Ludwig Tieck
Tod des Dichters
Ludwig Tieck

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Der junge Graf Ferdinand sah noch lange mit starren Augen auf diese alten Blätter, nachdem er sie geendigt hatte. Viele Zeilen, die fast erloschen waren, hatte er nur mit großer Anstrengung lesen können, alle Worte hatten ihn tief ergriffen, und indem er nun am meisten gespannt war, das Nähere der Geschichte, welche sich aus diesen poetischen Andeutungen nur erraten ließ, zu erfahren, brach alles ab und endigte ohne Schluß. Vergeblich suchte er in den beschriebenen und gedruckten Büchern nach dem Rest dieser Erzählung. Wer war es, der diese Blätter schrieb? fragte er sich selber. Wie kommen sie in jenes vernichtete Haus? Den Gedanken, daß sie wohl gar vom verstorbenen Gemahl seiner Tante herrühren könnten, mußte er sogleich als unmöglich abweisen. Er dachte nach, wen er fragen könne, um etwas heller in dieser Sache zu sehn, welche ihm wichtig geworden war. Doch fiel ihm ein, indem er sann, daß, wenn hier ein Geheimnis verborgen liege, er nicht von diesen Blättern sprechen dürfe, die er, ohne die Erlaubnis zu haben, eigenmächtig gelesen.

Wenn ich mein Leben überdenke, sagte er zu sich selber, wie es sich seit kurzem gestaltet hat, so begreife ich mein jetziges Treiben nicht, wenn ich es meinem früheren vergleiche. Die Geschäfte für jene ehrwürdige Verwandte fesseln mich so, daß ich mir keine andre Beschäftigung wünsche: Am wohlsten ist mir in ihrer Gesellschaft, und wenn sie jünger wäre, würde ich mir einbilden können, daß ich sie liebe. Denke ich meines früheren Lebens, als es mir schien, daß ich nur als Soldat glücklich sein könnte, so fasse ich es nicht, was diese Umwandlung in mir hervorgebracht hat. Für meine Sucht nach Seltsamkeit, meine Freude an Wundern wäre dieser jetzige Feldzug geeignet gewesen, dem ich mich jetzt, gestehe ich es mir nur, mit Freuden entziehe. Nicht Furcht vor Gefahren fesselt mich hier, sosehr auch mein Oheim und viele Alten der Unternehmung einen heillosen Ausgang wahrsagen. Mir dünkt, mein Genius steht an der Schwelle meiner Zukunft, winkt mir zurückzugehn und verheißt mir hier Glück und Freude. Ob diese Blätter von einem Dichter herrühren mögen oder von einem Manne, der sich nachher unter uns bekannt gemacht hat?

Der junge Mann wurde in diesen Betrachtungen durch ein lautes Getümmel unterbrochen, welches sich im Hofe erhob. Man hatte das Tor des Hauses gewaltsam geöffnet, und mit Geschrei und vielfachem Lärm stürzte ein Menschenhaufen in den Raum des Hofes, andre eilten die Treppen herauf. Als Ferdinand an das Fenster ging, sah er, daß man einen verwundeten Krieger unten niederlegte, indem ein Diener schnell nach einem Wundarzt rannte, um die Wunde des halb Ohnmächtigen, welcher schon viel Blut verloren hatte, zu verbinden.

Ferdinand eilte hinaus, um selber Befehle zu geben, damit dem Verletzten, wenn noch Rettung war, auf die beste Art geholfen werden könne. Unten war alles verwirrt und tobte und schrie durcheinander: der verwundete Offizier, welchen Ferdinand unten in ein Zimmer auf ein Bett hatte legen lassen, kam wieder zum Bewußtsein und dankte dem Herrn des Hauses für seine Sorgfalt und Freundlichkeit. Der Wundarzt kam und erklärte nach dem Verbande die Wunden für gefährlich, wenn auch nicht tödlich.

Als Ferdinand Ruhe gestiftet und der Haufe des gemeinen Volkes sich wieder verlaufen, als der junge Mann alles für die Pflege des Offiziers angeordnet hatte, begab er sich wieder zu den obern Zimmern, und einige der ältern Diener folgten ihm sowie ein deutscher Hauptmann, ein Freund des Verwundeten, der ihm für seinen Kameraden Dank sagte.

