Ludwig Tieck
Tod des Dichters
Ludwig Tieck

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Er ging die Stiege hinauf und ließ in Luis' Händen ein sorgfältig eingeschlagenes und vielfach versiegeltes Paket. Der Fremde, der sich so unvermutet in diesem Garten sah, öffnete es mit zitternden Händen.

Indem er die Siegel lösete, fielen ihm jene alten Blätter sogleich in die Augen, welche Gedanken zu künftigen Gedichten enthalten. Er erhob sich mit einem Ausruf vom Sessel und sank dann starr und leblos zurück. Eine tiefe Ohnmacht hielt alle seine Glieder gebunden.

In den obern Zimmern bemühten sich alle, Catharina durch Gespräche zu erheitern.

Ferdinand, der erst jetzt hereingetreten war, sagte, nachdem er die Frau des Hauses und den Oheim begrüßt hatte: »Nun, meine liebe, sonderbare, unzufriedene Maria, wirst du mit mir zufrieden sein, denn ich selbst habe nun jenen Fremden, den du so liebgehabt, in den Garten und das Haus geführt, und ich hoffe, er soll, so wie der Herr Italiener, zu unsern nähern Freunden in Zukunft gehören. Auch hat er sein scheues Wesen schon mehr abgelegt, er ist freundlicher und gesprächiger. Du wirst den Menschenscheuen ganz bekehren.«

Maria rief freudig aus: »Habe ich es denn nicht immer gesagt, daß der liebe Mann eigentlich zu uns gehört? O bring ihn herauf, Graf, daß die Mutter auch einmal etwas Neues erlebt.«

»Dessen«, sagte Catharina seufzend, »haben wir seither, meine ich, nur zu viel gehabt. Wo ist mein Vetter, Don Christoforo?«

»Er wandelt unten im Garten«, antwortete der Marques. »Der Alte ist munter und gesund, und das hat er Euch zu danken, teure Muhme.«

»Nein«, antwortete sie, »mir vergönnt dies das Schicksal, mir wird es in meinen letzten Tagen noch so gut, daß ich für einen edlen Mann, für einen Verwandten, etwas tun kann, der meiner Seele eng verbunden ist, wie es nur Bruder und Schwester sein können: mir selber tu ich am meisten gut, indem ich sein Alter erleichtere.«

Mit Geschrei stürzte jetzt der alte Domingo herein. Alle fuhren empor. »Unten im Gartensaale«, rief er laut, »liegt eine Leiche!«

Fernando rannte schnell hinab, fast ebenso eilig Maria, der Kapitän folgte, und der Marques führte die erschreckte Catharina.

Man wandte alle Hülfe bei dem Ohnmächtigen an, welcher sich endlich von seiner Betäubung erholte. Er blickte um sich und schien verwundert, so viele Gestalten vor sich zu sehn, die sich alle teilnehmend um ihn bemühten. Er suchte seine Besinnung wieder zu sammeln, sein Blick fiel auf Maria, die heftig weinend seine kalte Hand ergriffen hatte. Er lächelte wehmütig, sah in den Garten und wendete sich dann wieder zurück nach dem Tische.

»Das war es!« rief er mit so schmerzlichem, durchdringendem Tone, daß alle Gegenwärtigen erblaßten. »Nach der Mahnung dieser Blätter, nachdem ich dies noch erlebte, ist es Zeit zu endigen!«

Er warf sich mit beiden Armen über den Tisch, verhüllte sein Haupt und weinte so heftig, daß Maria meinte, die Brust müsse ihm zerspringen. Er redete nicht, seine Tränen flossen immerdar, und Seufzen und Schluchzen wechselte mit den schmerzhaftesten Tönen und Ausrufungen, daß alle, von gewaltiger Rührung ergriffen, weinend in seine Wehklage stimmten.

Endlich schien er erschöpft, er hob das tränennasse Antlitz empor, schaute dem jungen Grafen in das Angesicht und rief dann mit Todesakzenten: »Was nutzt jetzt noch die Lüge? Diese alten, stummberedten Blätter sind Worte meiner Jugend, ich bin der arme, unglückliche Camoens!«

Ein lauter Ausruf entfuhr allen, und Catharina sank betäubt in die Arme ihres Oheims.

