Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XVI.

Martha an Graf Kolnos.

Brunnhof, Mitte Juni 1891: Lieber Freund!

Zufällig habe ich Ihren jetzigen Aufenthalt und Ihre Adresse erfahren. Sie sind schon auf dem Rückweg und kommen wohl bald hier an. Nach anderthalbjähriger Abwesenheit!

Sie wissen nicht, was inzwischen geschehen. In meinem Hause hat sich Trauriges – furchtbar Trauriges zugetragen. Und Sie sollen es zuerst durch mich erfahren – daher schreibe ich Ihnen. Sie sind mein Freund und Rudolfs Freund – Ihrer Teilnahme bin ich sicher.

Der Tod ist bei uns eingebrochen. Zweimal. Zuerst mein Enkelkind – Friedrich. Zwei Tage nur war der arme Kleine krank. Ein harter Schlag für uns alle. Was mit solchen Kindern stirbt, ist nicht nur das gegenwärtige liebe herzige Wesen selber – es sind die ganzen Träume, die man für die Zukunft geträumt ... Der Erbe des Dotzkyschen Majorats, der Nachfolger meines Sohnes, wäre er nicht auch geistig sein Nachfolger geworden und hätte das Werk weitergeführt, das Rudolfs Lebensaufgabe ist? Und alles das durch ein paar Konvulsionen des kleinen Körperchens aus der Zukunft weggewischt!

Rudolf war sehr unglücklich. Beatrix, die eben einer zweiten Niederkunft entgegensah, war ganz verzweifelt. Und jetzt kam der zweite Schlag. Eine Fehlgeburt und – auch Beatrix ist tot.

Sie können sich meines Sohnes Schmerz wohl vorstellen. Er hatte sein Weibchen unendlich lieb – sie war auch ein gutes, liebes, hübsches Geschöpf ... er beweint sie innig. Diese beiden, so kurz auf einander folgenden Verluste haben ihn ganz schwermütig gemacht.

Er wird sich wieder aufraffen. Sein Alles war ihm Beatrix nicht. Er ist jung, ich sehe die Zeit kommen, da er sich eine neue Häuslichkeit gründen wird. Aber als ich ihm neulich so etwas sagte, wehrte er heftig ab.

So, nun wissen Sie, mein alter Freund, daß Sie in uns ein paar recht gedrückte, traurige Leute wiederfinden. Mein holdes Enkelkind, daß den so teueren Namen Friedrich trug – war mir gar fest ans Herz gewachsen ... Der Tod, der Tod ... wie wandelt der doch so grausam unter uns herum und knickt die Blüten unseres Glücks ... Was mir unter seiner Sense gefallen – ich denke immer noch an 1871 – das hat mich eigentlich gegen seine Hiebe abgehärtet. Damals war es nicht einmal sein Hieb, nicht er hat ausgeholt – menschliche Barbarei hat ihm die Sense geführt. Ist ja ein viel zu schwaches, leistungsunfähiges Instrument, diese Sense ... einfach nur für Handarbeit zu brauchen; – das menschliche Ingenium hilft da auch, mit bei Krupp und Konsorten fabrizierten Mähmaschinen. O über die bodenlos wilde Unvernunft, Krieg genannt – die muß niedergekämpft werden ... Wieder zu meiner fixen Idee abgeschweift? Das sind Sie ja an mir gewohnt, teurer Freund. In den feierlichen Stunden der großen Freude und besonders der großen Leiden flüchtet jede Seele zu dem, was ihr als Höchstes gilt.

Sie werden bei Ihrer Rückkunft Rudolf nicht antreffen. Er ist auf einer vom Arzt verordneten Reise – zur Zerstreuung, zur Ablenkung, sagte Doktor Bresser – ach, ich fürchte, er hat seinen Kummer als Reisegefährten mitgenommen. Sylvia finden Sie noch in Wien. Auch Sylvia macht mir Sorge – das erzähle ich Ihnen mündlich. Ich bin allein in Brunnhof. Vielleicht besuchen Sie mich.«

Auf der in einen Garten umgewandelten Terrasse eines Berner Hotels saß Rudolf Dotzky und blickte nachdenklich auf das von der. Abendsonne überstrahlte Alpenpanorama.