»Wie ist es nur möglich«, fragte Ferdinand, »daß in einer ruhigen, friedlichen Stadt am offnen Tage und auf der Gasse eine solche Gewalttat hat verübt werden können?«

»Vor dem Hause«, sagte der Kammerdiener, »hatte sich plötzlich eine große Masse des Pöbels zusammenrottiert, die ein großes Geschrei verführte und auf kein Zureden und Ermahnen achtete. Der große, riesenhafte Mensch Minotti, den die Wasserträger und Handlanger wie ihren Kapitän oder Fürsten achten, war an ihrer Spitze, und alles Gesindel war bewaffnet, mit Knütteln, alten Spießen und verrosteten Degen.«

»Ja«, setzte der Hauptmann die Erzählung in gebrochenem, unrichtigem Portugiesisch fort, »der Riesenkerl schwang wie Herr Goliath einen ungeheuern Weberbaum, und kein Mensch hatte den Mut, das Volk zu bändigen oder anzugreifen.«

»Was aber hatte sie vereinigt und zu dem Tumult veranlaßt?« fragte Ferdinand.

»Erlaubt«, fing der Kammerdiener wieder an, »sie hatten vor, als Gesandtschaft nach dem Palast unsers allergnädigsten Königs zu laufen, um ihm insgesamt die Bitte vor seine erlauchten Füße zu legen, von diesem unglücklichen Feldzuge nach Afrika abzustehn, weil er und das ganze große Heer dort im Lande zugrunde gehen müsse.»

»Ja«, fiel der Offizier wieder heftig ein, »sie hatten da eine lange unvernünftige Geschichte von einer Glocke und Kapuzinern und Einsiedlern und daß uns die bösen Geister zerreißen würden.«

»Erlaubt, gnädiger Herr Offizier«, unterbrach ihn der Kammerdiener, »daß ich meinem Herrn Grafen den eigentlichen Verlauf mitteilen kann. Jener Kapuziner, Melchior, den viele im Volk für einen Heiligen halten, war wirklich mitten im Gedränge. Er sprach und prophezeite und erzählte, und die Angesichter seiner Zuhörer wurden immer röter und glühender. Er trug ihnen wieder jenes Wunder der Glocke von Vilela vor, welches wir alle schon erfahren haben, wie unermüdet sie an manchem Tage ihre Unheilstöne habe vernehmen lassen. Einige Wasserträger und Maultiertreiber sprachen ebenfalls in Begeisterung von den Zeichen der Zeit. Das Gedränge vermehrte sich. Da erschienen diese beiden Herren, und dieser Herr Offizier fand sich durch die Reden und das Geschrei des Haufens beleidigt.«

»Mit Recht«, rief der deutsche Hauptmann, »denn das Gesindel sprach über den Feldzug und die Armee mit einer unverschämten Dummheit!«

»Nur schade«, sagte der Kammerdiener, »daß das Volk den würdigen Herrn und seine Sprache nicht verstand. Sie meinten, er höhnte sie aus und schelte und verfluche sie, wie es denn im Grunde auch nicht viel besser war. Denn alles lautete noch schlimmer, als er es vielleicht meinte.«

»Ich hätte sie alle massakrieren mögen«, schrie der Deutsche, »da die ganze Kanaille von Miliz und Ordonnanz nichts verstand.«

»Darüber kam es nun zum Handgemenge«, sagte der Diener, »und alle brüllten laut, als dieser Herr den Degen zog und sich unter das Volk stürzen wollte. Der andere Offizier, der Verwundete, wollte mit guten Worten und mit Gewalt seinen Kameraden zurückhalten, aber der Herr ließ sich in seinem Eifer nicht bedeuten. Schläge fielen, und seine blanke Klinge war mitten im Haufen. Nun konnte der zweite Herr nicht mehr zurückbleiben, er half redlich, aber der Widersacher waren zu viel, und so liegt er nun unten mit drei schweren Blessuren auf dem Bette.«

»Ja, und mich«, rief der Deutsche, »hätte der Teufel wohl ganz und gar geholt, so verpicht war das Gesindel auf meinen Untergang. Ich empfahl meine Seele auch schon der Barmherzigkeit Gottes, denn es war an kein Entrinnen zu denken, und der große Riese holte mit seinem Weberbaum schon aus, als ein mäßig großes Männlein, hübsch angezogen, sich mit seinem Degen mitten in das schreiende Gewühl stürzte und dem Herrn Goliath einen solchen Schlag vor die Brust gab, daß der Unflat matt zurücktaumelte. Alle erschraken, und nun sprach das Männel, wovon ich aber das wenigste verstand, so hübsch und vernünftig, daß alle ruhig wurden und ich für dasmal salviert war.«

»Wer war der Mann?« fragte Ferdinand.