In diesem Augenblick war Christoforo über die Schwelle getreten, er hatte den Ruf des Freundes vernommen und stürzte jetzt zitternd, schreiend vor dem Dichter kniend hin: »Luis, mein Luis!« rief er und faßte das bleiche Antlitz in seine beiden Hände.

Luis sah ihn an, küßte den Alten und antwortete: »O wie gütig, Himmel, daß ich den Treuen im Tode wiedersehe.«

Catharina erwachte wieder, und der Graf führte Maria und den Kapitän nach dem Garten, auch Christoforo erhob sich und folgte dem Winke Fernandos.

»Wenn man Wunder erlebt«, sagte der Marques, als die drei allein waren, »so ziemt es sich auch, sie würdig und im Glauben aufzunehmen. Luis Camoens, großer, unglücklicher Mann, erkenne deine Freundin, deine Gattin, Catharina de Otaz da in diesem edlen Bilde wieder und wisse, daß jenes liebliche Kind deine Enkelin, die Tochter deiner Tochter ist.«

Die beiden so lange Getrennten blickten sich an, umarmten sich und waren im seligen Entzücken, im wehmütigen, überirdischen Schreck totenbleich geworden.

»O meine Catharina!« schluchzte Camoens.

»O Luis«, rief sie, »was habe ich um dich gelitten!«

»Und Freunden, Geliebten«, sagte er, »lebte ich so nahe und wußte es nicht! Floh die Menschen, die mich getröstet hätten!«

»Wie nur«, sagte der Marques, indem er den Dichter mit herzlicher Liebe umarmte, »lebtet Ihr so einsam? Entdecktet Euch keinem Freunde? Wie glücklich, wie selig hätten wir miteinander leben können!«

»Das ist mein Schicksal«, antwortete Camoens, »ich hatte allzu Bittres erfahren, und mein Vertrauen war zerbrochen. Ich bedurfte fast nichts, weil ich als Bettler lebte. In San Lazaro, dem Hospital, fand ich des Nachts ein Obdach, welches mir freundliche Geistliche bewilligt hatten, für meine Nahrung und Kleidung sorgte mein Neger, Antonio. O laßt ihn rufen, er weilt draußen, der treuste Freund, daß ich auch seine dunkeln Augen noch einmal sehe.»

Der alte Marques weinte heftig, indem sich Catharina und Camoens umschlungen hielten. »Ich verstehe«, sagte der Greis, »das ist mein Neger, den ich kenne. Nein, es gibt keine Worte für den Schmerz, für die Wunden, für das Entsetzen, die alle wechselnd unsre Brust, von seliger Wehmut abgelöst, durchschneiden. O Luis, Bruder, edler Mann – was können wir für dich tun, wir Armen?«

»Ich sterbe in der Nähe der Freunde, der Geliebten«, sagte der Dichter, »das ist mehr, als ich jemals hoffen konnte.«

Man rief die Entfernten zurück, und auf einen Wink des Dichters stürzte sich Maria in die Arme des überglücklichen Mannes. Auch der Neger Antonio war hereingedrungen sowie Domingo, der alte Vertraute. Alles war Freude und Traum, Schmerz und Entzückung: Jeder betrachtete den wiedergefundenen Dichter als ein übermenschliches Wesen, jeder wollte ihm seine Liebe und Verehrung beweisen, und Camoens, die Augen bald auf Catharina mit seligem Entzücken werfend, dann Maria mit Wonne betrachtend, nun dem braven Christoforo zärtlich die Hände drückend, seinen guten Neger herzlich umarmend und wieder Catharina betrachtend, war im Schwindel des Erkennens, der Freude, und er fühlte, wie des Menschen Kraft zu geringe sei, dergleichen zu ertragen. »Nicht umsonst habe ich gelebt«, sagte er endlich, »meine Liebe ist erkannt, sie wird auch nach meinem Tode wirken.«

»Ja«, rief der Marques, »solange es der Portugiese verdient, diesen Namen zu führen. Unser König ist verloren, unsre Freiheit untergegangen, aber wenn einst der stolze Spanier unser Vaterland unterjochen wird, so ertönt aus Euerm Gedicht Freiheit und Patriotismus und muß neue Kräfte wecken und erschaffen. Dies Buch, dieses Werk wird vielleicht bald nur noch Portugal sein, in ihm lebt Mut und Vaterland, Liebe und Kraft, und wie nur dem Frühling, muß stets Schönheit und Frucht diesen Versen entquellen. Ihr sterbt niemals, Luis, denn jeder Nachkomme muß aus Euch lernen, was das Würdigste sei und was ihm obliegt.«

