Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIX.

Als Rudolf an jenem Nachmittag das Raneggsche Haus verließ, verfolgte ihn Cajetanes Bild und Stimme. Ihre Worte klangen ihm nach, und was er heraushörte, erweckte einen Verdacht in ihm: sollte sie etwa die anonyme Briefschreiberin sein?

Nun, ein Grund mehr, dieses Haus fortan zu meiden ... Noch einmal an diese Kreise durch neue Bande sich fesseln zu lassen, sich abermals mit Leuten von so verschiedenen Lebensinteressen und Lebensauffassungen verschwägern? – nein, das wollte er nicht. Cajetane war ein liebes Ding und, wie es schien, etwas verbrannt in ihn, daher auch das momentane Bewundern seiner Taten und Schriften; wie bald aber würde, wenn die erste Schwärmerei abgekühlt, wieder das alte Naturell zum Vorschein kommen, und wie würde sie dann versuchen, geradeso wie es Beatrix getan, ihn von seinen »Extravaganzen« abzubringen und in den Schutz des alleinseligmachenden Aristokratismus zurückzuführen.

Und er selber: der Kampf, den er aufgenommen, füllte seine Seele vollständig aus. Füllte sie mit Sorgen, Ärger, Sehnsucht, Hoffen, – kurz, mit einer großen Leidenschaft. Daneben war nicht Platz für Herzens- oder gar Heiratsangelegenheiten. Höchstens – er war ja doch ein junger Mann – später einmal für kleine galante Zerstreuungen; aber auch daran dachte er gegenwärtig nicht.

Er schlenderte über den Ring dahin. Der Abend war schon hereingebrochen. In den Auslagefenstern funkelten die Gas- und elektrischen Flammen. Kunsthandlung, Blumenhandlung, Fahrradhandlung, Schmuckhandlung – eine neben der anderen zeigte ihre Reichtümer und ihre Lebensgenußlockungen. Vor einem erzherzoglichen Palais, dessen erste Etage in Licht strahlte, hielt eine Reihe von Equipagen – offenbar war großes Diner ... Aus dem Grand-Hotel, an dem er jetzt vorüberging, drang eine Musikwoge – nun ja, zur Table d'hôte spielte ein Orchester –; ein junges Paar in Reisekostüm kam eben unter dem Tor hervor und schritt – von Portier und Hoteldirektor begleitet, zu einem mit eleganten Koffern und Taschen bepackten Wagen: »Zum Orientexpreß – Kutscher – schnell –«

Hier freilich sah die Welt aus, wie die beste aller Welten, hier hatte man nach Reformen kein Verlangen ... Mit plötzlichem Entschluß winkte Rudolf einem Fiaker. Er wollte ein ganz verschiedenes Stück des hauptstädtischen Lebens anschauen – lernen, beobachten, Erfahrung und Anfeuerung suchen zu seiner Aufgabe.

»Wohin, Euer Gnaden?« fragte der Kutscher.

»Weit in die Vorstadt hinaus – irgend eine Vorstadt, nahe bei der Linie – zu irgend einem Gasthaus –«

»Was für ein Gasthaus?«

»Wo es gerade Volkssänger, oder lieber noch: wo es eben eine Versammlung gibt oder ähnliches ...«

»Ich versteh', Euer Gnaden, zufällig is in Margarethen draußen, beim »Goldenen Apfel«, heut Siegesfeier oder so was politisches. Is das recht?« »Ganz recht – fahren wir zum »Goldenen Apfel«.«

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor dem Wirtshaus, ein unansehnliches, nur stockhohes Gebäude.

Der Kutscher öffnete den Schlag:

»Hier sein mer, Euer Gnaden – da ist der Eingang.« Er zeigte auf eine Tür im beleuchteten Erdgeschoß. »Gut. Warten Sie da.«

Es war ein mit Bierdunst und Zigarrenrauch gefüllter Raum, den Rudolf jetzt betrat, ein länglicher, niedriger Saal. Ungefähr zwanzig besetzte kleine Tische und im Hintergrund eine lange Tafel, um die dichtgedrängt etwa dreißig Männer saßen. Nur einer davon stand mit hochgehobenem Glase: »In diesem Sinne –« also der Schluß eines Toastes, und die Tafelrunde brachte ein sogenanntes »donnerndes Hoch« aus.