»Ich kannte ihn nicht«, sagte der Diener, »er hat sich auch, als die Gefahr vorüber war, sogleich wieder entfernt.«

»Ein stilles Kerlchen ist es«, sagte der Deutsche, »ich habe ihn schon neulich mal kennenlernen. Er hat nur ein Auge, ist aber sonst handlich und sauber und erzählte uns, daß er auch einmal Soldat gewesen sei. Das muß wohl sein, weil er sich heut der Soldateska so tüchtig angenommen hat.«

Ferdinand ging mit dem deutschen Hauptmann zum Verwundeten, welches jener Florentiner war, wieder hinunter. Sie fanden das Zimmer mit Soldaten angefüllt, welche alle den Bettlägrigen beklagten. Der Engländer Stuckley war selber gekommen, um den Vorfall zu untersuchen. Er dankte dem jungen Grafen für die Sorgfalt, die er für seinen Kapitän bewiesen habe, und sagte, daß er ihn sogleich in das Lazarett wolle bringen lassen.

»Erweiset mir«, sagte Ferdinand, »die Freundschaft, Herr General, auch bis zur völligen Genesung Euern Hauptmann meiner Pflege zu vertrauen, denn ich gebe Euch mein Wort, daß es ihm in meinem Hause an keiner Hülfe fehlen soll.»

Stuckley dankte mit Herzlichkeit und sagte dann: »Freund Amerigo, so werden wir nun ohne Euch hinübersegeln müssen, denn es steht nicht zu erwarten, daß Eure Wunden so bald genesen werden. So verliere ich hier schon einen meiner einsichtsvollsten und tapfersten Freunde. Kommt uns nach, sobald als möglich.«

Der Deutsche faßte die Hand des Italieners und sagte: »Frischauf, Kamerad! Haltet Euch, so gut Ihr könnt, das Fieber, den Schmerz und Tod vom Leibe, so hoffe ich, könnt Ihr immer noch in der nächsten Aktion mit zugegen sein, denn die Geschichte wird gewiß nicht mit etlichen Schlachten entschieden sein. Wärt Ihr nicht mit mir aus Freundschaft gegangen, und wäre ich nicht so ein Tollkopf, worüber Ihr mich immer reprimantiert habt, so wäre freilich das ganze Unglück nicht vorgefallen. Nicht wahr, Herr General, es wäre eigentlich besser gewesen, er hätte mich von der wütigen Kanaille totschlagen lassen, als daß er nun hier wie ein armer kranker Hund liegen muß! Er konnte Euch mit seinen Einsichten mehr nützen als ich Einfaltspinsel, der ich nur mit dem Schwert dreinzuschlagen verstehe.«

Stuckley gab ihm die Hand und sagte: »Ihr seid ebenfalls ein braver Soldat, und ich sowohl wie König Sebastian muß über jeden tüchtigen Mann klagen, den wir einbüßen sollen.«

Unter wiederholten Danksagungen und Freundschaftsbezeugungen verließ Stuckley mit seinem Gefolge das Zimmer, und Ferdinand suchte den Verwundeten zu trösten und zu beruhigen, worauf er diesen der Ruhe überließ, die der Kranke wohl jetzt am meisten nötig hatte.

 

In dem Landhause der Donna Catharina war die Ruhe indessen auch einigermaßen gestört worden, denn sie hatte einige Seitenzimmer einrichten lassen, in welchen ein alter Verwandter, der zwar nur in weiter Entfernung zu ihrer Familie gehörte, wohnen sollte. Sie erkannte diese ferne Verwandtschaft um so lieber, weil der Greis, welchen sie erwartete, arm war und sie es wußte, daß er gern diese Gastfreundschaft annehmen und ihr dankbar sein würde, indem sie ihm dadurch viele Ausgaben ersparte. Dieser Alte war lange in Ostindien gewesen und hatte mancherlei Staatsdienste verwaltet, auch hatte er als Soldat gedient, aber er hatte es nicht verstanden, in diesen Verhältnissen sein Vermögen zu verbessern oder gar, wie so mancher andre, Schätze zu sammeln. Catharina aber war um so mehr erfreut, diesen würdigen Mann wiederzusehn, den sie nur in ihrer frühesten Jugend gekannt hatte. Sie hatte alles zu seinem Empfange bereiten lassen und erwartete nur den letzten Brief, welcher ihr bestimmt den Tag der Ankunft des würdigen Vetters melden sollte, wenn er vielleicht noch schrieb.