Um ihn herum war reges Leben. Zahlreiche Hotelgäste saßen um kleine Tische, andere gingen plaudernd auf und nieder oder lehnten an der Balustrade – eine bunte Gesellschaft aus aller Herren Länder. Rudolf, der seit einer Woche hier weilte, hatte mit niemand Bekanntschaft angeknüpft. Er war auf Reisen gegangen, um eine Zeitlang einsam zu sein, und einsam war er auch geblieben. Er hatte nun, eine nach der andern, fast alle Städte der Schweiz besucht und Bern sollte die letzte Etappe vor seiner Heimfahrt sein.

Angeblich war der Zweck seiner Reise Zerstreuung gewesen, aber was er gefunden hatte, war vielmehr das Gegenteil – war Sammlung. Ein Gedanke, der ihm den Kopf durchkreuzt an dem Tage, da er die Gruft verließ, in die man die Särge seiner Frau und seines Sohnes versenkt hatte – dieser Gedanke hatte ihn während seiner Reise nicht mehr losgelassen und war allmählich zum Entschluß gereift: dem Majorat entsagen.

Frei sein, ganz frei sein, nicht mehr zweien Herren dienen müssen, oder gar dreien: Familie, Ranggenossen und Menschheit. Nein, fortan nur mehr den einen Dienst: den Menschheitsdienst. Frei für die Zukunft, und frei von den Fesseln der Vergangenheit.

Frei? ... Als ob bei der bestehenden Ordnung irgend ein Mann sich frei nennen dürfte! Mit dem Worte wird lächerlich großgetan. Rudolf wußte ganz gut, welche Fesseln ihn noch banden und die abzustreifen es überhaupt keine Möglichkeit gab. Er war ja – wie jeder gesunde Bürger im Militärstaat – Soldat. Zwar nur achtundzwanzig Tage im Jahre, aber immerhin – Soldat. Und im Kriegsfall jederzeit verpflichtet, einzurücken. »Verpflichtet« ist da auch nicht der ganz passende Ausdruck – unter Pflichterfüllung denkt man sich eine als recht erkannte, freiwillig ausgeübte Tat. »Gezwungen« wäre das richtige Wort. Man hat ja keine Wahl – man muß. Und mag man den Militärdienst aus was immer für Gründen hassen – man muß ihn verrichten. Auf Verweigerung steht Gefängnis und Tod. Und da wagt man, von mehr oder minder ausgedehnten Freiheiten zu reden? Leibeigenschaft und Sklaverei: das war einstens das Los eines Teils der Bevölkerungen; heute, in den Ländern der allgemeinen Wehrpflicht, ist es das Los aller.

Aber was von Fesseln abzustreifen möglich war, das wollte er tun. Dem Majorat entsagen. Mit einem Ruck wäre da die ganze Last der Verwaltungs- und Repräsentations- und sonstiger Pflichten abgewälzt, die ihm seine bisherige Stellung auferlegt und ihn gehindert hatten, sich ganz seiner großen Lebensaufgabe hinzugeben – der Aufgabe nämlich, ein Lehrer, ein Kämpfer, ein Apostel zu sein. Mit Schrift und Wort wollte er seinen Mitmenschen das neue Gesellschaftsideal vor die Seele führen. Das, was er schon verstand, wollte er den anderen verständlich machen und zu dem, was ihm und den anderen noch zu erforschen blieb, wenigstens den Weg weisen. Man kann nicht gleich gefunden haben – erst muß man überhaupt suchen lernen.

