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13. Kapitel

Sentimentales und anderes

Ich fürchte, der Herr, an den Miss Amelias Briefe gerichtet waren, war ein ziemlich verstockter Kritiker. Leutnant Osborne folgte überall eine solche Menge von Briefchen, daß er sich beinahe der Späße seiner Kameraden darüber schämte und seinem Diener befahl, sie nur in seiner Privatwohnung abzugeben. Es wurde beobachtet, wie er sogar einmal seine Zigarre mit einem solchen Brief anzündete, zum Entsetzen Hauptmann Dobbins, der, wie ich glaube, das Dokument gern mit einer Banknote aufgewogen hätte.

Einige Zeit suchte George die Verbindung geheimzuhalten. Er gab zu, daß eine Frau im Spiel sei. »Bestimmt nicht die erste«, sagte Fähnrich Spooney zu Fähnrich Stubble. »Der Osborne ist ein Teufelskerl. In Demerara wurde eine Richterstochter seinetwegen fast verrückt; dann kam in Sankt Vincent das prachtvolle Quarteronmädchen, Miss Pye, Sie wissen; und seitdem er nach England zurückgekommen ist, soll er ein wahrer Don Juan sein, beim Zeus!«

Stubble und Spooney dachten, daß »beim Zeus, ein wahrer Don Juan« zu sein eine der besten Eigenschaften eines Mannes sei, und Osborne erfreute sich bei den jungen Leuten des Regiments eines ungeheuren Ansehens. Er war ausgezeichnet in allen möglichen Sportarten, er war ein ausgezeichneter Sänger, er war ausgezeichnet bei der Parade und freigebig mit dem Gelde, womit ihn sein Vater reichlich versah. Seine Röcke waren besser gearbeitet als die aller anderen im Regiment, und er hatte mehr davon als alle anderen. Die Soldaten beteten ihn an. Er konnte mehr trinken als alle anderen in der Offiziersmesse, einschließlich des alten Obersten Heavytop. Im Boxen übertraf er selbst Knuckles, den Gemeinen (der Preiskämpfer gewesen war und ohne seine Trunksucht zum Korporal befördert worden wäre); auch war er weitaus der beste Kricketspieler und Kegler des ganzen Regimentsklubs. Bei den Quebec-Rennen ritt er sein eigenes Pferd, den »Geölten Blitz«, und gewann den Garnisonspokal. Außer Amelia gab es noch andere, die ihn verehrten. Stubble und Spooney hielten ihn für eine Art Apollo, Dobbin sah in ihm einen »bewundernswerten Crichton«, und die Majorin O'Dowd bekannte, daß er ein eleganter junger Bursche sei und sie an Fitzjurld Fogarty, Lord Castlefogartys zweiten Sohn, erinnere.

Stubble und Spooney und alle anderen ergingen sich also in höchst romantischen Vermutungen, wer Osborne wohl Briefe schreibe. Sie meinten bald, es sei eine Londoner Herzogin, die sich in ihn verliebt habe, bald, es sei eine Generalstochter, die mit einem anderen verlobt sei, ihn aber rasend liebe, bald, es sei die Frau eines Parlamentsabgeordneten, die ihm eine Entführung im Vierspänner vorschlage, bald, es sei ein anderes Opfer einer für alle Teile reizvollen, aufregenden, romantischen und schmachvollen Leidenschaft. Auf alle diese Vermutungen wollte Osborne nicht das geringste Licht werfen und ließ seine jungen Bewunderer und Freunde ihre ganze Geschichte nach Belieben erfinden und ausspinnen.

Der wirkliche Sachverhalt wäre nie im Regiment bekannt geworden, hätte nicht Hauptmann Dobbin Indiskretion geübt. Eines Tages saß der Hauptmann beim Frühstück in der Offiziersmesse, als der Unterarzt Cackle und die beiden obenerwähnten Ehrenmänner Vermutungen über Osbornes Liebeshandel anstellten. Stubble behauptete, die Dame sei eine Herzogin am Hofe der Königin Charlotte, und Cackle schwor, es sei eine berüchtigte Opernsängerin. Diese Worte erregten Dobbin dermaßen, daß er, den Mund voller Ei und Butterbrot, herausplatzte, obwohl er gar nichts hätte sagen dürfen: »Cackle, Sie sind ein Dummkopf. Immer haben Sie Unsinn und Skandalgeschichten auf Lager. Osborne hat nicht vor, eine Herzogin zu entführen oder eine Putzmacherin unglücklich zu machen. Miss Sedley ist eines der bezauberndsten jungen Mädchen, die es je gegeben hat. Er ist mit ihr schon seit langem verlobt, und wer sie beschimpft, sollte es nicht in meiner Gegenwart tun.« Hier schwieg Dobbin, puterrot geworden, und erstickte beinahe an einer Tasse Tee. In einer halben Stunde wußte das ganze Regiment die Geschichte, und noch am gleichen Abend schrieb die Majorin O'Dowd an ihre Schwägerin Glorvina in O'Dowdstown, sie brauche sich nicht zu beeilen, von Dublin anzureisen, der junge Osborne sei bereits, und leider zu früh, verlobt.