Sie war im Saal, dessen hohe Fenster auf den Garten und die Landstraße niedersahen, und der Marques de Castro sowie der junge Graf Ferdinand waren zugegen. Dieser hatte eben erzählt, auf welche sonderbare Weise er zu einem Gaste gekommen sei, welchen er jetzt in seinem Hause verpflege, als Catharina, welche zerstreut schien, plötzlich fragte: »Wie heißt der Mann?«

»Er ist ein feiner, gebildeter Florentiner«, sagte Ferdinand, »Amerigo Castelvatro, mit dem ich mich schon viel über die Literatur seines Vaterlandes, welche er genau kennt, habe unterhalten können.«

»Den meine ich nicht«, sagte sie etwas verdrossen, »sondern jenen Mann, welcher den deutschen Kapitän aus dem Getümmel rettete.«

»Diesen Portugiesen«, antwortete Ferdinand, »kannte keiner meiner Diener.«

»Schade«, rief sie aus, »denn er hätte, falls er arm sein sollte, wohl eine Belohnung verdient!«

»Der ungestüme Deutsche schien ihn zu kennen«, sagte Ferdinand, »aber nach dessen Schilderung scheint dieser wackre Mann im Wohlstande zu leben, wenigstens nicht arm zu sein.«

»Willst du gern wissen, Mütterchen«, rief plötzlich die kleine fröhliche Marie dazwischen, »wer die Heldentat ausgeübt und dem großen ungezogenen Mann den Stoß vor die Brust gegeben hat?«

»Kannst du es mir denn sagen?« fragte Catharina.

»Gewiß!« sagte das Kind und nickte sehr bedeutsam mit dem Kopfe.

»Komm zu mir, Mutwillen«, rief der alte Marques, »springe nicht so im Zimmer herum und sei einmal ernsthaft.« Er nahm sie auf den Schoß und strich ihr die langen, schwarzen Locken von der hohen Stirn. »Jetzt sprich!« sagte der Marques, indem er einen strengen Ton annahm.

»Und nun will ich gerade nicht!« rief die Kleine, indem sie die fliegenden Locken wieder über das ganze Gesicht zog und hin und her schüttelte.

Der Marques konnte sich über den Trotz der Kleinen des Lachens nicht enthalten, indem er rief: »Jetzt siehst du wie ein Löwe aus!«

Sie aber sagte schmollend: »Gibt es denn auch schwarze Löwen? Ich denke, sie sind alle gelb oder bräunlich.«

Ferdinand stand auf und sagte, indem er die Kleine vom Schoße des Marques herunterhob und sie wieder laufen ließ: »Laßt mir, lieber Oheim, mein Bräutchen in Frieden: Wenn sie es mir nur recht macht, so hat kein andrer zu schelten.«

»Bräutchen?« sagte Maria schnippisch. »Habe ich denn schon meine Einwilligung gegeben? Kennst du denn meine Gedanken? Wenn mir nun ein andrer besser gefiele!«

»Kind!« rief Catharina aus, indem sie sich vom Sessel erhob. »Du bist mir heut ganz fremd – was ist dir angewandelt?«

»O Mutter!« sagte die Kleine und schmiegte sich an sie. »Wenn mir einmal wohl ist, das ist dir fremd? Muß ich denn so traurig sein wie du, wenn du mich liebhaben sollst? Wenn ich erst älter bin, werde ich auch schon Trauer und Not genug erfahren, jetzt ist mir noch oft, als wenn die allerkleinsten und lustigsten Engel zu mir herunterkämen und mir recht Lust machten, mit ihnen und allen Tierchen und Blumen und allen Dingen und Kreaturen von Herzen zu lachen. ›Die Sonne lacht, die Blumen lachen‹, steht ja auch in manchen Versen. So laß mich nur noch ein Weilchen auch so leben wie Sonne und Blumen oder wie die Dichter und solche Kreaturen, die an morgen nicht denken mögen.«

Catharina sah ihr Pflegekind mit einem tiefsinnigen, forschenden Blicke an, dann wendete sie sich wieder seufzend zu ihrem Sessel und sagte, als sie sich niedergelassen: »Nun, ob du gleich unartig bist, so sage mir doch, wer der Portugiese war und woher du Kenntnis von ihm hast.«

Die Kleine kam zu ihr, reichte ihr Händchen hin und sprach: »Ja! Du mußt mir aber erst die Hand daraufgeben, daß du mir verzeihen willst, denn ich bin heute vormittag noch viel unartiger gewesen.«

Die hohe Frau mußte über das Wesen des Kindes lächeln. Ihre trübe Miene erheiterte sich, sie schlug mit ihrer Hand in die dargebotene kleine und sagte: »Ja, ich verspreche dir, alles sei verziehen, was du auch getan haben magst.«