Dem Majorat entsagen ... es war kein kleiner Entschluß. Aber er empfand ihn nicht als etwas Schweres – eher als etwas Erleichterndes. Als abgeworfenen Ballast zum Höherfliegen. »Unser ganzes Kunststück besteht darin«, sagte Goethe, »daß wir unsere (bornierte) Existenz aufgeben, um (in erhöhter Weise) zu existieren.«

Es blieb ihm übrigens genug Vermögen, um sorgenlos leben und bequem reisen zu können. Die großen Einkünfte, die das Dotzkysche Majorat abwarf, die gingen ohnehin für die mit dem Besitz verbundenen Verwaltungs- und Repräsentationskosten auf: Der Dienertroß, die gefüllten Pferdeställe, die zur Institution gewordenen gastlichen Veranstaltungen usw. Der Reichtum, dem er entsagte, hätte doch niemals zur Förderung seiner Zwecke dienen können, im Gegenteil: ihn nur physisch und moralisch an deren Erreichung gehindert. Physisch, indem er seine Zeit und Kraft in Anspruch nahm; moralisch, indem es unmöglich ist, sich für soziale Umwälzungen, für Abschaffung mittelalterlicher Zustände einzusetzen, wenn man seine eigene Existenz auf eine so feudale Einrichtung aufbaut, wie einen Fideikommißbesitz.

Hätte Rudolf das gleich große Vermögen als frei verfügbares Privateigentum besessen, dann würde er nicht darauf verzichtet haben, denn dann hätte er es in einer zu seinen Plänen und Anschauungen passenden Art verwenden können: z. B. zur Gründung von Volksbibliotheken, von einem großen Blatte und ähnlichen Dingen. Aber ein Vermögen, das unverkürzt und unversehrt für den nächsten Anwärter erhalten bleiben mußte – das konnte ihn in seinem Wirken nicht fördern – nur hemmen.

Daß der geplante Schritt in seinen Kreisen Ärgernis geben und bei allen Standesgenossen – mit Ausnahme des begünstigten Vetters – Tadel erfahren würde, darauf war er wohl gefaßt. Die Bemerkungen konnte er schon hören, die darüber fallen würden: »Immer ein überspannter Kopf gewesen, dieser Dotzky ... Mir war er immer unheimlich ... Im Grunde ist es nicht nur zu dumm – es ist ein Verrat an seinen Standespflichten. – Statt den Platz auszufüllen, auf den ihn sein Geschick gestellt hat, in die Welt hinauslaufen und revolutionäre Doktrinen predigen, wie der erste beste Demagogenführer – eine wahre Schande!« und was die Variationen des alten »Kreuziget ihn!« mehr sind.

Übrigens: Revolution zu predigen, war gar nicht seine Absicht. Man würde es nur so deuten – auf falsche Deutungen allenthalben war er überhaupt gefaßt. Die einzige Person, bei welcher er überzeugt war, volles Verständnis und Beifall zu finden, war seine Mutter. Nächster Tage wollte er ihr schreiben. Seinen Aufenthalt in der Schweiz beabsichtigte er noch zwei oder drei Monate auszudehnen. Hier konnte er in aller Ruhe und Abgeschiedenheit die Arbeit vollenden, die er – wie es Egidy mit seinen »Ernsten Gedanken« getan – in die Welt schicken wollte, ehe er mit dem gesprochenen Wort, in eigener Person hinausginge, das Geschriebene zu vertreten und zu verbreiten. Ehrgeiz war es nicht, was ihn trieb – Frömmigkeit war es. Das Bewußtsein, eine höchste Pflicht erfüllen zu müssen, durch deren Erfüllung man sich selber heiligt und anderen zum Heile verhilft, das ist es, was alle tieffrommen Seelen erfüllt, was zum Beispiel einen Franz von Assisi bewegte, aus einem reichen Lebemann zum Asketen zu werden. Solche Dotationen sind nicht immer natürliche Anlage; sie erwachen oft – wie dies ja auch beim Stifter des Franziskanerordens zutraf – nach einem in ganz anderer Richtung geführten Lebenswandel. Rudolf hatte zwar seit seiner Kindheit die Idee in sich getragen, daß er die von seinem Stiefvater hinterlassene Aufgabe einst werde übernehmen müssen, aber ganz durchdrungen davon war er lange nicht gewesen. Er sah die Ausführung immer nur wie eine Zukunftssache vor sich, während die Gegenwart ihm mit hundert anderen Interessen erfüllt war. Erst nach und nach, infolge gewisser Studien und durch die Berührung mit gewissen vom Aposteltum durchglühten Zeitgenossen, erfaßte auch ihn ein immer heftiger werdender Drang, sich dem ganz hinzugeben, was ihm zur Religion geworden; hinauszugehen und zu predigen, was sein Glaube war, und zu bekämpfen, was ihm als verdammenswerte Ketzerei erschien. Andachtsvoll, hingebend, voll begeisterter Liebe, voll Ehrfurcht für das Göttliche, das ihm vorschwebte, voll Abscheu gegen das Böse, Gemeine und Jammervolle, das die Umwelt ihm noch an allen Ecken und Enden zeigte, das war nunmehr die Verfassung seiner Seele; – dieselbe Verfassung also, die man – wenn auch mit Bezug auf eine andre Glaubenswelt – mit dem Ausdruck Frömmigkeit zu bezeichnen pflegt. Dieselbe Frömmigkeit, die auch Marthas Seele durchglühte.

