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1.

Die Gefangenenabteilung, mit der die Maslowa ging, hatte gegen fünftausend Werst zurückgelegt. Bis Perm war die Maslowa im Eisenbahnwagen und auf dem Dampfschiff mit den gemeinen Verbrechern zusammen befördert worden, und erst in dieser Stadt war es Nechljudow gelungen, ihre Überführung zu den Politischen zu erreichen, eine Maßregel, zu der ihm die mit derselben Abteilung transportierte Bogoduchowskaja sehr geraten hatte.

Die Fahrt bis Perm war der Maslowa in physischer wie in sittlicher Beziehung sehr beschwerlich gefallen. In physischer Beziehung litt sie unter der Enge, der Unsauberkeit und dem lästigen Ungeziefer, das ihr keine Ruhe ließ, während sie in sittlicher Beziehung von einer nicht weniger lästigen Plage zu leiden hatte, nämlich von den Männern, die sie gleichfalls, ganz nach Art des Ungeziefers, in höchst widerwärtiger und zudringlicher Weise beunruhigten. Zwischen den Arrestantinnen einerseits und den Arrestanten, Aufsehern und Eskortesoldaten andererseits hatte sich eine so zynische und lästerliche Art des Verkehrs ausgebildet, daß jede Frau, zumal wenn sie jung war, stets vor sittlichen Attacken auf der Hut sein mußte, falls sie nicht etwa aus ihrem Entgegenkommen Nutzen zu ziehen suchte. Dieser beständige Zustand der Angst und der Kampfbereitschaft war der Maslowa in hohem Maße beschwerlich. Sie war den Angriffen ganz besonders ausgesetzt, sowohl ihres anziehenden Äußern wie ihrer allgemein bekannten Vergangenheit wegen. Der entschiedene Widerstand, den sie den sich ihr aufdrängenden Männern entgegensetzte, erschien ihnen als eine Beleidigung und rief in ihnen einen besonderen Haß gegen sie hervor. Das Zusammensein mit Fedoßja und Taras hatte ihre Lage in dieser Hinsicht noch einigermaßen erleichtert; der letztere hatte, als er erfuhr, daß auch seine Frau in der gleichen Hinsicht viel zu leiden hatte, sich ebenfalls arretieren lassen, damit er sie beschützen konnte, und war von Nischnij ab mit den Arrestanten zusammen weitergefahren.

Die Überführung der Maslowa zu den Politischen verbesserte ihre Lage in jeder Beziehung. Nicht nur, daß die Politischen besser untergebracht waren, besser ernährt und weniger grob behandelt wurden, hörten für die Maslowa jetzt auch die Belästigungen durch die Männer auf, und sie konnte nun wenigstens leben, ohne daß sie jeden Augenblick an ihre Vergangenheit erinnert wurde, die sie so sehnlich zu vergessen wünschte. Der wesentlichste Vorteil ihrer Versetzung aber bestand darin, daß sie einige Leute kennen lernte, die auf sie einen überaus günstigen, entscheidenden Einfluß ausübten.

Die der Maslowa gewährte Erlaubnis, sich zu den Politischen zu halten, bezog sich nur auf den Aufenthalt an den Etappenplätzen, marschieren mußte sie, da sie gesund war, zu Fuß, mit den gemeinen Verbrechern. So wurde es die ganze Zeit von Tomsk an gehalten. Mit ihr zusammen gingen noch zwei Politische, Maria Pawlowna Schtschetinina – jenes schöne Mädchen mit den großen Augen, das Nechljudow bei der Zusammenkunft mit der Bogoduchowskaja aufgefallen war, und ein gewisser Simonson, der nach der Gegend von Jakutsk verbannt war. Es war dies jener schwarze Mensch mit dem struppigen Haar und den tief unter der Stirn liegenden Augen, den Nechljudow gleichfalls bei der Zusammenkunft mit der Bogoduchowskaja gesehen hatte. Maria Pawlowna ging zu Fuß, sie hatte ihren Platz auf dem Fuhrwerk einer Kriminalverbrecherin, die sich in schwangerem Zustand befand, abgetreten; Simonson aber tat das gleiche, weil er es für unstatthaft hielt, von einem Klassenvorrecht Gebrauch zu machen. Diese drei pflegten sich stets frühzeitig, gesondert von den übrigen Politischen, die später mit den Fuhrwerken aufbrachen, mit den Kriminalverbrechern zugleich auf den Weg zu machen. So war es auch auf der letzten Etappe vor der großen Stadt gewesen, in der ein neuer Offizier das Kommando über die Eskorte und den Transport übernahm.