»Ihr seid Zeuge, Herr Marques, und der junge Herr, der sich meinen Bräutigam nennt!« rief Maria. »Nun also, ich muß mich recht über euch verwundern, daß ihr es alle nicht gleich bei der Erzählung begriffen habt, daß der rüstige liebe Mann derselbe ist, der hier so oft vorübergeht. Der da in der Schlägerei hatte ja auch nur ein Auge, so wie mein guter Freund, der geradeso aussieht, als wenn er lauter Gutes und Liebes den Leuten und seinen Freunden täte.«

»Es ist möglich«, antwortete Catharina, und Ferdinand sagte: »Wenn er wieder vorbeigehn sollte, mußt du deine Mutter oder mich, wenn ich hier bin, aufmerksam machen.«

»Mutter kann den lieben Mann nicht leiden«, sagt Maria, »sie denkt gar – Gott und die Heiligen behüten uns! –, er könnte ein Räuber und Mörder sein. Wenn man aber den besten Menschen so begegnet, was soll man erst mit den Schlechten anfangen?«

Als Catharina nachdenkend vor sich niedersah, kam die Kleine wieder zu ihr und sagte ernsthaft: »Du fragst ja aber nun gar nicht nach meiner eigentlichen Ungezogenheit?«

»Nun, so sprich, Kind.«

»Aber du hast noch nicht vergessen, daß wir darüber schon unsern Frieden gemacht haben? – Ich war heut vormittag, so sehr du es auch verboten hast, wieder unten im Garten. Meine Duennen hatten mich nicht beachtet, denn sie dachten, ich wäre bei dir, und so war ich ihnen weggelaufen. Du denkst immer, ich werde in den Springbrunnen fallen oder mich von der Sonne verbrennen lassen, oder was du nun sonst für Ängsten hast. Aber ich tue nichts, als daß ich mir die Vögelchen, die Fische, die Blumen und Bäume recht genau betrachte, gar anders mit Verstand als von hier oben. Unten kann ich mit allen sprechen, es ist, als wenn sie antworten. Man kann sich in die Augen sehn, und man bleibt sich nicht so fremd. Sonst ist es, als wäre alles nur gemalt oder wie Tapete. Drum ist ja mit Sonne, Mond und Sternen so wenig anzufangen.«

»Schwätzerin!« drohte Catharina.

»Der alte Herr hört mir gern zu«, erwiderte fröhlich das Kind, »der hat die Kinder lieb, und wenn der Graf da will mein Bräutigam werden, so muß ich ihn auch noch erst recht genau kennenlernen. – Wie ich nun aber da unten war, sah ich wieder meinen lieben Einäugigen von der Stadt herkommen. Ei, jetzt war er aber einmal recht schmuck, er hatte einen hübschen Mantel und trug auch wieder einen Degen, wie es sich für solchen Mann gehört.«

»Wieder?« fragte Ferdinand. »Hast du ihn denn schon früher mit einem Degen gesehn?«

»Eigentlich nicht«, schwatzte Maria, »hier auf der Erde nicht – aber weil mir der Mann so sehr gefällt, müssen es die Engel wohl zugelassen haben, daß mir, vor drei Tagen etwa, recht schön von ihm träumte. Da war ich an einem Meerufer, weit, weit hinunter war nichts als Meer und Luft und Himmel. Aber das Meer war recht schön grün und blau, recht freundlich und gut, nicht so erbost, daß es mit seinen großen Wellen tobte und Lärm machte und schalt. Wie ich in das Weite hinaussehe, wird unten was lebendig, wie ein Täubchen, und wie es näher zieht, ist es wie ein Schwan, der mit krummen Flügeln und dem schlängelnden Hals so herumschwimmt, als wenn er selber nicht wüßte, daß er sich mit Schwimmen abgibt. Nun war es aber ein Schiff mit weißen Segeln, was ich für einen Schwan gehalten hatte. Und wie es näher kam, floß auf den Wellen auch eine wunderschöne Musik mit zu mir heran. Die Musik ging wie ein gehorsamer Bedienter mit den süßen Worten seinem Herrn voran, und als das Schiff nun ganz groß geworden war und vor mir stand, da hatten sie es schon mit purpurroten und golddurchwirkten Decken und Teppichen belegt, wie man es macht, wenn der Fronleichnam gefeiert und das Hochwürdigste vorbeigetragen wird. Nun kamen auch schon die geputzten Leute, die sich alle im Schiff befanden, und halfen mit großer Reverenz einem ältlichen, aber schönen, schönen Mann heraus, daß er ans Ufer zu mir herübersteigen konnte. Ach, ich mußte weinen, als der liebe Mann sich umdrehte, daß er nur ein Auge hatte. Aber wie herrlich war er! Dazumal trug er nun den Degen mit einem schönen goldnen, glänzenden Griff. Ein roter Mantel war um seine Schulter, ein silberner Harnisch auf seiner Brust. In den Haaren leuchtete ein Goldring durch einen allerliebsten grünen Kranz, der ihm so hübsch ließ und in den auch etliche Blumen geflochten waren. Sowie er mich sah, grüßte er mich recht freundlich und kam nun so hübsch lächelnd ans Land. Mit einem Male hatte er eine Leier, die fing er an so schön zu schlagen, daß es mir das Herz erfreute. Und wie ich mich umsah, war das Wasser voll Schwäne und Delphine, die nach der Melodie des Gesanges schwammen und hüpften. Auf dem grünen Rasen tanzten und sprangen tausend hellweiße Lämmchen, und rote und grüne Papageien flogen in der Luft. Der Mann sagte zu mir: ›Willkommen!‹, gab mir die Hand und drückte meinen Finger drauf so stark, daß es mir weh tat. Da mußte ich schreien und aufwachen.«