In tiefes Nachdenken versunken saß er da. Doch war es kein Denken in klaren Worten oder deutlichen Bildern, sondern mehr in Empfindungen. Nicht verkettete Ideen, sondern verkettete Gefühle, aneinander gereihte, ineinander verschlungene Bewußtseinsphasen.

Eben war die Table d'hôte, an der er niemals teilnahm, zu Ende, und ein Trupp von Hotelgästen kam aus dem auf die Terrasse mündenden Speisesaal herausgeflutet. Die meisten ließen sich in einer – dem Platze, wo Rudolf saß, gegenüberliegenden glasbedeckten Veranda nieder und ließen sich dort schwarzen Kaffee und Liköre servieren. Eine große amerikanische Gesellschaft war darunter, meist junge Leute beiderlei Geschlechts, und unter diesen ging es ziemlich lustig und lärmend zu. Aus der offenen Tür des Salons drang glänzendes Klavierspiel herüber – offenbar war es ein Künstler, der sich ans Instrument gesetzt. Alles das unterbrach Rudolfs Meditationen, riß ihn aus seiner Vorstellungswelt heraus. Hier war ein Stückchen wirkliche Welt, ein Stückchen lebendige Gegenwart, im Gegensatz zu seinen Zukunftsträumen, das heißt zu seinen Kampfplänen um eine bessere Zukunft. Die Leute da schienen die gegenwärtige Stunde gut zu finden und kein besseres morgen zu ersehnen. – – Waren sie nicht vielleicht die Klügeren? Ihrer war die Wirklichkeit, in dieser fanden sie sich zurecht, in ihr hatten sie sich's wohlig und bequem gemacht ... Alle Pläne und Kämpfe der Unzufriedenen gehen doch nur dahin, eine Zukunft zu schaffen, in der Leute leben werden – andere Leute als die, welche heute die Erde bevölkern – und für die jene ferne Zeit wieder eine Gegenwart sein wird, in der sie es sich bequem machen sollen. – –

