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11.

Einer der Eintretenden war ein kleiner, hagerer junger Mann in einem tuchüberzogenen kurzen Pelz und hohen Stiefeln. Er hatte einen leichten, raschen Gang und kam mit zwei großen, dampfenden Teekannen voll heißen Wassers und einem in ein Tuch gewickelten Brote unter dem Arm in die Zelle.

»Ei, da ist ja auch unser Fürst wieder auf der Bildfläche erschienen,« sagte er, während er die Teekannen zwischen die Tassen auf die Pritsche stellte und das Brot der Ranzewa übergab. »Großartige Einkäufe haben wir gemacht,« fuhr er fort, zog seinen Pelz aus und warf ihn über die Köpfe hinweg nach dem Pritschenwinkel. »Markel hat Milch und Eier gekauft, wir können einfach einen Ball geben! Und unsere Kirillowna kann nun mal nicht anders, als uns zur Ästhetik erziehen,« meinte er lächelnd, mit einem Blick auf die Ranzewa. »Na, jetzt mach' uns einmal den Tee zurecht,« wandte er sich zu ihr.

Das ganze Äußere dieses Menschen, seine Art, sich zu bewegen, der Klang seiner Stimme, sein Blick – kurz, alles, alles an ihm atmete Frohmut und Heiterkeit. Der zweite der beiden Neueingetretenen war gleichfalls von kleinem Wuchse, dabei mager, mit stark vorspringenden Backenknochen in dem fahlen Gesichte, das sich jedoch durch ein Paar schöner, weit auseinanderstehender Augen von grünlicher Farbe und durch Lippen von feinem Schnitt auszeichnete. Im Gegensatz zu seinem Kameraden machte er einen düsteren, grämlichen Eindruck. Er trug einen alten, wattierten Paletot und Stiefel in Galoschen. Er war mit zwei Töpfen und zwei Körben aus Birkenrinde beladen, die er vor die Ranzewa hinstellte, um Nechljudow zu begrüßen. Er tat dies in der Weise, daß er, ohne die Augen von ihm abzuwenden, den Hals vorneigte und ihm zögernd die schweißige Hand reichte, worauf er langsam die eingekauften Eßwaren aus den Körben nahm und auf den Tisch legte.

Diese beiden politischen Gefangenen waren Leute aus dem Volke: der erste war ein Bauer namens Nabatow, der andere ein Fabrikarbeiter, Markel Kondratjew mit Namen. Markel war bereits als älterer Mann, in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahre, in die revolutionäre Bewegung hineingeraten, während Nabatow sich ihr schon als achtzehnjähriger junger Mensch angeschlossen hatte. Aus der Dorfschule war er, dank seiner Begabung, aufs Gymnasium gekommen, wo er sich während der ganzen Zeit durch Stundengeben erhielt. Er hatte beim Abgangsexamen die goldene Medaille erhalten, war jedoch nicht auf die Universität gegangen, da er schon als Schüler der siebenten Klasse sich entschlossen hatte, ins Volk, aus dem er hervorgegangen, zu gehen, um seine vergessenen Brüder aufzuklären. Diesen Entschluß führte er auch aus: er nahm zuerst eine Stelle als Schreiber in einem großen Dorfe an, wurde jedoch bald arretiert, weil er den Bauern Bücher vorgelesen und einen Konsumverein sowie eine Produktivgenossenschaft unter ihnen ins Leben gerufen hatte. Das erste Mal hielt man ihn acht Monate lang im Gefängnis und entließ ihn dann, stellte ihn jedoch unter geheime Polizeiaufsicht. Kaum war er freigekommen, als er sich sogleich nach einem andern Dorfe in einem andern Gouvernement begab, wo er als Lehrer tätig war und in derselben Weise politisch wirkte. Er wurde wieder festgenommen und saß diesmal vierzehn Monate im Gefängnis, wo seine Überzeugungen noch tiefer in ihm Wurzel schlugen.