Am Abend beglückwünschte sie den Leutnant in einer angemessenen Rede bei einem Glase Whisky-Toddy, und George ging wütend nach Hause, um mit Dobbin zu streiten, weil er sein Geheimnis verraten hatte. (Dobbin hatte die Einladung der Majorin O'Dowd ausgeschlagen und saß in seinem Zimmer, wo er Flöte spielte und, wie ich glaube, höchst melancholische Verse machte.)

»Wer, beim Satan, hat dich gebeten, von meinen Angelegenheiten zu sprechen?« schrie Osborne zornig. »Warum, zum Teufel, muß das ganze Regiment wissen, daß ich bald heiraten will? Warum muß die geschwätzige alte Vettel, Peggy O'Dowd, an ihrer verdammten Abendtafel meinen Namen im Munde führen und meine Verlobung in allen drei Königreichen austrompeten? Und was für ein Recht hast du überhaupt, zu erzählen, ich sei verlobt, oder dich in meine Angelegenheiten zu mischen, Dobbin?«

»Es scheint mir ...«, fing Hauptmann Dobbin an.

»Zum Henker mit dem, was dir scheint, Dobbin«, unterbrach ihn der Jüngere. »Ich bin dir zu Dank verpflichtet, das weiß ich, und verdammt viel zu gut weiß ich das; aber ich will mir nicht ewig deine Predigten anhören, weil du fünf Jahre älter bist. Ich will verdammt sein, wenn ich mir deine überlegene Miene, dein höllisches Mitleid und dein Beschützergehabe länger gefallen lasse. Mitleid und Schutz! Ich möchte wohl wissen, in welchem Stück du mir über bist!«

»Bist du verlobt?« unterbrach Hauptmann Dobbin.

»Was, zum Teufel, geht es dich oder einen anderen Menschen hier an, ob ich es bin?«

»Schämst du dich deshalb?« fuhr Dobbin fort.

»Welches Recht hast du, mir diese Frage zu stellen? Das möchte ich gern wissen«, rief George.

»Großer Gott, du willst doch damit nicht sagen, daß du mit ihr brechen willst?« fuhr Dobbin auf.

»Mit anderen Worten, du fragst mich, ob ich ein Ehrenmann bin«, erwiderte Osborne grimmig; »willst du das damit sagen? Seit einiger Zeit hast du gegen mich einen solchen Ton angeschlagen, daß ich verdammt sein will, wenn ich es mir noch länger gefallen lasse.«

»Was habe ich denn getan? Ich habe dir bloß gesagt, daß du ein süßes Mädchen vernachlässigst, George. Ich habe dir bloß gesagt, du sollst zu ihr gehen, wenn du in die Stadt fährst, und nicht in die Spielhäuser um Sankt James.«

»Ich nehme an, du willst dein Geld zurückhaben«, sagte George höhnisch.

»Natürlich will ich das – habe es immer gewollt, nicht wahr?« rief Dobbin. »Du redest wie ein besonders Großmütiger.«

»Nein, zum Henker, William, verzeih mir bitte«, fiel ihm George in einem Anflug von Reue ins Wort. »Weiß der Himmel, du hast deine Freundschaft hundertfach bewiesen. Du hast mich schon oft aus heiklen Situationen errettet. Ich weiß, als Crawley von der Leibgarde diese Geldsumme von mir gewann, wäre es ohne dich um mich geschehen gewesen. Aber du solltest nicht so streng gegen mich sein. Du darfst mich nicht immer so schulmeistern. Ich liebe Amelia, ich bete sie an und so weiter. Guck nicht so böse. Ich weiß, sie ist fehlerlos. Aber siehst du, es macht keinen Spaß, etwas zu gewinnen, um das man nicht gespielt hat. Zum Henker! Das Regiment ist ja eben erst aus Westindien zurück, ich muß mich ein bißchen austoben. Wenn ich erst einmal verheiratet bin, will ich mich bestimmt bessern, Ehrenwort. Und – weißt du – Dob – sei mir nicht böse; nächsten Monat bekommst du hundert Pfund von mir, wenn mein Vater mir eine hübsche Summe gibt. Ich will Heavytop um Urlaub bitten und morgen in die Stadt fahren und Amelia besuchen – so, bist du nun zufrieden?«

»Man kann dir niemals lange zürnen, George«, sagte der gutmütige Hauptmann, »und was das Geld betrifft, alter Knabe, so würdest du wohl den letzten Shilling mit mir teilen, wenn ich welches brauchte.«

»Beim Zeus, das würde ich, Dobbin«, erklärte George höchst großmütig, obgleich er, nebenbei gesagt, nie Geld hatte, um etwas abzugeben.