In der Nähe dieses Ehrentisches war an einem kleinen Tischchen noch ein Platz frei. Hier ließ sich Rudolf nieder und bestellte ein »Krügel« Bier. Erstaunte Blicke – von Gästen und Kellnern – streiften ihn, denn seine Erscheinung paßte wenig zu der gewohnten Kundschaft des Lokals. Diese bestand – nicht aus Arbeitern, sondern aus allerlei Gewerbetreibenden und »Hausherren« vom Grund: Pfaidler, Selcher, Fleischer – behäbige Kleinbürger, sich selber ungeheuer wichtig dünkende Wähler.

Es war richtig so wie der Fiaker es gesagt: eine politische Siegesfeier. Der Kandidat der anwesenden Stimmenabgeber war gegen einen »liberalen« Gegenkandidaten mit großer Majorität durchgedrungen. Jetzt war der kleine Mann gerettet und die Korruption überwunden und der Glaube der Väter befestigt und was die Konsequenzen eines solchen Wahlsieges mehr sind.

Alles dies hörte Rudolf aus den einzelnen Sätzen heraus, die aus der allgemeinen Unterhaltung zu ihm herüberdrangen. Das ganze untermengt mit boshaftgemeinen Brocken und Schmähausrufen, wie: »Na, wir wollen's ihnen zeigen«, »Blutaussaugerpack«, »Mir sein mir und lassen uns nix g'fallen«, »Außa mit die tiafen Tön«. An Rudolfs Tischchen saßen zwei junge Männer von widerlichem Aussehen; der eine fahl und mager, der andere feist und blaurot im Gesicht; gekleidet schienen sie in »von Herrschaften abgelegte« Anzüge, mit verknitterten Hemden und lose gebundenen schmutzigen Krawatten. Die beiden unterhielten sich miteinander, aber nicht über Politik, sondern über verschiedene Malis und Resis und Mizzis, deren Feschigkeit und »harbe Reize« sie einander rühmten. Sie gehörten aber auch zu der Gesellschaft der Ehrentafel, denn als der vorige Toast beendet war, hatten sie mit ihren Klügeln hinübergewunken »Prosit, Spezi«.

Ein großer Ekel schnürte Rudolfs Kehle zu. Das also sind die Stoffe, aus denen die Landesgesetzgebung gebraut wird – Leute von solchem Bildungsgrad, tief unter Null – von solcher Gesinnungsroheit ... die gehören zum Räderwerk der Maschine, die eines großen Reiches Geschicke webt!

Zu diesem moralischen Ekel gesellte sich der physische. Die Burschen pafften an Virginia-Stummeln und spukten alle Augenblicke auf den Fußboden; wenn sie ihre Biergläser zu den Lippen führten, sah man wie ungewaschen ihre Hände und wie niemals geputzt ihre abgebissenen Nägel waren. – Glückliche Zustände, menschenwürdiges Dasein für alle? – Jawohl, das ist das Ziel, dazu gehört aber auch, daß würdige Menschen herangezogen werden – moralisch und physisch reine Menschen. Anders ausgedrückt: schön hat ein Geschlecht zu sein, das glücklich zu werden verdient – mehr noch: um glücklich werden zu können ... Aus solchen Gedanken wurde Rudolf durch ein lautes »Meine Herren« gerissen, das der Mann auf dem Ehrenplatz der Tafel, offenbar der Gefeierte des Abends, ausstieß, indem er mit dem Messer an sein Glas klopfte und sich erhob, zum Zeichen, daß er reden wolle.

»Bravo, bravo!« riefen die andern und verstummten dann mit erwartungsvollen Mienen.

