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25.

Das düstere Gefängnisgebäude mit dem Militärposten und der Laterne vor dem Tor machte trotz der reinen, weißen Schneedecke, die jetzt über alles, über die Auffahrt, das Dach, die Mauern, gebreitet war, und trotz der hellerleuchteten langen Fensterreihen einen noch düstereren Eindruck als am Morgen.

Der imposante Inspektor kam ans Tor heraus, las beim Schein der Laterne den für Nechljudow und den Engländer ausgestellten Passierschein und bewegte wie im Zweifel die mächtigen Schultern, forderte jedoch die Besucher in Erfüllung des erteilten Befehls zum Nähertreten auf. Er führte sie zuerst in den Hof und dann durch eine Tür rechts über eine Treppe nach dem Bureau. Er ersuchte sie, Platz zu nehmen, und fragte, womit er ihnen dienen könne. Als er Nechljudows Wunsch, jetzt sogleich die Maslowa zu sprechen, vernahm, schickte er umgehend einen Aufseher nach ihr. Dann schickte er sich an, die Fragen zu beantworten, die ihm der Engländer durch Nechljudows Vermittlung vorzulegen begann. »Für wieviel Mann ist das Gefängnis bestimmt?« fragte der Engländer. »Wieviel Gefangene sind darin? Wieviel Männer, wieviel Frauen und Kinder? Wie groß ist die Anzahl der zu Zwangsarbeit Verurteilten, der freiwillig Folgenden? Wieviel Kranke sind vorhanden?«

Nechljudow übersetzte die Worte des Engländers und des Inspektors, ohne auf ihren Sinn zu achten, da er, ganz gegen seine eigene Erwartung, durch die bevorstehende Zusammenkunft mit Katjuscha in heftige Erregung versetzt war. Er war eben mitten in einem Satze, den er dem Engländer übersetzte, als er Schritte vernahm, die sich der Tür des Bureaus näherten. Die Tür ging auf, und wie es schon so oft geschehen, so trat auch diesmal zuerst der Aufseher und hinter ihm, mit einem Tuche um den Kopf und in der Gefängnisjacke, Katjuscha herein. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich seiner bei ihrem Eintritt.

»Ich will als Mensch leben, will eine Familie, will Kinder haben,« ging es ihm durch den Kopf, während sie mit raschen Schritten nähertrat.

Er erhob sich und ging ihr einige Schritte entgegen, und ihr Gesicht erschien ihm grob und unangenehm. Es hatte wieder den gleichen Ausdruck wie damals, als sie ihm Vorwürfe machte. Sie wurde rot und blaß, ihre Finger machten sich krampfhaft an dem Jackensaum zu schaffen, und sie sah ihn abwechselnd an und schlug die Augen nieder.

»Sie wissen, daß die Begnadigung erfolgt ist?« fragte Nechljudow.

»Ja, der Aufseher sagte es mir.«

»Sie können von hier fortgehen, sobald das Dekret eingegangen ist, können sich niederlassen, wo Sie wollen. Wir müssen überlegen ...«

Sie unterbrach ihn hastig: »Was soll ich da überlegen? Wo Wladimir Iwanowitsch sein wird, dort werde auch ich sein.«

Trotz ihrer heftigen Erregung heftete sie ihre Augen doch fest auf Nechljudow, während sie diese Worte rasch und bestimmt vorbrachte, als ob sie sie vorher genau erwogen und vorbereitet hätte.

»Ah, so–o! So liegen die Dinge!« sagte Nechljudow.

»Was soll ich denn tun, Dmitrij Iwanowitsch, wenn er doch will, daß ich mit ihm lebe,« sagte sie, hielt jedoch erschrocken inne und verbesserte sich: »Daß ich bei ihm sei. Was kann ich mir Besseres wünschen? Ich muß das doch für ein Glück halten. Was soll ich sonst tun?«

»Eins von beiden: entweder sie hat Simonson liebgewonnen, und es liegt ihr gar nichts an dem Opfer, das ich ihr zu bringen meinte, oder sie liebt mich nach wie vor und verzichtet gerade um meinetwillen auf eine Verbindung mit mir; sie verbrennt alle Schiffe hinter sich, indem sie ihr Schicksal mit demjenigen Simonsons verbindet,« dachte Nechljudow, und er hatte eine Empfindung der Scham und fühlte, daß er erröte.

»Wenn Sie ihn lieben ...« sagte er.