»Ich wünschte nur, du hättest dir die Hörner schon abgelaufen, George. Hättest du das Gesicht der armen kleinen Emmy gesehen, als sie mich neulich nach dir fragte, so hättest du die Billardkugeln zum Teufel geschickt. Geh und tröste sie, du Schurke. Schreib ihr einen langen Brief. Tu etwas, um sie glücklich zu machen, eine Kleinigkeit tut's schon.«

»Ich glaube, sie hat mich verdammt gern«, stellte der Leutnant mit selbstzufriedener Miene fest und entfernte sich, um den Abend mit einigen lustigen Kameraden im Speisesaal zu beschließen.

Amelia am Russell Square blickte unterdessen zum Mond, der auf diesen friedlichen Fleck herabschien und ebenso auf die Chatham-Kaserne, wo Leutnant Osborne einquartiert war, und sie überlegte sich, was ihr Held wohl jetzt gerade tue. Vielleicht visitiert er jetzt die Wachen, dachte sie, vielleicht liegt er im Biwak, vielleicht sitzt er am Lager eines verwundeten Kameraden oder studiert die Kriegskunst droben in seinem einsamen Zimmer. Und ihre freundlichen Gedanken eilten dahin, als seien sie Engel mit Flügeln. Sie flogen am Fluß entlang nach Chatham und Rochester und versuchten in die Kaserne zu dringen, in der George war. Alles in allem war es, glaube ich, ganz gut, daß die Tore geschlossen waren und die Schildwache niemanden einließ, so daß der arme, kleine Engel im weißen Gewande die Lieder nicht hören konnte, die die jungen Burschen dort beim Whiskypunsch grölten.

Am Tag nach der kleinen Meinungsverschiedenheit in der Chatham-Kaserne traf der junge Osborne Anstalten, zur Stadt zu fahren, um zu beweisen, daß er wirklich zu seinem Wort stehe, und Hauptmann Dobbins Beifall blieb nicht aus. »Ich hätte ihr gern ein kleines Geschenk gemacht«, vertraute Osborne seinem Freunde an, »ich habe bloß kein Geld mehr, bis mein Vater mit dem Taschengeld herausrückt.« Dobbin aber wollte nicht, daß Osbornes Gutmütigkeit und Großmut gehemmt werden sollten, und gab ihm daher ein paar Pfundnoten, die er, nach einigem anfänglichen Weigern, auch annahm.

Ich vermute, er hätte für Amelia bestimmt etwas recht Hübsches gekauft, hätte er nicht beim Aussteigen in der Fleet Street in einem Juweliergeschäft eine schöne Busennadel erblickt, deren Anziehungskraft er nicht zu widerstehen vermochte; und als er sie bezahlt hatte, hatte er nur noch wenig Geld übrig, um seiner Großmut freien Lauf zu lassen. Doch es machte nichts, denn wir können uns darauf verlassen, daß es nicht Geschenke waren, die Amelia von ihm erwartete. Als er zum Russell Square kam, leuchtete ihr Gesicht auf, als ob er der Sonnenschein gewesen wäre. Die kleinen Sorgen, Ängste, Tränen, schüchternen Befürchtungen, ruhelosen Einbildungen wer weiß wie vieler Tage und Nächte waren unter dem Einfluß jenes bekannten, unwiderstehlichen Lächelns im Nu vergessen. Er strahlte sie an, als er in der Salontür stand – ein Gott in seiner Pracht und mit seinem ambrosiaduftenden Backenbart. In Sambos Gesicht strahlte ein teilnehmendes Grinsen, als er Hauptmann Osborne meldete (er hatte den jungen Offizier um eine Stufe befördert). Der Diener sah das kleine Mädchen zusammenfahren und errötend von ihrem Beobachtungsposten am Fenster aufspringen und zog sich zurück. Sobald die Tür geschlossen war, flog sie Leutnant George Osborne ans Herz, als ob dieses das einzige richtige Nest für sie wäre. Ach, du armes, unruhiges Seelchen! Der schönste Baum des Waldes mit dem geradesten Stamme, den stärksten Ästen und dem dichtesten Laub, wo du dein Nest bauen und girren willst, kann gezeichnet sein – wofür, weißt du – und bald zu Boden krachen. Was für ein altes, altes Gleichnis ist das zwischen Mensch und Baum!

