum, weil sie alle ihre Schrecken kennengelernt hatte; die andere darum, weil sie, ohne sie kennengelernt zu haben, in ihr gleichsam instinktiv etwas ihr Unfaßbares, Abstoßendes, die menschliche Würde Beleidigendes erblickte.


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