Alle sahen das erzählende Kind mit Erstaunen an, und Catharina schien bewegt. Ferdinand nahm die Hand der Kleinen und drückte sie zärtlich.

»Gott! Herr Graf«, rief sie schmollend aus, »du machst mir wieder Schmerz! – Nun muß ich aber doch weitererzählen, daß ich auch gewiß sein kann, daß man mir vollständig vergeben hat. Ich sah also meinen guten, einäugigen Mann wieder die Straße herunterkommen, und er stand wieder, wie er schon oft getan hat, vor dem eisernen Gittertor still und schaute in unsern Garten hinein. Nun konnt ich den guten Mann recht in der Nähe betrachten. Wie ich ihm so zusah, war es mir mit einemmal, als wenn ich ihn schon seit Jahren gekannt hätte, als hätte er schon da draußen im Gebirge mit mir gespielt, und weil er nun so schmuck angezogen war, so faßte ich mir ein Herz und sagte mit einem Male: ›Geht es Euch gut, Sennor?‹ Ich hätte eigentlich am liebsten du zu ihm gesagt, aber ich weiß ja, daß sich das nicht mehr für mich schickt, seitdem ich groß geworden bin. Da sagte er zu mir . . .«, sie stockte.

Catharina fragte: »Nun, warum fährst du nicht fort?«

»Ich weiß nicht«, antwortete die Kleine, »ob es sich schickt. Doch, ich will mir ein Herz fassen. Er sagte also zu mir: ›Ach, mein allerliebstes Fräulein, was seid Ihr für ein schönes Kind!‹ – ›Ein Kind!‹ rief ich aus. ›Ich bin schon aus den Jahren und ziemlich groß: Meine Duennen sagen, ich würde bald gar nicht mehr wachsen.‹ Da lachte der liebe Mann so herzlich und freundlich, daß er mir noch hübscher vorkam. ›Was lacht Ihr, lieber Herr?‹ fragte ich wieder. ›Habe ich etwas Einfältiges gesagt?‹ – ›Nein, mein holder Engel‹, sagte er wieder, ›man lacht ja auch wohl einmal, wenn man sich freut‹ – Da mußte ich nun auch lachen und klatschte dazu vor Freuden in die Hände, was ich auch nicht mehr tun soll, weil ich schon zu groß bin. ›Nun seht‹, rief ich, ›nun freue ich mich wieder über Euch und muß dazu lachen!‹ – ›Nicht wahr?‹ sagte er und lachte wieder, und so standen wir da an den beiden Seiten vom Gitter und sahen uns an und lachten wie die Narren. ›Ich bin ganz jung geworden‹, sagte der Herzensmann nach einer Weile, ›reicht mir doch durch die Gitterstäbe Euer liebes Händchen.‹ – Da steckte ich meine rechte Hand durch das Gitter, er nahm sie zwischen seine Hände und betrachtete sie recht genau; er war wieder ganz ernsthaft geworden, er hatte einen finstern, traurigen Blick, und nun – werdet ihr es wohl glauben? – drückte er auf meine Hand einen langen, langen Kuß. Das ist mir bis jetzt noch in meinem ganzen Leben nicht begegnet – das war also der erste Kuß auf meine Hand . . . Und nun, wie er den Kopf wieder aufhob, fielen ihm große Tränen aus seinem Auge. Da mußte ich nun auch weinen, denn mit einemmal war alle Lustigkeit weggeflogen, und ich sagte: ›Fehlt dir was, lieber Mann?‹ – Aber ich erschrak, daß ich ihn du genannt hatte, ich war rot geworden und dachte, er müßte das übelnehmen. ›Nein, mein Kind‹, sagte er ganz freundlich und lächelte wieder, ›in deiner Gegenwart, ich weiß nicht, warum, fühle ich mich ganz glücklich.‹ Nun schämte ich mich noch weit mehr, daß er, der nicht mein Oheim oder Vetter oder Bruder ist, mich du nannte, was doch ganz unschicklich sein soll, wie alle Menschen sagen – und doch gefiel es mir so wohl, daß er keine Umstände mit mir machte. Jetzt kam der lahme Neger, sein Sklave, und der liebe Herr grüßte mich noch einmal recht freundlich und nahm seinen Hut ab, er bückte sich auch tief und ging nun mit dem Schwarzen fort. Es war mir nicht ganz recht, daß er sich so vor mir bückte. – Nun sieh, liebe Mutter, das ist denn meine Geschichte und meine Unart, die du mir schon im voraus vergeben hast.«