George küßte sie indessen recht freundlich auf die Stirn und die glänzenden Augen und war recht gnädig und gut, und sie hielt seine diamantene Busennadel (die sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte) für den schönsten Schmuck der Welt.

Der aufmerksame Leser, dem das frühere Benehmen unseres jungen Leutnants nicht entgangen ist und der unsere Berichte von dem kleinen Wortwechsel zwischen ihm und Hauptmann Dobbin noch im Gedächtnis hat, ist wohl zu gewissen Schlüssen hinsichtlich des Charakters von Mr. Osborne gekommen. Ein zynischer Franzose hat einmal gesagt, daß zu einem Liebeshandel zwei gehörten: einer, der liebt, und einer, der sich herabläßt, geliebt zu werden. Gelegentlich ist die Liebe wohl auf seiten des Mannes, andere Male auf seiten der Frau. Vielleicht hat auch schon vorher manch Verliebter Gefühlskälte für Bescheidenheit, Dummheit für jungfräuliche Zurückhaltung, bloße Leere für Schüchternheit und, kurz gesagt, eine Gans für einen Schwan gehalten. Vielleicht hat auch schon die eine oder die andere meiner verehrten Leserinnen einen Esel mit dem Glanze und der Glorie ihrer Phantasie umgeben, seine Stumpfheit als männliche Einfachheit bewundert, seine Selbstsucht als männliche Überlegenheit und ihn so behandelt wie die glänzende Fee Titania einen gewissen Weber aus Athen. Ich glaube solche Komödien der Irrungen in der Welt schon beobachtet zu haben. Sicher ist jedenfalls, daß Amelia ihren Liebhaber für einen der tapfersten und glänzendsten Männer im ganzen englischen Reich hielt; und es ist wohl möglich, daß Leutnant Osborne das gleiche dachte.

Er war etwas wild, aber wie viele andere junge Männer sind es auch! Und lieben die Mädchen einen Schurken nicht mehr als einen Milchbart? Er hatte sich die Hörner noch nicht abgelaufen, aber das mußte doch wohl bald geschehen; auch würde er wohl seinen Abschied nehmen, da jetzt der Friede verkündet war, das korsische Ungeheuer auf Elba festsaß. Mit der Beförderung war es natürlich nun auch vorbei, da sich ihm nun keine Gelegenheit mehr bot, seine unzweifelhaften militärischen Talente und seine Tapferkeit an den Tag zu legen. Sein Geld, zusammen mit Amelias Mitgift, konnten ausreichen, sich auf dem Lande, in der Nähe einer guten Jagd, bequem niederzulassen; da konnte George ein wenig jagen und ein wenig Landwirtschaft betreiben, und sie würden beide sehr glücklich sein. Denn als verheirateter Mann konnte er unmöglich in der Armee bleiben. Man stelle sich einmal Mrs. George Osborne vor, in einem Landstädtchen einquartiert oder, was noch schlimmer wäre, in Ost- oder Westindien, in der Gesellschaft von Offizieren und unter dem Schutz der Majorin O'Dowd. Amelia lachte sich halbtot über die Geschichten, die Osborne von der Majorin O'Dowd erzählte. Er liebte Amelia viel zu sehr, um sie jenem abscheulichen Weib mit ihren Gemeinheiten und dem rauhen Leben einer Soldatenfrau auszusetzen. An sich selbst dachte er nicht, nein. Aber sein liebes kleines Mädchen sollte die Stellung in der Gesellschaft einnehmen, die ihr als seiner Frau zukam. Und wie zu erwarten, stimmte sie diesen Vorschlägen zu, wie sie überhaupt allen Vorschlägen, die von ihm kamen, zustimmen würde.

Bei solcher Unterhaltung brachte das junge Paar einige Stunden sehr angenehm zu und baute Luftschlösser. Amelia schmückte sie mit allerlei Blumengärten, ländlichen Spaziergängen, Dorfkirchen, Sonntagsschulen und dergleichen mehr, während George sein geistiges Auge auf die Stallungen, den Hundezwinger und den Keller gerichtet hatte. Da dem Leutnant nur ein Tag in der Stadt zur Verfügung stand und er noch ungeheuer viele und wichtige Geschäfte zu erledigen hatte, so schlug er vor, daß Miss Emmy bei ihren zukünftigen Schwägerinnen speisen sollte. Die Einladung wurde freudig angenommen. Er begleitete sie zu seinen Schwestern hinüber, wo er sie so gesprächig und plauderlustig zurückließ, daß die Damen ganz erstaunt dachten, George würde vielleicht doch noch etwas aus ihr machen. Dann ging er fort, um seine Geschäfte zu erledigen.

