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24.

Der Mißerfolg, den Nechljudow im Gefängnis gehabt, hatte seine angeregte, tatenfrohe Stimmung nicht verscheucht. Er begab sich alsbald nach der Kanzlei des Gouverneurs, um sich zu erkundigen, ob dort nicht bereits das Dekret über die Begnadigung der Maslowa eingegangen sei. Es war noch nichts eingetroffen, und so begab sich Nechljudow sofort wieder in sein Gasthaus zurück und schrieb in dieser Sache sogleich an Selenin sowie an seinen Advokaten. Als er die Briefe beendet hatte, sah er auf die Uhr – es war Zeit, sich zum General zum Mittagessen zu begeben.

Unterwegs kam ihm wieder der Gedanke, wie Katjuscha wohl ihre Begnadigung aufnehmen würde. Wo wird man sie ansiedeln? Wie wird er mit ihr leben? Was wird mit Simonson werden? Welcher Art sind ihre Beziehungen zu ihm? Er gedachte der Wandlung, die sich in ihrem Wesen vollzogen hatte. Und er gedachte auch ihrer Vergangenheit.

»Ich muß es vergessen, muß es ausstreichen,« dachte er und beeilte sich wieder, die Gedanken an sie zu verscheuchen. »Alles wird sich finden,« sagte er sich und begann zu überlegen, was er dem General sagen solle.

Das Mittagessen beim General war mit all dem Luxus hergerichtet, wie ihn die reichen Leute und die hochgestellten Beamten gewöhnt waren, und wie auch Nechljudow ihn kannte. Nach der langen Entbehrung nicht nur des Luxus, sondern auch der primitivsten Bequemlichkeiten machte dieses Mittagessen auf ihn einen ganz besonders angenehmen Eindruck.

Die Frau des Hauses war eine vornehme Petersburger Dame alten Schlages, ein ehemaliges Hoffräulein aus der Zeit des Kaisers Nikolaus. Sie sprach das Französische recht gut, das Russische dagegen recht mangelhaft. Sie hielt sich auffallend gerade und behielt bei allen Armbewegungen die Ellbogen fest an der Taille. Sie war in ihrem Wesen ruhig, benahm sich ihrem Manne gegenüber achtungsvoll, wenn auch mit einer gewissen Gedrücktheit, und war ihren Gästen gegenüber ungemein liebenswürdig, wenn auch ihre Liebenswürdigkeit, dem Range der Gäste entsprechend, gewisser Nuancen nicht entbehrte. Nechljudow wurde von ihr empfangen, als wenn er zur Familie gehörte, mit jener besonderen, unmerklichen Schmeichelei, die ihm sogleich wieder alle seine Vorzüge zum Bewußtsein brachte und ihm eine angenehme Genugtuung bereitete. Sie gab ihm zu verstehen, daß sie seine zwar originelle, jedenfalls aber ehrenwerte Handlungsweise, die ihn bis nach Sibirien geführt habe, wohl kenne, und daß sie ihn für einen ungewöhnlichen Menschen halte. Diese feine Anerkennung und der geschmackvoll-luxuriöse Zuschnitt des Lebens im Hause des Generals bewirkten, daß Nechljudow sich ganz dem Genusse der angenehmen Umgebung, der schmackhaften Speisen und des leichten, anregenden Verkehrs mit diesen gebildeten und wohlerzogenen Menschen hingab, als ob alles das, was er in der letzten Zeit erlebt hatte, nur ein Traum gewesen wäre, von dem er nun erst zur rechten Wirklichkeit erwacht sei.

Zu der Mittagstafel waren außer den Hausgenossen des Generals, seiner Tochter und ihrem Gatten sowie dem Adjutanten, auch noch der englische Reisende, ferner ein Goldbergwerksbesitzer und ein zufällig dienstlich in der Stadt anwesender Gouverneur aus einem entfernten sibirischen Bezirke hinzugezogen. Alle diese Leute waren Nechljudow sympathisch. Der Engländer, ein kräftiger Mensch mit rotem Gesichte, der sehr schlecht französisch sprach, in seiner Muttersprache dagegen sich als ein guter Erzähler und schwungvoller Redner erwies, hatte viel von der Welt gesehen und gab interessante Schilderungen aus Amerika und Indien, aus Japan und Sibirien zum besten.