Nach diesem zweiten Aufenthalt im Gefängnis wurde er in das Gouvernement Perm verschickt. Von dort entfloh er. Man nahm ihn fest, und nachdem er sieben Monate lang in Haft geblieben, verschickte man ihn ins Gouvernement Archangel. Von da aus schickte man ihn, als er sich weigerte, dem neuen Herrscher den Eid zu leisten, nach der Provinz Jakutsk, so daß er, seit er erwachsen war, die Hälfte seines Lebens im Gefängnis und in der Verbannung zugebracht hatte. Alle diese Erlebnisse hatten ihn keineswegs erbittert und seine Energie nicht nur nicht geschwächt, sondern im Gegenteil noch angefeuert. Er war ein Mensch von großer Beweglichkeit, mit einer vortrefflichen Verdauung, allezeit gleich rüstig, unternehmend und heiter gestimmt. Er empfand nie über irgend etwas Reue, blickte nie erwartungsvoll in eine weite, nebelhafte Zukunft, sondern wirkte mit allen Kräften seines Verstandes, mit seiner ganzen Gewandtheit und seinem praktischen Blick in der Gegenwart. War er in Freiheit, so arbeitete er auf das eine Ziel los, das er sich gesetzt hatte: auf die Aufklärung und den Zusammenschluß des arbeitenden Volkes, vor allem des Bauerntums; und saß er im Gefängnis, dann arbeitete er auf ebenso energische und praktische Weise daran, einen Verkehr mit der Außenwelt herzustellen und, den gegebenen Umständen entsprechend, das Leben nicht nur für sich, sondern auch für seinen ganzen Kreis so gut wie möglich einzurichten. Er war vor allem ein geselliger, altruistisch veranlagter Mensch. Für sich selbst schien er nichts zu brauchen, seine Bedürfnisse beschränkte er auf das denkbar geringste Maß; für die Gemeinschaft dagegen, die Kameraden, forderte er sehr viel und konnte für sie jede physische oder geistige Arbeit verrichten, ohne die Hände ruhen zu lassen, ohne Schlaf, ohne Nahrung. Als geborener Bauer war er arbeitsam, findig, geschickt in allen Verrichtungen, dabei von Natur enthaltsam, ungezwungen höflich und nicht nur den Gefühlen, sondern auch den Meinungen anderer gegenüber tolerant. Seine alte Mutter, die Witwe eines Bauern, die weder schreiben noch lesen konnte und voll Aberglauben steckte, war noch am Leben, und Nabatow unterstützte und besuchte sie, wenn er in Freiheit war. Verweilte er zu Hause, dann ging er ganz auf ihre Interessen ein, half ihr bei den Arbeiten und setzte auch den Verkehr mit seinen früheren Kameraden, den Bauernburschen, fort. Er rauchte mit ihnen ihren billigen Tabak, beteiligte sich an ihren Faustkämpfen und sonstigen Unterhaltungen und setzte ihnen auseinander, wie sie sich aus der bedrückten Lage, in der sie wären, freimachen könnten. Er hatte dabei stets das lebendige, wirkliche Volk, aus dem er selbst hervorgegangen, vor Augen und stellte es sich fast unter den gleichen Lebensbedingungen vor, jedoch mit Land ausgestattet, ohne die Grundherren und Beamten. Nach seiner Meinung brauchten bei einer Umwälzung die Grundformen des Volkslebens nicht verändert zu werden – er stand in dieser Hinsicht im Gegensatz zu Nowodworow und seinem Anhänger Markel Kondratjew. Nicht das ganze Gebäude galt es zu zertrümmern, sondern vielmehr die inneren Räumlichkeiten dieses schönen, festen, gewaltigen, von ihm heiß geliebten alten Bauwerks anders einzuteilen.

Auch in religiöser Beziehung war er der typische Bauer: niemals zerbrach er sich den Kopf über metaphysische Fragen, über den Anfang aller Anfänge, über das Leben nach dem Tode. Gott war für ihn – wie für den Gelehrten Arago – eine Hypothese, mit der sich zu beschäftigen er bisher kein Bedürfnis empfunden hatte. Es ging ihn nichts an, auf welche Weise die Welt entstanden war, und der Darwinismus, der seinen Kameraden so überaus wichtig erschien, war für ihn ebenso ein bloßes Gedankenspiel wie die Erschaffung der Welt in sechs Tagen.

Die Frage nach dem Ursprunge der Welt beschäftigte ihn darum nicht, weil die Frage, wie man in dieser Welt am besten leben könne, immer vor seinem Geiste stand. Und über das Leben nach dem Tode dachte er darum niemals nach, weil er in der Tiefe seiner Seele jene von den Vorfahren ererbte sichere, ruhige, allen Ackersleuten gemeinsame Überzeugung hegte, daß, wie in der Tier- und Pflanzenwelt nichts ein Ende hat, sondern alles fortwährend aus einer Form in die andere übergeht, der Dünger sich in Korn, das Korn in das Huhn, die Kaulquappe in den Frosch, die Raupe in den Schmetterling, die Eichel in die Eiche verwandelt, so auch der Mensch nicht vergeht, sondern nur sich wandelt. Das war sein Glaube, und darum sah er dem Tode stets mutig und sogar heiter ins Auge und ertrug standhaft die Leiden, die zu ihm hinführen, liebte es jedoch nicht und verstand es auch nicht, darüber zu sprechen. Er liebte es, zu arbeiten, war stets mit praktischen Dingen beschäftigt und wies auch die Genossen auf solche praktischen Dinge hin.


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