Um es kurz zu machen: Er ging Eis essen in einer Konditorei am Charing Cross, probierte einen neuen Rock in der Pall Mall, sprach im Old Slaughter vor und ließ Hauptmann Cannon rufen, spielte elf Partien Billard mit dem Hauptmann, wovon er acht gewann, und kehrte eine halbe Stunde zu spät fürs Abendessen, aber in vortrefflicher Laune zum Russell Square zurück.

Nicht ganz so verhielt es sich mit dem alten Osborne. Als dieser Herr aus der City nach Hause kam und im Salon von seinen Töchtern und der eleganten Miss Wirt empfangen wurde, sahen diese an seinem Gesicht – das auch in den besten Zeiten aufgeblasen, feierlich und gelb war – sowie an seinem düsteren Blick und dem Zucken seiner schwarzen Augenbrauen, daß ihm das Herz unter der großen weißen Weste unruhig und beklommen schlug. Als Amelia auf ihn zuging, um ihn, wie stets, mit Zittern und Zagen zu begrüßen, gab er als Zeichen des Erkennens ein grämliches Grunzen von sich und ließ die kleine Hand seiner großen, zottigen Pfote entsinken, ohne einen Versuch zu machen, sie festzuhalten. Er sah sich düster nach seiner ältesten Tochter um, sie erfaßte die Bedeutung seines Blickes, der unverkennbar fragte: Was, zum Teufel, will die denn hier?, und sagte schnell:

»George ist in der Stadt, Papa, er ist ins Kriegsministerium gegangen und wird zum Essen wieder hiersein.«

»Ei, ei, tatsächlich? Ich will nicht, daß man mit dem Essen auf ihn wartet, Jane«, und damit sank der würdige Mann in seinen Stuhl, und nun wurde die vollkommene Stille in dem vornehmen, gut eingerichteten Salon nur noch durch das aufgeregte Ticken der großen französischen Uhr unterbrochen.

Als dieses Chronometer, auf dem sich eine heitere Bronzedarstellung der Opferung Iphigenies befand, mit tiefer Kirchenglockenstimme fünf geschlagen hatte, riß Mr. Osborne aus Leibeskräften am Klingelzug zu seiner Rechten, und der Butler stürzte herein.

»Essen!« brüllte Mr. Osborne.

»Mr. George ist noch nicht da, Sir«, entgegnete der Butler.

»Zum Teufel mit Mr. George, Herr! Bin ich hier Herr im Hause? Essen!!« donnerte Mr. Osborne, und sein Blick war dabei ungemein düster. Amelia zitterte. Die drei anderen Damen telegrafierten einander mit den Augen. Die gehorsame Glocke in den unteren Regionen begann das Zeichen zum Essen zu geben. Als das Läuten vorbei war, schob das Familienoberhaupt die Hände in die großen Taschen seines großen blauen Rockes mit den Messingknöpfen und schritt, ohne auf eine weitere Einladung zu warten, allein die Treppe hinab, wobei er die vier Frauen scheel über die Schulter ansah.

»Was ist nun wieder los, meine Teure?« fragten sie einander, als sie aufstanden und behutsam hinter dem Hausherrn hertrippelten. »Vermutlich fallen die Aktien«, flüsterte Miss Wirt, und so folgte die weibliche Gesellschaft zitternd und schweigend ihrem finsteren Führer, und schweigend nahmen sie ihre Plätze ein. Er knurrte einen Segen, der barsch klang wie ein Fluch. Dann wurden die großen silbernen Deckel abgenommen. Amelia zitterte auf ihrem Platz, denn sie saß dem furchtbaren Osborne am nächsten, ganz allein an ihrer Tischseite – die Lücke war durch Georges Abwesenheit entstanden.

»Suppe?« fragte Mr. Osborne mit Grabesstimme, den Schöpflöffel in der Hand, und heftete die Augen auf sie. Nachdem er sie und die übrigen bedient hatte, redete er eine Weile kein Wort.

»Nimm Miss Sedleys Teller weg«, befahl er schließlich. »Sie kann die Suppe nicht essen – und ich auch nicht. Sie ist ganz scheußlich. Nimm die Suppe weg, Hicks, und du, Jane, kannst morgen die Köchin wegschicken.«

Nachdem Mr. Osborne das Thema Suppe beendigt hatte, machte er ein paar kurze, gleichfalls bösartige und satirische Bemerkungen über den Fisch und verwünschte Billingsgate mit einem Nachdruck, der ganz dem Ort entsprach. Dann verfiel er in Schweigen und stürzte mehrere Gläser Wein hinunter, wobei sein Blick ständig furchterregender wurde, bis ein lebhaftes Klopfen an der Haustür Georges Ankunft meldete und alle sich wieder faßten.