»Meine Herren, oder vielmehr, meine Freunde (Bravo!), meine verehrten Kampfgenossen! Ich bin mir bewußt, voll und ganz bewußt, welche Pflichten mir mein Sieg, den ich Ihnen, den ich Ihrer Gesinnungstreue danke ... mein Sieg mir auferlegt und diese Pflichten, das gelobe ich ... will ich ausführen – unentwegt, voll und ganz (Bravo!). Ohne Furcht und ohne Scheu werde ich die Mängel aufdecken ... und die Halunken entlarven die – die abscheulichen Halunken, welche – welche –«

»Na ja, nieder mit die Juden!« kam einer dem Redner zu Hilfe.

»Ja – ich werde das Mandat unserer christlichen Bevölkerung hochhalten und zeigen, daß die verfolgten, zurückgesetzten Christen wieder ihre Rechte geltend machen ... und daß das urgemütliche, urehrliche und urlustige Wienertum ... das goldene Wienerherz – kurz unsere alten kaisertreuen, gottesfürchtigen und doch so kreuzfidelen Gesinnungen sich – wie soll ich sagen – von den Einflüssen der – oder vielmehr den Aufdringlichkeiten einer spekulativen Rasse von Parasiten mit voller Kraft – das heißt mit kraftvoller Entschiedenheit stets und immer und überall schützen, befreien, kurz –«

»Kurz davonjagen, die Juden«, resümierte wieder die Aushilfsstimme.

»Davonjagen, davonjagen«, riefen nun alle im Takt und applaudierten frenetisch.

Da hielt es Rudolf nicht länger aus. Er sprang auf und trat an den Tisch.

»Meine Herren« – seine Stimme klang fest – »auch ich bin ein Wiener Wähler und bin auch schon selber Kandidat gewesen – mein Name ist – doch der Name tut nichts zur Sache. Wollen Sie mir gestatten, ein Wort zu sagen?«

»Wer san mer denn?« »A schöner Herr.« – »Hoffentlich a Spezi.« – »No, so reden S'« tönte es von verschiedenen Seiten.

»Ich bin kein Spezi, wenn Sie darunter einen Gesinnungsgenossen verstehen. Aber da Sie« – er wandte sich an den Gefeierten – »im Abgeordnetenhaus auch Gegner finden werden, so werden Sie es wohl vertragen, daß einer Ihnen hier entgegentrete.« »Also a Liberaler, o je!« rief der Angeredete. »Aber nur heraus mit der Sprach.« Und er nahm eine parlamentarische Haltung an, indem er die Hand in den Westenausschnitt schob.

»Ein Liberaler?« wiederholte Rudolf. »Ich weiß nicht recht, was Sie unter dieser Bezeichnung verstehen. Einfach als Mensch möchte ich sagen, daß es im tiefsten Grade traurig ist, wenn eine Parole des Hasses und der Verfolgung den Ausgangs- und Zielpunkt einer politischen Aktion darstellt –«

»Oho«, rief jemand. »Se san wohl selber a Jud.«

»Zufällig nicht –«

»Nachher a Judenknecht, a bezahlter. Da haben's hier nix zu schaffen, in einer G'sellschaft von redliche Antisemiten. – Schauen's daß weiter kommen.«

Rudolf verschränkte die Arme. Er war totenbleich, aber nicht vor Angst, sondern vor innerer Empörung.

»Gut«, sagte er, »ich versetze mich einen Augenblick an Ihre Stelle. Sie sind Antisemiten. Der Titel ist ja sehr gut getragen. Nicht nur unter einfachen Bürgersleuten wie Sie, auch in hohen und höchsten Kreisen ist die Sorte vertreten, und auch Gelehrte und Professoren verteidigen diese Anschauung von allerlei ethnographischen und nationalökonomischen Standpunkten, aber Sie, Sie bringen, wie ich sehe, nur ihr Temperament mit – nur so ein Stückchen gesunden Haß und Verachtung – bitte sagen Sie mir also, wie wollen Sie Ihr Programm ausführen? Was soll denn mit den Juden geschehen?«

