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20.

Als die Frauen Nechljudow erblickten, verneigten sie sich vor ihm, während Simonson mit einer gewissen Feierlichkeit die Mütze lüftete. Nechljudow hatte ihnen nichts zu sagen, er ließ daher nicht halten, sondern fuhr weiter. Als er auf den ausgefahrenen Weg hinauskam, fuhr sein Postillon noch schneller, doch mußte er immer wieder die glatten Geleise verlassen, um den auf der Straße nach beiden Richtungen fahrenden Wagen auszuweichen.

Der ganz von tiefen Radspuren durchwühlte Weg ging durch den dunklen Nadelwald, aus dem hier und da zu beiden Seiten das helle, sandfahle Laub der noch nicht entblätterten Birken und das hellere Grün der Lärchen hervorschimmerte. In der Hälfte der Strecke hörte der Wald auf, und zu beiden Seiten dehnten sich weithin die Felder. Goldene Kreuze erschienen, und die Kuppeln eines Klosters wurden sichtbar. Der Tag heiterte sich vollends auf, die Wolken verzogen sich, die Sonne stieg über dem Wald empor, und das feuchte Laub, die Pfützen, die Kuppeln und Kreuze der Kirchen glänzten hell in ihrem Lichte. Vorn, zur Rechten, in der blaugrauen Ferne, schimmerten am Horizont die weißen Berggipfel. Das Dreigespann lenkte in ein nahe der Stadt gelegenes Dorf ein. Die Dorfstraße war voll von Menschen – Russen und Eingeborene in ihren seltsamen Trachten wimmelten durcheinander. Männer und Frauen, teils betrunken, teils nüchtern, tummelten sich lärmend um die Marktbuden, Wirtshäuser und Fuhrwerke – man spürte dunkel die Nähe der Stadt.

Der Postillon trieb das rechte Beipferd mit der Peitsche an, nahm es schärfer in den Zügel, setzte sich ein wenig seitwärts auf den Bock, daß die Zügel rechts von ihm lagen, und fuhr, offenbar in der Absicht, recht keck und unternehmend zu erscheinen, in schneller Gangart die Hauptstraße entlang. Er fuhr nach dem Ufer des Flusses, über den eine Fähre ging. Die Fähre befand sich gerade in der Mitte des raschströmenden Flusses und kam vom jenseitigen Ufer. Diesseits erwarteten sie bereits an die zwei Dutzend Fuhrwerke. Nechljudow brauchte nicht lange zu warten. Die weit stromaufwärts abgetriebene Fähre ließ sich von der raschen Strömung fahren und wurde bald an die Bretter des Landungsplatzes herangetrieben.

Die hochgewachsenen, breitschultrigen, muskulösen und schweigsamen Fährleute in den kurzen Pelzen und hohen Stiefeln warfen mit der Geschicklichkeit, welche die Übung verleiht, die Taue aus, befestigten sie an den Pfosten, schoben die Sperrstangen beiseite und ließen die auf der Fähre befindlichen Fuhrleute ans Ufer. Dann wurde die Fähre aufs neue beladen, Wagen an Wagen wurde daraufgestellt, samt den Pferden, die vor dem Wasser scheuten. Der raschströmende, breite Fluß schlug gegen die Wände der Fährboote und spannte die Taue straff. Als die Fähre voll war und Nechljudows Wagen samt den ausgespannten Pferden, von allen Seiten eingezwängt, auf der Fähre untergebracht war, legten die Fährleute, ohne auf die Bitten der Zurückbleibenden zu achten, die Sperrstangen vor, lösten die Haltetaue und stießen ab. Auf der Fähre wurde es still, man hörte nur den schweren Tritt der Fährleute und das Anschlagen der Pferde gegen die Planken der Fähre.

Nechljudow stand am Rande der Fähre und blickte auf den breiten, reißenden Fluß. Zwei Szenen traten ihm abwechselnd vor die Seele: der von den Stößen des Wagens hin und her geworfene Kopf des in Verbitterung sterbenden Krylzow und die Gestalt Katjuschas, die rüstig am Wegrande neben Simonson daherschritt. Der eine dieser beiden Eindrücke – das Bild des sterbenden, auf den Tod nicht vorbereiteten Krylzow – wirkte auf ihn bedrückend und schwer. Der andere Eindruck – die frohgemute Katjuscha, die ein Mann wie Simonson liebgewonnen hatte, und die nun den festen und sicheren Weg des Guten ging – hätte auf ihn freudig wirken sollen, doch auch er lag mit schwerem Druck auf seiner Seele, und er vermochte diesen Druck nicht zu überwinden.

Aus der Stadt klang vom Kirchturm her über das Wasser das Dröhnen und Vibrieren der großen, ehernen Glocke. Der neben Nechljudow stehende Postillon und alle Fuhrleute nahmen einer nach dem andern die Mützen ab und bekreuzten sich. Dicht am Geländer stand ein alter Mann mit zerzaustem Haar, nicht groß von Gestalt, den Nechljudow erst gar nicht bemerkt hatte. Der Alte bekreuzte sich nicht, sondern sah, den Kopf emporrichtend, zu Nechljudow auf. Er trug einen geflickten, breiten Bauernrock aus Baumwollzeug, ein Paar Tuchhosen und ausgetretene, geflickte Bauernstiefel. Über seiner Schulter hing ein kleiner Quersack, und auf dem Kopfe trug er eine hohe, abgeschabte Pelzmütze.