Er habe nicht früher kommen können. General Daguilet im Kriegsministerium habe ihn warten lassen. Suppe oder Fisch brauche er nicht unbedingt. Man solle ihm irgend etwas geben – ganz egal was. Prächtiges Hammelfleisch, alles prächtig. Seine gute Laune stand im Gegensatz zu seines Vaters Ernst, und er schwatzte während des Essens unaufhörlich, zur Freude aller und besonders einer, die nicht genannt zu werden braucht.

Sobald die jungen Damen die Orange und das Glas Wein genossen hatten, was gewöhnlich den Abschluß der traurigen Bankette in Mr. Osbornes Haus bildete, wurde das Zeichen zum Absegeln in den Salon gegeben. Alle erhoben sich und gingen davon. Amelia hoffte, George würde sich bald zu ihnen gesellen. Sie begann auf dem großen, lederverkleideten Flügel mit den geschnitzten Beinen droben im Salon einige seiner Lieblingswalzer (die damals ganz neu waren) zu spielen. Aber dieser kleine Kunstgriff brachte ihn nicht hinauf. Er war taub für die Walzer; sie klangen leiser und leiser, und bald verließ die entmutigte Spielerin das riesige Instrument. Obgleich nun ihre drei Freundinnen ein paar sehr laute und brillante neue Stücke aus ihrem Repertoire spielten, so hörte sie doch keine einzige Note, sondern war nachdenklich, Unheil schwante ihr. Der alte Osborne war zwar immer finster und schrecklich, aber noch nie hatte er so tödliche Blicke gegen sie geschleudert. Seine Augen verfolgten sie bis zur Tür, als ob sie etwas verbrochen hätte. Als man ihr den Kaffee reichte, fuhr sie zurück, als ob Mr. Hicks, der Butler, ihr einen Giftbecher anbieten wollte. Welches Geheimnis verbarg sich wohl dahinter? Oh, diese Frauen! Sie hegen und pflegen ihre Ahnungen und hätscheln ihre garstigen Gedanken, wie sie ihre verunstalteten Kinder hätscheln.

Die Düsterkeit im väterlichen Gesicht hatte auch George Osborne ängstlich gemacht. Wie sollte George bei solchen finsteren Augenbrauen und einem so ausgesprochen galligen Blick das Geld aus dem Familienoberhaupt herauslocken, das er so nötig brauchte? Er fing an, seines Vaters Wein zu loben. Das war gewöhnlich ein erfolgreiches Mittel, dem alten Herrn zu schmeicheln.

»Wir haben in Westindien nie so guten Madeira bekommen, Vater, wie deinen. Oberst Heavytop hat sich neulich drei Flaschen von dem, den du mir geschickt hast, zu Gemüte geführt.«

»Wirklich?« fragte der alte Herr. »Die Flasche kostet mich acht Shilling.«

»Willst du sechs Guineen für ein Dutzend Flaschen haben?« fragte George lachend. »Einer der größten Männer des Königreiches möchte gern welchen davon.«

»Wirklich?« brummte der Alte. »Hoffentlich bekommt er welchen.«

»Als General Daguilet in Chatham war, gab ihm Heavytop ein Frühstück und bat mich um einige Flaschen von dem Wein. Dem General schmeckte er ebenso gut; er wollte sogar ein Faß für den Oberbefehlshaber haben. Er ist die rechte Hand Seiner Königlichen Hoheit.«

»Es ist wirklich verteufelt guter Wein«, sagten die Augenbrauen und sahen schon etwas besser gelaunt aus. George wollte gerade aus dem Wohlbehagen seines Vaters Nutzen ziehen und die Geldfrage aufs Tapet bringen, als der Alte ihn in seinem vorherigen feierlichen Ton, wenn auch nicht ohne Herzlichkeit, bat, zu läuten und Rotwein kommen zu lassen. »Und wir wollen sehen, George, ob der so gut ist wie der Madeira, von dem ich Seiner Königlichen Hoheit sicher etwas abgeben werde. Während wir ihn dann trinken, will ich mit dir eine Sache von Wichtigkeit besprechen.«

Amelia hörte oben nervös die Rotweinglocke läuten. Dieser Klang schien ihr irgendwie mysteriös und ahnungsvoll zu sein. Manche Leute haben stets Ahnungen, und einige davon müssen sich schließlich auch einmal erfüllen.