»Wäret Ihr Prophet, edler Mann!« rief Camoens. »Doch für mich ist wenigstens jetzt meine Laufbahn zu Ende. Die Schätze meines Lebens, Freundschaft und Liebe, habe ich noch einmal wiedergesehn, Achtung ist mir geworden, jetzt ruft mich die Liebe des Heilandes.«

Keiner der Gegenwärtigen konnte es sich verhehlen, daß der Dichter im Sterben sei, die Gefühle aller waren aber so wunderbar gesteigert, daß man nicht sagen konnte, sie trauerten über seinen Hingang. Nur sorgte man, daß der fromme Christ nicht ohne Beichte und Sakrament verscheide, nur war man verlegen, wo schnell, bei der Ferne von der Stadt, ein Priester zu finden sein möchte.

Da vernahm man Posaunentöne und lauten Kirchengesang von Geistlichen und nachfolgendem Volke. Es war eine zahlreiche Prozession, die einen Umzug hielt, um nach einem Kloster und wundertätigen Marienbilde zu wallen. Es war ein Trauerfest, den verlornen König mit Gott und zugleich das leidende Vaterland zu sühnen. Der Marques ging selbst hinaus, um den Zug zu begrüßen.

Der Prinz Antonio, Prior von Grato, und ein Bischof, welcher mit dem Hochwürdigen eintrat, erschienen vor dem Kranken.

»Der große Camoens lebt, um jetzt zu sterben!« rief der Prinz. »Einen solchen Portugiesen zu ehren, sollte der König selber erscheinen.«

Man ließ den Sterbenden mit dem Bischof allein, der aus Ehrfurcht vor dem Beichtenden keinem andern Geistlichen die heilige Zeremonie überlassen wollte. So ehrte man im Sterben den, den alle, solange er lebte, vernachlässigten und vergaßen.

Als der Kranke die Sakramente empfangen, traten alle Freunde wieder zu ihm, und er nahm mit verklärtem Blick Abschied von allen. Die edle Catharina zeigte eine würdige Fassung, ihr Glück und Unglück war zu groß, um sich in Schmerz oder Worte ergießen zu können. Ganz außer sich war die zärtliche Maria, obgleich sie nicht wußte, mit wie nahen Banden des Blutes der Sterbende ihr verwandt sei. Der Marques und der Graf zeigten ihre Freundschaft, und der italienische Hauptmann drückte in Worten und Gebärden fast eine Vergötterung aus, da er beschämt war, daß er den großen Mann früher so verkannt hatte.

Christoforo sagte: »Habe ich dich doch wiedergesehn, Edelster, Treuster aller Menschen! Auch dafür, wenn es auch nur ein einziger Blick war, danke ich meinem Gott.«

Am wehmütigsten war der Abschied des guten Negers von seinem Herrn. Camoens segnete ihn und sagte: »Deine beispiellose Treue und Liebe kann der Himmel nicht unbelohnt lassen.«

»War ich nicht belohnt genug«, sagte Antonio, »daß ich dir angehörte, dein Freund war?«

Auch dem alten Domingo reichte Camoens die Hand.

Alle schwiegen, und in Gegenwart der edelsten Menschen schlief der Dichter beruhigt und beseligt ein.

 

Catharina folgte ihm bald. Der gute schwarze Sklave ward im Hause des Marques aufgenommen und nicht als Diener behandelt, sondern der Greis und der junge Graf schenkten ihm das Vertrauen, welches er verdiente, und gingen mit ihm wie mit einem alten Freunde um.

Nach dem Tode des alten Königs Heinrich bemächtigte sich Alba für seinen Herrn Philipp des Reiches. Lange widerstand ihm der Prinz Antonio, mußte aber der Übermacht weichen. Ferdinand vermählte sich mit Maria. Die Familie hatte sich mit Antonio zwar verbunden und ihm Beistand geleistet, aber Philipp verzieh aus Klugheit, da es gefährlich war, alle Patrioten zu bestrafen. Und so lebte diese Familie so glücklich, als es Edlen möglich ist, die zurückgezogen von der Welt um ihr unterjochtes Vaterland trauern müssen.

 


 


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