»Was mit ihnen g'schehen soll? Nach Palästina jagen oder umbringen kann man's leider nit. Aber verhindern kann man's, daß Richter oder Lehrer werd'n – nix kaufen soll man in die jüdischen G'schäft – und wenn mögli, die Güter von die Reichen – von die Rothschilds und dergleichen – einziehn. Und kan Umgang mit ihnen haben – auch mit die Getauften nit –«

Ein anderer fiel jetzt ein, der Grimmigsten einer:

»Ich möcht schon mittun, wenn sich a Jud taufen läßt – sowie der heilige Johannes es tan hat – ihn ganz eintauchen – dann aber sein Kopf so lang unterm Wasser tauchen, bis er dersauft.« Das hübsche Scherzwort erregte beifälliges Gelächter.

Rudolf hatte sich dem Festtische mit der Absicht genähert gehabt, mit ein paar aus seiner inneren Bewegung quellenden Worten etwas Aufklärendes über die Pflichten und Ziele von Volksvertretern zu sagen, – zu demonstrieren, daß durch Haß und Verfolgung nichts Ersprießliches geleistet werden könne; an Herz und Vernunft hatte er appellieren wollen und zeigen, wie diese beiden, wenn in den Dienst der Mitbürger gestellt, diesen zu moralischer und materieller Erhebung verhelfen können. Aber nach dem, was er jetzt gehört, sah er ein, daß eine solche Sprache hier ebenso wenig verständlich wäre, wie etwa eine griechische Ode vor einem Trupp von Irokesen, und er verzichtete auf jeden weiteren Versuch, mit den Anwesenden zu diskutieren. Nur nach einem Worte suchte er, das seiner ganzen Entrüstung über den wahrgenommenen barbarischen Tiefstand Luft machte – aber er fand es nicht.

»No, is der Herr jetzt paff? Sieht er ein, daß man gegen so stramme Parteileut' wie wir, nit aufkommen kann – daß wir für unser christliches Volk einstehen werden, gegen alle Juden und Judenliberalen, sowie gegen alle Freimaurer und Sozi. Unser altes Wien, mit sein' goldenen Herz, mit sein' frommen Sinn, darf uns von die Eindringlinge und ihre Knecht' nit verschandelt werd'n: No, sagt der Herr noch immer nix?«

»Ich sage, daß ich Sie ebenso tief bedauere, als – verachte.« Und er wollte sich zum Gehen wenden. Aber da brach ein Sturm los. Alle sprangen von ihren Sitzen auf, Schimpfworte flogen durcheinander, worunter der Ruf »Jud, Jud« am häufigsten erscholl, weil er in solcher Mitte als die gehässigste Beschuldigung gemeint ist. Einer warf seinen Bierkrug nach Rudolfs Kopf, doch ohne ihn zu treffen. Zwei Leute – die Burschen, an deren Tisch er vorhin gesessen – packten ihn an den Schultern, und, während nunmehr der ganze Saal in den Schrei: »Außi, außi, werft's in außi« ausbrach, wurde der Überwältigte zum Ausgang gedrängt und so unsanft herausbefördert, daß er auf das Pflaster fiel. Hinter ihm schlugen die Exzedenten die Tür wieder zu.

Die Straße war leer; nur der Fiaker stand da. Erschrocken sprang der Kutscher herbei und half seinem Fahrgast vom Boden auf.

»Jessas, Maria und Josef, Euer Gnaden, haben's Ihnen weh tan?«

»Nichts, nichts ...« wehrte Rudolf ab. »Fahren wir wieder auf den Ring zurück.« Und er stieg ein. Im Wagen bemerkte er, daß er an einer Stirnwunde blutete.

Es war aber nur ein Ritzer. Am folgenden Tage spürte er nichts mehr davon. Aber eine andere Wunde hatte ihm der Vorfall geschlagen. Eine tiefe Verletzung seines Glaubens an die Menschheit.


 << zurück weiter >>