Der junge Goldgrubenbesitzer, der Sohn eines Bauern, der sich hier in einem aus London bezogenen Frack und im Schmuck von Brillantknöpfen präsentierte, eine große Bibliothek besaß, sehr viel für wohltätige Zwecke opferte und dem europäischen Liberalismus huldigte, war für Nechljudow gleichfalls eine angenehme und interessante Erscheinung, da er einen ihm neuen, anziehenden Typus, gleichsam ein edles Pfropfreis europäischer Kultur auf einem gesunden Bauernwildling, repräsentierte. Der Gouverneur der entfernten sibirischen Stadt war eben jener ehemalige Departementsdirektor, von dem man zur Zeit, als Nechljudow in Petersburg war, so viel gesprochen hatte. Es war ein wabbeliger Mensch mit dünnem, sorgfältig frisiertem Haar, sanften blauen Augen, sehr breiten Hüften, gut gepflegten, weißen, ringgeschmückten Händen und angenehmem Lächeln. Der General schätzte ihn darum, weil er nicht bestechlich war, während die Dame des Hauses, die eine große Musikfreundin und selbst eine sehr tüchtige Pianistin war, ihn als guten Musiker gern hatte und mit ihm vierhändig spielte. Nechljudows Gemütsstimmung war eine so wohlige und behagliche, daß auch dieser Mensch ihm heute nicht zuwider war. Der muntere, temperamentvolle Adjutant mit dem glattrasierten, blaugrauen Kinn wußte sich durch die gutmütige Gefälligkeit, mit der er bei jeder Gelegenheit seine Dienste anbot, angenehm zu machen. Am angenehmsten aber war Nechljudow das liebenswürdige junge Paar, das an der Mittagstafel teilnahm: die Tochter des Generals und ihr Gatte. Die Tochter war eine nicht gerade hübsche, doch sehr gutmütige junge Frau, die ganz in ihren ersten beiden Kindern aufging; ihr Gatte, den sie erst nach langem Kampfe mit den Eltern aus Liebe geheiratet hatte, war ein Kandidat der Moskauer Universität, von liberaler Richtung, bescheiden und klug; er stand im Staatsdienste und widmete sich der Statistik, insbesondere der Statistik der sibirischen Eingeborenen, deren Sitten und Bräuche er studierte, die er liebte und vor der Ausrottung zu bewahren suchte.

Alle waren nicht nur liebenswürdig und freundlich zu Nechljudow, sondern offenbar auch aufrichtig erfreut über seine Anwesenheit und betrachteten ihn als eine interessante neue Erscheinung. Der General, der beim Mittagessen im Militärrock mit einem weißen Kreuz um den Hals erschien, begrüßte Nechljudow als alten Bekannten und lud die Herren sogleich zu einem Imbiß mit Branntwein ein. Auf die Frage des Generals, was Nechljudow nach seinem Besuche bei ihm getrieben habe, erzählte dieser, er sei auf der Post gewesen und habe von der Begnadigung der Person, deretwegen er am Morgen gesprochen, Nachricht erhalten; er bitte jetzt nochmals um die Erlaubnis, das Gefängnis besuchen zu dürfen.

Der General war offenbar unzufrieden, daß beim Mittagessen von amtlichen Dingen gesprochen wurde, denn er runzelte die Stirn und schwieg.

»Trinken Sie Branntwein?« wandte er sich auf französisch an den Engländer, der an ihn herantrat. Der Engländer trank ein Gläschen und erzählte, er habe die Kathedrale und das Bergwerk besichtigt, doch wünsche er noch das große Gefängnis für die Verschickten zu sehen.

»Das trifft sich ja sehr gut,« sagte der General, zu Nechljudow gewandt – »dann können Sie beide zusammen hin. Geben Sie den Herren einen Passierschein,« sagte er zu seinem Adjutanten.

»Wann wollen Sie hin?« fragte Nechljudow den Engländer.

»Ich ziehe es vor, die Gefängnisse am Abend zu besuchen,« sagte der Engländer. »Dann sind alle zu Hause, und es ist nichts vorbereitet, sondern alles ist so, wie es ist.«

»Ah, er will es in seiner ganzen Pracht sehen! Nun – mag er es sehen! Ich habe genug geschrieben; aber man hört nicht auf mich. So mögen sie es denn aus der ausländischen Presse erfahren,« sagte der General und begab sich an die Mittagstafel, an der die Dame des Hauses den Gästen ihre Plätze anwies.

Nechljudow saß zwischen der Generalin und dem Engländer. Ihm gegenüber saß die Tochter des Generals und der ehemalige Departementsdirektor. Bei Tisch wurde das Gespräch vielfach unterbrochen. Man sprach über Indien, von dem der Engländer erzählte, dann über die französische Expedition nach Tonking, die der General streng verurteilte, und über die allgemeine Spitzbüberei und Bestechlichkeit, die in Sibirien zu Hause sei. Alle diese Gespräche waren für Nechljudow wenig interessant. Nach dem Mittagessen jedoch, als man im Gastzimmer beim Kaffee saß, entspann sich ein sehr interessantes Gespräch zwischen der Dame des Hauses und dem Engländer über Gladstone, und es schien Nechljudow, daß er selbst dabei manche treffende Bemerkung machte, die von den andern gut aufgenommen wurde. Wie er so nach dem guten Mittagessen und dem Wein unter all den liebenswürdigen, wohlerzogenen Leuten im weichen Lehnstuhl beim Kaffee saß, fühlte er sich immer wohler und wohler. Als dann die Generalin auf die Bitte des Engländers sich mit dem ehemaligen Departementsdirektor zusammen an den Flügel setzte und beide die wohleinstudierte fünfte Sinfonie von Beethoven vortrugen, da befand sich Nechljudow vollends in einem schon lange nicht mehr empfundenen Zustande inniger Selbstzufriedenheit, und es war ihm, als habe er jetzt erst erfahren, was für ein guter Mensch er sei.

