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Der alte Landrichter

Ich kannte noch etliche, und sie waren sich alle darin ähnlich, daß sie auf die Bauern dressiert waren.

Zu der Zeit, wo ihre Rasse rein gezüchtet wurde, hat man die Gerichtsgebäude gegen prozessierende Hintersassen wie gegen Friedensstörer und Eindringlinge verteidigt. Der Gerichtsdiener fuhr ihnen an die Lederhosen, der Aktuarius fletschte gegen sie die Zähne, und Gnaden der Herr Landrichter biß sie.

Ich habe als Heranwachsender zwei wohlerhaltene Exemplare dieser ausgestorbenen Gattung gesehen; sie waren angehende Siebziger und lebten in München in Pension. Der eine hatte in Niederbayern, der andere in der Gegend von Wasserburg amtiert.

An sich waren sie gutmütige alte Herren, die sogar sentimental werden konnten, wenn sie mit meinem Onkel von ihrer Studentenzeit sprachen.

Ich erinnere mich, daß sich der eine von ihnen, der Niederbayer, auf dem Bavariakeller in München mit dem Liede:

Es hatten drei Gesellen
Ein fein Kollegium

in eine tiefe Melancholie sang.

Zuweilen erzählten sie von ihrer Amtszeit, und da war es sonderbar, was die zwei unscheinbaren Männlein für harte, schier grausame Blicke hinter ihren Brillengläsern hervorschießen konnten. Und ein Lächeln, aber kein verzeihendes, sondern ein grimmiges, spielte dem Niederbayern um die Mundwinkel, wenn er von den Fünfundzwanzig sprach, die er nach Markttagen und Kirchweihen seinen Pflegebefohlenen hatte aufmessen lassen.

Der andere redete in mehr getragenem Tone, so wie von guten, alten Mären, von ruhmwürdigen Zeiten, in denen der weidliche Haslinger heilsamen Schrecken verbreitet hatte.

Später, als ich Praktikant an einem Amte war, kamen mir alte, verstaubte Akten unter, in denen ich lieber blätterte als in neuzeitlichen. Da fand ich ein Blatt, aus dem mich das Leben von ehedem unmittelbar ansprach, und das einen solchen Eindruck auf mich machte, daß ich mir den Namen des Angeklagten merkte.

Johann Nepomuk Dostler hieß er und war Landstreicher, der bei wiederholtem Bettel aufgegriffen und dem hohen Landgerichte eingeliefert wurde. Man eröffnete ihm kurzer Hand – so lautete es wörtlich –, daß er fünfundzwanzig Hiebe erhalten würde, und ließ ihn diese Mitteilung unterschriftlich bestätigen.

Johann Nepomuk Dostler, der eine gute Schulbildung genossen zu haben schien, schrieb seinen Namen mit deutlicher, schöner Schrift und hing an den letzten Buchstaben einen zierlichen Schnörkel, fast wie ein bedeutender Mensch, ein Machthaber, eine Autorität. Dann kam auf dem Blatte eine leere Stelle, die eine Pause deutlich machte.

Während dieser Pause spielte sich vermutlich die Amtshandlung im Hofe ab; Johann Nepomuk Dostler lag wohl auf einer hölzernen Bank, und der Gerichtsdiener, ein gedienter Feldwebel, beschrieb mit dem Haslinger Kreise und Schleifen in der Luft, die den Hieb schmerzhafter machten. Es gab darin mancherlei Kunstgriffe. Vielleicht sah der Herr Landrichter Pfeife rauchend aus dem offenen Fenster zu. Ich stelle ihn mir vor wie jenen Niederbayern, klein, mager, mit verkniffenem Gesichte.

Nachher wurde das Protokoll weitergeführt.

Der Rubrikat hatte zu bestätigen, daß er die obig zudiktierten Fünfundzwanzig richtig und vollzählig erhalten habe. Aber wie war die Schrift verändert!

Kein Buchstabe hing mehr mit dem andern zusammen; jeder stand für sich und drückte, bald weit über die Zeile hinausfahrend, bald weit herunterfallend, in zitterigen Krümmungen eine Fülle von Schmerz und Schrecken aus.

Der Schnörkel war ganz weggefallen.

Diese Unterschrift des Geprügelten war eine Anklage, die lebendig blieb, wenn auch der Herr Landrichter und sein Profoß und der Protokollführer und der Rubrikat Johann Nepomuk Dostler und der Haslinger längst zu Staub zerfallen waren.

Diese zitternde Schrift stand da und entriß Dinge, die nicht vergessen werden sollten, der Vergessenheit.

Man hört auch darüber verschiedene Ansichten, und die »andern« sind darum nicht unbegreiflich roh.

Aber sie sind nach meinem Dafürhalten irrig, wenn sie die Prügelstrafe als wirksames Erziehungsmittel empfehlen.

Denn über das Bestehen von Tatsachen kann man keine verschiedenen Meinungen haben, und das ist nun einmal nicht abzuleugnen, daß ehedem die Roheitsvergehen häufiger und die Leute ungebärdiger waren, trotz der Prügelstrafe. Und ob sich durch sie die Landstreicher bessern ließen? Ich glaube es nicht.

Arbeiten ist nichts Äußerliches, das man nach Belieben tun oder lassen kann, und es ist eine Eigenschaft des Charakters. Man kann Arbeitsfreude ererben; sie kann anerzogen und erworben, aber nicht alten Faulenzern eingeprügelt werden.

Ich fürchte, daß mein Johann Nepomuk Dostler nach jenem schmerzlichen Vorfalle noch manchen Ortes die Zuweisung von fünfundzwanzig unterschriftlich bestätigt hat. Mit dem schwungvollen Schnörkel, der ihn als großangelegten Menschen kennzeichnete.

*

Holger Drachmann
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