Es war ein früher, unfreundlicher Morgen im September. Es regnete und schneite abwechselnd, und ein rauher Wind wehte stoßweise daher. Sämtliche Gefangene des Transports, vierhundert Männer und etwa fünfzig Frauen, waren bereits auf dem Hofe des Etappengebäudes versammelt und drängten sich um den Korporal von der Eskorte, der das Kostgeld für die nächsten zwei Tage unter die Ältesten der einzelnen Gruppen verteilte, oder kauften bei den auf dem Etappenhofe erschienenen Hökerinnen Eßwaren ein. Ein lautes Durcheinander von Stimmen ertönte – die Arrestanten rechneten und feilschten, und die Hökerinnen kreischten dazwischen.

Katjuscha und Maria Pawlowna, beide in hohen Stiefeln und Pelzjacken, mit Tüchern um den Kopf, waren aus dem Etappenhause auf den Hof gekommen und begaben sich zu den Hökerinnen, die, gegen den Wind geschützt, an der nördlichen Wand des den Etappenplatz umschließenden Pfahlwerks saßen und um die Wette ihre Ware feilboten: frisches Weißbrot gab es da, und Pasteten, und Fische, Nudeln, Grütze, Leber, Rindfleisch, und Eier, und Milch, und eine der Händlerinnen hatte sogar ein gebratenes Ferkel mitgebracht.

Auch Simonson stand, den Abmarsch der Abteilung erwartend, auf dem Hofe. Er trug eine Guttaperchajacke und Gummigaloschen, die über den baumwollenen Strümpfen mit Schnüren befestigt waren; als Vegetarier strengster Richtung gebrauchte er nämlich keinen Gegenstand, der aus dem Fell eines getöteten Tieres gemacht war. Er stand an der Aufgangstreppe und schrieb soeben einen Gedanken, der ihm eingefallen war, in sein Notizbuch ein. »Wenn eine Bakterie,« schrieb er, »den Menschen beobachten und nach seinem Fingernagel beurteilen würde, müßte sie ihn für ein anorganisches Gebilde halten. Ebenso haben auch wir die Erdkugel, indem wir lediglich die Kruste beobachteten, für eine anorganische Masse erklärt. Das ist nicht richtig ...«

Die Maslowa hatte Eier, ein Bund Brezeln, Fische und frisches Weizenbrot eingekauft. Sie brachte das alles in einem Sacke unter, während Maria Pawlowna mit der Hökerin abrechnete. Plötzlich ging eine Bewegung durch die Menge – alles schwieg still, und die Leute begannen, sich in Reihe und Glied zu stellen. Der Offizier kam heraus und traf seine letzten Anordnungen für den Aufbruch.

Alles wickelte sich in der gewohnten Weise ab: die Gefangenen wurden gezählt, die Fußfesseln auf ihre Unversehrtheit untersucht und die Paare der mit Handschellen Gehenden zusammengestellt. Da ertönte plötzlich das zornige Schreien des Offiziers und das Weinen eines Kindes. Alles verstummte für einen Augenblick, dann durchlief ein dumpfes Gemurmel den ganzen Haufen. Die Maslowa und Maria Pawlowna näherten sich der Stelle, von der der Lärm herkam.


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