Die Pflegemutter sagte: »Du hast eigentlich keine Unart begangen, es ist aber doch besser, wenn du dich künftig der Unterhaltungen mit fremden Unbekannten entschlägst.«

»Er ist aber kein Fremder und kein Unbekannter«, erwiderte das Kind, «denn er steht täglich vor unserm Tor, manchen Tag ist er schon zweimal dagewesen. Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich kenne ihn schon ganz genau.«

»Aber wozu sollen solche sonderbare Bekanntschaften führen?« fragte Catharina.

»Das habe ich auch schon zu mir gesagt«, antwortete Maria, »als ich nachher so ganz allein im Garten auf und nieder ging. Da stand ich vor dem Drahthause an der andern Ecke, wo die vielen bunten schönen Vögel drin sitzen und springen. Meine Amme hatte mir einmal, als ich noch ein kleines Kind war, von einem herrlichen Vögelchen erzählt, das eigentlich ein vornehmer Prinz und der nun in ein Vogelwesen durch Zauberei geraten war. Ein wunderschönes Frauenzimmer mußte ihn nun durch ihre Liebe wieder zurück in einen Prinzen und König verwandeln. Da dacht ich denn so hin und her: Es könnte ja sein, so fiel mir ein, mein Freund von da draußen sei ein großer, großer Held, ein weltberühmter Eroberer oder Kriegesfürst, er komme von Brasilien oder Indien herüber, er sei am Ende gar ein mächtiger König. Närrisch genug, wenn er nun durch wunderbare Schicksale in Verfinstrung geraten wäre oder Armut, oder er dürfe sich hier bei uns Portugiesen nicht zu erkennen geben, denn solche unglückliche Helden und Monarchen sind ja auch schon dagewesen, und wäre es vorbestimmt, daß er nur durch mich, so klein ich jetzt auch noch bin, wieder zu Glanz und Herrlichkeit und allen seinen Würden gelangen könne. Wäre ich dann groß und dürfte ihm meine Liebe erklären, so bestiegen wir beide an einem bestimmten Tage den Thron, und alle Vornehme und Ritter huldigten ihm. – Da schrien die Vögel in ihrem Drahthause so stark, daß ich mir die schöne Geschichte nicht weiter ausdenken konnte. Der freundliche Mann ist wohl viel, viel älter als ich, aber ich weiß es, wie ich ihm doch von Herzen gut sein könnte. Und wenn er nun ein verkappter Held oder ein verzauberter Prinz wäre, so wäre das doch ein Wunder, und das tut wohl auch viel dazu, daß man einen Gemahl oder auch einen Bekannten recht außerordentlich lieb und wert hält. Denn so, wie ich mir die Welt und das Leben denke, so ist es doch das Alltägliche und Gleichgültige, alles das, wo gar nichts Schönes und Erstaunliches zum Vorschein kommt, was langweilig und widerwärtig ist.«

»Wohin geraten wir?« sagte Catharina plötzlich, als wenn sie aus einem Traum aufführe. »Wie entwickelt sich in dem Kinde schon das ganze Naturell des Weibes. Geh, du liebes Wesen, jetzt zu deinen Dienerinnen, ein andermal sollst du mir mehr erzählen.«

Auf einen Wink trat eine Dienerin herein.