Der Flügel war ausgezeichnet, und der Vortrag der Sinfonie tadellos. So wenigstens schien es Nechljudow, der diese Sinfonie liebte und kannte. Als er das herrliche Andante vernahm, fühlte er vor lauter Rührung über sich selbst und alle seine Tugenden ein Kribbeln in der Nase. Er dankte der Frau des Hauses für den lange nicht mehr gehabten Genuß und wollte sich schon verabschieden, als die Tochter des Generals mit entschlossener Miene auf ihn zutrat und errötend sagte:

»Sie fragten nach meinen Kindern; wollen Sie sie sehen?«

»Sie glaubt nämlich, es müsse alle Leute interessieren, ihre Kinder zu sehen,« sagte die Mutter, über die liebenswürdige kleine Taktlosigkeit ihrer Tochter lächelnd. »Den Fürsten interessiert das durchaus nicht.«

»Im Gegenteil, sehr!« sagte Nechljudow, den dieses überfließende Gefühl glücklicher Mutterliebe rührte. »Bitte, zeigen Sie mir die Kleinen!«

»Nun führt sie den Fürsten gar zur Besichtigung ihrer Kinder,« rief der General lachend vom Kartentisch her, an dem er mit seinem Schwiegersohne, dem Adjutanten und dem Goldgrubenbesitzer Platz genommen hatte. »Gehen Sie schon, Fürst, tun Sie Ihre Pflicht.«

Die junge Frau ging, augenscheinlich sehr aufgeregt darüber, daß man sogleich ein Urteil über ihre Kinder fällen würde, mit raschen Schritten Nechljudow voran nach den inneren Gemächern. Im dritten Zimmer, einem hohen Raume mit weißen Tapeten, der von einer kleinen Lampe mit dunklem Lichtschirm erhellt wurde, standen nebeneinander zwei kleine Betten, und zwischen ihnen saß, mit einer weißen Pelerine angetan, die Kinderwärterin, eine Person von sibirischem Typus mit einem gutmütigen Gesichte, in dem die Backenknochen stark vorsprangen. Die Kinderfrau stand auf und verneigte sich. Die Mutter beugte sich über das erste Bettchen, in dem mit offenem Mündchen ein zweijähriges Mädelchen mit langem, lockigem, über das Kissen gebreitetem Haar ruhig schlief.

»Das ist Katja,« sagte die Mutter, während sie die gestrickte, blaugestreifte Bettdecke, unter der eine kleine weiße Fußsohle hervorguckte, zurechtzog. »Ist sie nicht hübsch? Sie ist erst zwei Jahre alt.«

»Reizend ist sie!«

»Und das ist Wassjuk, wie ihn der Großvater nennt. Ein ganz anderer Typus – der richtige Sibirier, nicht wahr?«

»Ein prächtiges Kerlchen,« sagte Nechljudow, während er den auf dem Bauche liegenden kleinen Dickwanst betrachtete.

»Nicht wahr?« sagte die Mutter mit glücklichem Lächeln.

Nechljudow gedachte der Ketten, der rasierten Köpfe, der Schläge, des unzüchtigen Treibens, des sterbenden Krylzow, der armen Katjuscha mit ihrer ganzen Vergangenheit. Und er empfand etwas wie Neid und zugleich eine Sehnsucht nach einem ebenso schönen und, wie es ihm schien, reinen Glücke, wie er es hier vor sich sah.

Nachdem er noch mehrmals den Kindern sein Lob gespendet und damit der Mutter, die jedes seiner Worte gierig einsog, eine Freude bereitet hatte, ging er hinter ihr nach dem Salon zurück, wo der Engländer ihn bereits erwartete, um mit ihm zusammen, wie verabredet, nach dem Gefängnis zu fahren. Nechljudow verabschiedete sich von den alten und den jungen Herrschaften und trat mit dem Engländer auf die Vortreppe des Hauses hinaus.

Das Wetter war umgeschlagen. Dichter Schnee fiel in großen Flocken und hatte bereits die Straße und das Dach, die Bäume im Garten und die Auffahrt, das Verdeck der Droschke und den Rücken des Pferdes überschüttet. Der Engländer hatte seine eigene Equipage; Nechljudow befahl dem Kutscher des Engländers, nach dem Gefängnis zu fahren, während er selbst allein in sein Fuhrwerk einstieg und mit dem bedrückenden Gefühl, eine unangenehme Pflicht zu erfüllen, in der durch den Schnee nur mühsam hinrollenden Droschke hinterherfuhr.


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