»Was ich wissen wollte, George«, sagte der alte Herr, nachdem er sein erstes Glas geleert hatte, »was ich wissen wollte, wie stehst du mit dem – hm – dem kleinen Ding da oben?«

»Ich denke, Sir, das ist nicht schwer zu sehen«, sagte George mit selbstzufriedenem Grinsen. »Ziemlich klar, Sir – was für ein prächtiger Wein!«

»Was meinst du mit ziemlich klar?«

»Hach, zum Henker, dring doch nicht so in mich. Ich bin ein bescheidener Mensch. Ich – nun ja – ich will mich nicht gerade als Herzensbrecher aufspielen, aber ich muß doch zugeben, daß sie so höllisch verliebt in mich ist wie nur möglich. Das sieht doch ein Blinder.«

»Und du selbst?«

»Wieso, hast du mir nicht befohlen, sie zu heiraten, und bin ich nicht ein gehorsamer Sohn? Haben nicht unsere Papas die Sache schon vor ewigen Zeiten abgemacht?«

»Ja, ja, ein schöner Sohn. Habe ich nicht von deinen Machenschaften mit Lord Tarquin, Hauptmann Crawley von der Leibgarde, dem ehrenwerten Mr. Deuceace und Leuten solchen Schlages gehört? Nimm dich in acht, Junge, nimm dich in acht!«

Der alte Herr ließ diese aristokratischen Namen auf der Zunge zerfließen. Sooft er einem großen Namen begegnete, kroch er vor ihm und schmeichelte ihm, wie nur ein frei geborener Brite es fertigbringt. Er ging nach Hause und schlug im Adelskalender nach, um Näheres über ihn zu erfahren; ständig führte er seinen Namen im Munde, prahlte mit Seiner Lordschaft seinen Töchtern gegenüber. Er lag vor ihm auf den Knien und wärmte sich an seinem Anblick wie ein neapolitanischer Bettler an der Sonne. George wurde unruhig, als er die Namen hörte. Er fürchtete, sein Vater könnte von gewissen Spielgeschichten unterrichtet worden sein. Allein der alte Moralist beruhigte ihn, als er heiter sagte:

»Nun ja, junge Leute sind eben junge Leute. Es tröstet mich, George, daß du in der besten Gesellschaft Englands verkehrst, wie ich hoffe und glaube und wie meine Mittel es dir gestatten.«

»Ich danke dir, Vater«, sagte George und benutzte den günstigen Augenblick, »aber man kann mit so hohen Personen nicht umsonst verkehren; sieh dir meinen Geldbeutel an.« Bei diesen Worten hielt er seine Börse, ein selbstgearbeitetes Geschenk von Amelia, in die Höhe, die die letzte Pfundnote von Dobbin enthielt.

»Es soll dir an nichts fehlen, mein Junge, dem Sohn des britischen Kaufmanns soll es an nichts fehlen. Meine Guineen sind so gut wie ihre, George, mein Junge, und ich gebe sie dir gern. Geh morgen, wenn du in die City kommst, bei Mr. Chopper vorbei; er wird was für dich haben. Ich bin nicht kleinlich mit dem Geld, wenn ich weiß, du bist in guter Gesellschaft, weil ich weiß, in guter Gesellschaft kann es nie schiefgehen. Ich bin nicht stolz. Ich bin von niedriger Abstammung, aber du hast in diesem Punkt bedeutende Vorteile. Mache einen guten Gebrauch davon. Misch dich unter den jungen Adel. Es gibt darunter viele, die deiner Guinee keinen Dollar entgegensetzen können, mein Junge. Und was die Weiberhüte betrifft« – hier drang ein schlaues, unangenehmes Blinzeln unter den starken Augenbrauen hervor –, »so sind Burschen nun einmal Burschen. Aber eins mußt du meiden, das sage ich dir, und wenn du das nicht tust, so erhältst du, beim Zeus, von mir keinen Shilling mehr: Ich meine das Spielen.«

»Oh, natürlich, Sir«, sagte George.

»Um aber auf die andere Angelegenheit, auf Amelia, zurückzukommen: Warum solltest du nicht etwas Besseres als eine Börsenmaklerstochter heiraten, George? Das möchte ich wissen.«

»Das ist doch Familiengeschäft, Sir«, sagte George, während er Haselnüsse knackte. »Du und Mr. Sedley, ihr habt doch die Sache schon vor hundert Jahren abgesprochen.«