»Was heißt lieben oder nicht lieben! Das habe ich schon aufgegeben, und Wladimir Iwanowitsch ist doch ein so ganz besonderer Mensch.«

»Ja, gewiß,« versetzte Nechljudow. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich meine ...«

Sie fiel ihm wieder ins Wort, als fürchte sie, daß er etwas Überflüssiges sagen könnte, oder daß sie nicht dazu kommen würde, alles auszusprechen, was sie ihm sagen wollte.

»Nein, Dmitrij Iwanowitsch, Sie müssen schon verzeihen, wenn ich nicht tue, was Sie wollen,« sagte sie, während sie ihm mit ihrem geheimnisvollen, schielenden Blicke in die Augen sah. »Es soll offenbar nicht sein. Auch Sie müssen leben.«

Sie sagte ihm dasselbe, was er sich eben erst selbst gesagt hatte, jetzt aber waren es ganz andere Empfindungen, die ihn beherrschten: er schämte sich nicht nur, sondern er hatte auch ein Gefühl des Bedauerns um alles das, was er mit ihr verlor.

»Ich hätte das nicht erwartet,« sagte er.

»Was sollen Sie hier leben und sich quälen? Sie haben sich genug gequält,« sagte sie und lächelte.

»Ich habe mich nicht gequält – mir war wohl zu Mute, und ich wünschte, Ihnen noch weiter dienen zu können.«

»Wir werden nichts brauchen,« sagte sie. Sie sagte »wir« und sah dabei Nechljudow an. »Sie haben ohnedies schon so viel für mich getan. Wenn Sie nicht wären ...« Sie suchte nach Worten, und ihre Stimme begann zu zittern.

»Sie haben mir doch wirklich nicht zu danken,« sagte Nechljudow.

»Was sollen wir miteinander abrechnen? Gott wird unsere Rechnung schon zum Ausgleich bringen,« versetzte sie, und in ihren schwarzen Augen glänzten Tränen.

»Sie sind ein gutes Mädchen!« sagte er.

»Ich – und gut?« sagte sie unter Tränen, und ein wehmütiges Lächeln verklärte ihr Gesicht.

»Sind Sie fertig?« fragte der Engländer Nechljudow in seiner Muttersprache.

»Sogleich,« versetzte Nechljudow gleichfalls auf englisch und fragte Katjuscha nach Krylzow.

Sie beherrschte ihre Erregung und erzählte ruhig, was sie wußte; Krylzow sei unterwegs sehr schwach geworden, und man habe ihn sofort ins Krankenhaus gebracht. Maria Pawlowna sei sehr besorgt gewesen und habe sich als Pflegerin für das Krankenhaus angeboten, aber man habe sie nicht zugelassen.

»Ich kann also gehen?« sagte sie, als sie bemerkte, daß der Engländer wartete.

»Ich nehme noch nicht Abschied, ich werde Sie noch sehen,« sagte Nechljudow.

»Verzeihen Sie!« sagte sie kaum hörbar. Ihre Augen begegneten sich, und nach dem seltsamen, schielenden Blicke und dem wehmütigen Lächeln, mit dem sie dieses »Verzeihen Sie!« – statt »Leben Sie wohl!« – sagte, begriff er, daß von den beiden Vermutungen, die er über die Gründe ihrer Entscheidung hatte, die zweite zutraf: sie liebte ihn und glaubte, daß sie sein Leben verderben würde, wenn sie sich mit ihm verbände. Ging sie auf Simonsons Vorschlag ein, dann war er frei – und sie war einerseits froh darüber, daß sie ihren Willen durchsetzte, und litt andrerseits schwer, indem sie sich von ihm trennte.

Sie drückte seine Hand, wandte sich rasch ab und ging hinaus. Nechljudow sah sich nach dem Engländer um, der soeben irgendeine Beobachtung in sein Notizbuch eintrug. Nechljudow störte ihn nicht, sondern setzte sich auf eine hölzerne Bank, die an der Wand stand. Und plötzlich empfand er eine schwere Müdigkeit. Nicht von der schlaflosen Nacht, nicht von der Reise oder der Aufregung kam diese schreckliche Müdigkeit her, sondern sie kam, wie er deutlich fühlte, von seinem ganzen Leben. Er stützte sich gegen die Rückenlehne der Bank, auf der er saß, schloß die Augen und fiel augenblicklich in einen schweren, todähnlichen Schlaf.

»Ist es Ihnen recht, jetzt nach den Zellen zu gehen?« fragte ihn der Inspektor.

Nechljudow erwachte und wunderte sich darüber, wo er war. Der Engländer war mit seiner Eintragung fertig und wollte nun die Zellen sehen. Müde und teilnahmlos folgte ihm Nechljudow.


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