Maria ging ernsthaft zum Grafen Ferdinand und sagte fast feierlich: »Du nennst mich so oft deine Braut und lachst dazu. Ich habe dir so was immer erzählen wollen, daß du siehst, wie ich auch über dergleichen nachdenke und was für Schwierigkeiten und Hindernisse eintreten könnten.«

Als sie allein waren, sagte der junge Graf: »Ich bedaure oft, wenn es die Erwachsenen hindern, daß Kinder so recht ihr ganzes Gemüt und alle die Traumgestalten, welche in ihnen aufsteigen, entfalten und erzählen. Bleibt es unschuldig, wird es nicht zur Ziererei und Lüge gesteigert, so spricht sich in diesem Fabeln und Faseln der ganze Mensch aus. Welch eine Schönheit wird sich gewiß in diesem Kinde entwickeln! Und welch reiches, poetisches Gemüt scheint in diesem weichen Herzen zu schlummern! Ich muß meine Schwäche eingestehn, daß sie mich schon für ihren Unbekannten eingenommen hat. Ich werde die Gelegenheit finden, ihn aufzusuchen und seine Bekanntschaft zu machen.«

Catharina sagte: »Weissagt in diesem Lallen der Phantasie nicht schon alles Gute und Böse der Zukunft? Kann diese Unschuld nicht einst verderbliche Gefallsucht werden? Hörten wir nicht das Stammeln der Leidenschaft oder das Unglück eines dräuenden Schicksals? Ist es nicht zuweilen das Schönste unsers Gemütes, welches sich mit der Lüge verschwistert? Jenes Gleichgültige, Alltägliche und Langweilige, das alles Wunders entbehrt und von welchem schon jetzt das Kind mit Verachtung sprach, ist denn doch eigentlich nur das Sichre und Gefahrlose. Wie die Anschauung des Schönen und Edlen in uns lebendig wird, so stehn oft auch schadenfrohe böse Geister schon nahe, um uns dem Elend und der Verzweiflung preiszugeben. – Allein, verzeiht, wohin verirrt sich das Geschwätz der Unerfahrenheit sowie des Alters? Sagt mir jetzt, teuerster, verehrter Ohm, was Ihr mir mitteilen wolltet: den Wunsch, dem ich mich, wie Ihr begehrt, nicht zu heftig widersetzen sollte.«

Der Marques sagte hierauf: »Verzeiht, meine verehrte Freundin, wenn ich Euch ersuche, einen Wunsch zu erfüllen, den ich Euch hiemit vortrage. Euch ist, ich weiß es, in der Einsamkeit am wohlsten, aber dennoch ist jetzt eine Veranlassung, die Euch dringend anmahnt, diese auf einige Stunden zu verlassen. In wenigen Tagen ist die Einschiffung des Königes und Heeres, eine Begebenheit und eine so hochwichtige Stunde, auf welche das ganze Land, vorzüglich aber unsre Stadt, mit der größten Spannung hinblickt. Euer Palast, der die Aussicht auf den Hafen hat, ist fast vollendet, die großen Säle und Zimmer, die mit dem Altan in Verbindung stehn, sind geschmückt und mit Tapeten behängt. Es will sich nicht geziemen, daß Ihr Euch an diesem Tage der Nation dem Könige und Adel entzieht. Wenn alle Häuser umher von Menschen wimmeln, allenthalben Glückwünsche tönen, darf Euer Palast an diesem Tage nicht leer und einsam sein. Man würde Euch verkennen und selbst der König vielleicht diese Zurückgezogenheit in einem ganz verkehrten Sinne auslegen. Ihr müßt also Freunde und Bekannte Eures Hauses einladen, und wenn die Zimmer und Altane von Gästen wimmeln, darf die Wirtin des Hauses nicht fehlen. Zwingt Euer Herz, teuerste Frau, und gebt Euch den Bitten Eures Freundes gefangen.«

»Ihr kennt mich genug«, erwiderte sie, »um zu wissen, daß ich Euch etwas so Vernünftiges weder abschlagen will noch kann. Ich weiß es aber auch, daß es für mich ein harter Tag sein wird, alle jene Menschen wieder einmal vor mir zu sehn, die mit boshaftem Herzen nur auf meinen Tod lauern und jede Minute meines kranken Daseins zählen; denn die habsüchtigen Verwandten meines Gemahls sind es, die vorzüglich an jenem Tage eingeladen werden müssen.«

»So ist es«, erwiderte der Marques, »erlaubt mir demnach, daß ich und mein Neffe Ferdinand alles das besorgen, was wir für nötig erachten. Und daß wir uns bestreben werden, Euch so wenige Beschwer als möglich zu machen, seid Ihr von unserer Freundschaft und Ergebenheit versichert.«

 


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