»Das leugne ich nicht, aber die Stellung der Menschen kann sich ändern, mein Lieber. Ich leugne es nicht, daß Sedley mein Glück gemacht hat oder, richtiger, daß er mich in die Lage gesetzt hat, dank meiner eigenen Talente und Anlagen die stolze Position zu gewinnen, die ich, ich kann es wohl sagen, im Talghandel und in der City von London einnehme. Ich habe Sedley meine Dankbarkeit bewiesen, und er hat sie in der letzten Zeit sehr in Anspruch genommen, wie man aus meinem Scheckbuch ersehen kann. George, ich sage dir im Vertrauen, Mr. Sedleys Geschäfte gefallen mir nicht. Auch meinem Hauptbuchhalter, Mr. Chopper, wollen sie nicht recht gefallen, und der ist ein alter Fuchs und kennt die Börse wie keiner in London. Hulker und Bullock sind auch mißtrauisch. Ich befürchte, er hat sich auf eigene Gefahr in dumme Sachen eingelassen. Man sagt, die ›Jeune Amelie‹, die von der ›Molasses‹ der Yankees gekapert worden ist, habe ihm gehört. Eins ist klar: Solange ich nicht Amelias zehntausend Pfund gesehen habe, heiratest du sie mir nicht. Ich will nicht in meiner Familie die Tochter eines verkrachten Spekulanten haben. Reich mir mal den Wein, Junge, oder klingle lieber nach dem Kaffee.«

Mit diesen Worten entfaltete Mr. Osborne die Abendzeitung, und George erkannte an diesem Zeichen, daß die Unterredung nun zu Ende sei und daß Papa ein Schläfchen machen wolle.

In bester Laune rannte er die Treppe hinauf zu Amelia. Wieso war er an jenem Abend so aufmerksam gegen sie wie schon lange nicht, so eifrig, sie zu unterhalten, so zärtlich, so glänzend im Gespräch? Schlug sein großmütiges Herz in der Voraussicht auf kommendes Unglück wärmer für sie? Oder schätzte er seine kleine, liebe Beute höher bei dem Gedanken, sie verlieren zu können?

Viele Tage noch zehrte Amelia von den Erinnerungen an jenen glücklichen Abend, sie entsann sich seiner Worte, seiner Blicke, des Liedes, das er gesungen hatte, seiner Haltung, als er sich über sie beugte oder sie aus der Ferne ansah. Ihr schien noch nie ein Abend in Mr. Osbornes Haus so rasch verstrichen zu sein, und diesmal war das junge Mädchen fast versucht, ärgerlich zu werden, als Mr. Sambo allzufrüh mit ihrem Schal auftauchte.

Am nächsten Morgen kam George und nahm zärtlich von ihr Abschied; dann eilte er in die City, wo er bei Mr. Chopper, dem Hauptbuchhalter seines Vaters, vorsprach. Von diesem Herrn erhielt er ein Dokument, das er bei Hulker und Bullock gegen eine ganze Tasche voll Geld tauschte. Als George das Haus betrat, kam der alte John Sedley gerade mit unglücklicher Miene aus dem Besuchszimmer des Bankiers. Sein Patensohn aber war viel zu froher Stimmung, um die Niedergeschlagenheit des würdigen Börsenmaklers oder die trostlosen Blicke, die der gute alte Herr ihm zuwarf, zu bemerken.

Der junge Bullock war dieses Mal auch nicht, wie in früheren Jahren, lächelnd mit ihm aus dem Besuchszimmer gekommen. Und als die Tür von Hulker, Bullock und Co. sich hinter Mr. Sedly schloß, winkte Mr. Quill, der Kassierer, dessen angenehme Aufgabe es war, knisternde Banknoten aus einer Schublade zu ziehen und mit einer Kupferschaufel Sovereigns auszuteilen, Mr. Driver, dem Kontoristen am rechten Pulte, zu. Mr. Driver winkte zurück.

»Geht nicht«, flüsterte Mr. Driver.

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Mr. Quill. »Mr. George Osborne, wie hätten Sie es gern?« Und George stopfte sich eifrig eine Anzahl Banknoten in die Tasche und bezahlte Dobbin noch am gleichen Abend fünfzig Pfund in der Offiziersmesse.

Am gleichen Abend schrieb ihm Amelia den zärtlichsten aller langen Briefe. Ihr Herz strömte über vor Zärtlichkeit, aber dennoch ahnte es Böses. Warum sah Mr. Osborne so finster aus? fragte sie. Hatte es zwischen ihm und ihrem Papa Streit gegeben? Ihr armer Papa kam so melancholisch aus der City zurück, daß daheim alle ängstlich wurden – kurz, es waren vier Seiten voller Liebe, Befürchtungen, Hoffnungen und Ahnungen.

»Die arme kleine Emmy – die gute kleine Emmy! Wie liebt sie mich doch«, sagte George, als er den Brief las. »Ach, mein Gott, was für Kopfschmerzen hat mir doch der gemixte Punsch gebracht!« Wirklich, arme kleine Emmy!


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