»Warum betest du nicht, Alter?« fragte ihn der Postillon, während er seine Mütze aufsetzte. »Bist wohl ein Ungetaufter?«

»Zu wem soll ich beten?« sagte der Alte, und es klang aus seiner Stimme wie der Geist des Widerspruchs.

»Das weiß man doch, zu wem: zu Gott!«

»So zeig' mir ihn doch – wo ist dieser Gott?«

»Wo er ist?« sagte der Fuhrmann. »Das weiß man doch: im Himmel.«

»Bist du dort gewesen?«

»Nein, aber alle wissen doch, daß man zu Gott beten muß.«

»Niemand hat Gott je gesehen, sondern der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoße ist, der hat es uns verkündet,« versetzte der Alte mit strengem Stirnrunzeln.

»Du bist, wie mir scheint, ein Heide,« sagte der Fuhrmann, während er den Peitschenstiel hinter seinen Gürtel steckte.

»Welchen Glauben hast du eigentlich, Großväterchen?« fragte ein bejahrter Mann, der neben seiner Fuhre am Rande der Fähre stand, den Alten.

»Gar keinen Glauben hab' ich. Weil ich nämlich niemandem glaube außer mir.«

»Wie kann man denn sich selbst glauben?« mischte Nechljudow sich in das Gespräch. »Man kann sich doch irren!«

»Nein, niemals,« versetzte der Alte in entschiedenem Tone.

»Warum gibt es denn aber verschiedene Glauben?« fragte Nechljudow.

»Darum, weil man den Menschen glaubt und nicht sich selber. Auch ich habe den Menschen geglaubt und bin umhergeirrt wie im dunklen Walde. So verirrt hab' ich mich, daß ich nicht mehr hoffte, mich herauszufinden. Was es in der Welt nicht alles für Glauben gibt! Und jeder Glaube rühmt nur immer sich selber. Der Glauben sind wohl viele – aber der Geist ist nur einer, und er ist in mir, und in dir, und in allen. Glaube nur jeder dem Geiste, so werden alle vereinigt. Sei nur jeder für sich da, so werden alle zusammen sein.«

Der Alte sprach laut und sah sich immer dabei um – er wollte augenscheinlich, daß ihn recht viele hörten.

»Bekennen Sie sich schon lange zu diesem Glauben?« fragte ihn Nechljudow.

»Ich? Ja, schon lange – seit dreiundzwanzig Jahren schon verfolgen sie mich um seinetwillen.«

»Verfolgen? Wieso?«

»Sie verfolgen mich eben – sie packen mich, führen mich vors Gericht, vor die Pharisäer und Schriftgelehrten, sperren mich ins Irrenhaus ein. Aber sie können mir nichts antun, weil ich eben frei bin. ›Wie heißt du?‹ fragen sie mich, und sie glauben, wohl, ich werde mir irgendeinen Namen beilegen. Aber ich tue es nicht. Allem habe ich entsagt: keinen Namen habe ich, keine Heimat, nichts habe ich. Ganz für mich bin ich. – ›Wie heißt du?‹ – ›Mensch.‹ – ›Wie alt bist du?‹ – ›Ich hab's nicht gezählt. Man kann es auch nicht zählen, weil ich immer gewesen bin und immer sein werde.‹ – ›Wer war dein Vater, wer deine Mutter?‹ – ›Ich habe keinen Vater und keine Mutter außer Gott und der Erde.‹ – ›Und den Zaren – erkennst du den an?‹ – ›Warum soll ich ihn nicht anerkennen? Er ist Zar über sich, und ich bin Zar über mich.‹ – ›Ach,‹ sagen sie, ›mit dir ist nicht zu reden.‹ – ›Ich bitte euch auch nicht,‹ sag' ich, ›daß ihr mit mir redet.‹ Und so quälen sie mich in einem fort.«

»Und wohin gehen Sie jetzt?« fragte ihn Nechljudow.

»Wohin Gott mich führt. Ich arbeite, und finde ich keine Arbeit, so bettle ich,« schloß der Alte, als er bemerkte, daß die Fähre sich dem jenseitigen Ufer näherte, und blickte dabei seine Zuhörer triumphierend an.

Die Fähre legte am andern Ufer an. Nechljudow zog seine Börse hervor und wollte dem Alten Geld geben, doch er lehnte es ab.

»Das nehme ich nicht. Ich nehme nur Brot,« sagte er.

»Nun, verzeih!«

»Es ist nichts zu verzeihen – du hast mich nicht beleidigt. Man kann mich überhaupt nicht beleidigen,« sagte der Alte und nahm seinen Quersack, den er abgelegt hatte, über die Schulter.

Nechljudows Wagen war inzwischen von der Fähre gebracht und bespannt worden.

»Wie können Sie nur mit solch einem Menschen sprechen, Herr?« sagte der Postillon zu Nechljudow, nachdem dieser die Fährleute mit einem Trinkgelde bedacht hatte und eingestiegen war. »Das ist ja solch ein Landstreicher, solch ein Tagedieb!«


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