Rudolf stand auf. Der Platz war ihm zu lärmend und zu belebt geworden; er wollte seine Gedanken in der Einsamkeit weiter denken. Wenn sein Sinn nach dem großen Ziele: »für die Menschheit wirken« gerichtet war, so störte ihn nichts so sehr darin, als der Anblick vieler Menschen. Nur in wenigen Exemplaren oder in der Abstraktion vermochte er die Menschheit zu lieben; wo er eine Menge versammelt sah, fühlte er sich durch vieles angewidert und abgestoßen: durch die Mehrzahl der häßlichen Gesichter, der unebenmäßigen Gestalten, die kreischenden Stimmen, die kleinliche Geschäftigkeit, die blöde Unbekümmertheit, die schale Geschwätzigkeit: – verdiente es diese Menge, daß man ihretwegen sich sorgte und sich opferte? ... Aber es genügte ihm, von den Leuten wegzuschauen, um wieder in der Vorstellung den Gesamtbegiiff Menschheit und die Bilder einzelner herrlicher Menschenkinder wachzurufen, und damit zugleich den Wunsch, die Massen von Unglück und Elend befreit zu sehen und den einzelnen – auch sich selber – ein immer höher und schöner entfaltetes Leben zu erobern.

»Graf Dotzky!« rief plötzlich eine bekannte Frauenstimme.

Rudolf blickte auf. Gräfin Ranegg und ihre Tochter Cajetane standen vor ihm.

»Oh – meine Damen, welche Überraschung!« rief er. Alle abstrakten Gedanken und Bilder waren verflogen; die wirkliche Welt, seine Welt, war mit einem Male wieder vor ihm aufgetaucht.

»Ich bin nicht überrascht, Sie hier zu treffen«, sagte die Gräfin. »Durch Ihre Mutter wußte ich, daß Sie in Bern sind.«

»Und Sie?« ...

»Wir machen eine kleine Tournee durch die Schweiz ... heute früh sind wir hier angekommen und wollen heute wieder weiterfahren. Sie bleiben wohl noch längere Zeit fort von zu Hause? ... Sie haben ja recht ... ach, es war so schrecklich –«

Gräfin Ranegg hatte Dotzky seit seinem Verluste nicht gesehen und sie legte jetzt in ihren Ton das ganze scheue Beileidsgefühl, das einen überkommt, wenn man Menschen begegnet, die man zuletzt glücklich gesehen und die unterdessen von einem schweren Schlag betroffen worden.

Cajetane, die stumm blieb, drückte das gleiche Gefühl in Blick und Miene aus. Ihre schönen schwarzen Augen waren voll und traurig auf Dotzky gerichtet, – so traurig, daß es beinahe wie zärtlich war. Der junge Mann empfand diesen Blick, als wäre er ein mildes Streicheln. Er hatte Cajetane immer nur heiter gesehen, voll des harmlosesten jugendlichen Frohsinns – und dieser völlig neue Hauch des Schmerzes auf ihren Zügen ließ sie ihm noch schöner erscheinen als sonst.

Ihre letzten Worte hatte Gräfin Ranegg mit einem Händedruck begleitet und darauf reichte auch Cajetane die Hand hin, um mit dieser Gebärde und innigem Druck zu bekräftigen, was ihre Augen sprachen.

Rudolf war sich bewußt, daß die beiden Frauen sein Unglück für größer hielten, als er es empfand; sie glaubten wohl, daß er verloren hatte, was sein Höchstes und Einzigstes war, daß jetzt kein anderer Gedanke ihn erfüllte, als der an seine Beraubung.

Die drei ließen sich nun an dem Tischchen nieder, an dem Rudolf vorhin gesessen hatte. Gräfin Ranegg sprach in teilnahmsvollem Tone weiter über das Ereignis, über den Schrecken, den ihr die Nachricht verursacht und fragte um Einzelheiten. Da sie aber bemerkte, daß Rudolf nur einsilbig und widerstrebend Antwort gab, so wendete sie das Gespräch auf andere Dinge und erzählte von sich und den Ihren:

Schloß Ranegg war augenblicklich verwaist. Christine, die inzwischen geheiratet hatte, war mit ihrem Mann, einem Gesandtschaftsattaché, gegenwärtig in Konstantinopel; die Zwillinge, Ella und Bella, waren auf Besuch bei einer Tante in Böhmen; Ranegg begleitete den Kaiser auf einem Jagdausflug nach Tirol; die beiden Söhne waren in Wien. Der jüngere besuchte da die Kriegsschule – auch ihm stand eine rasche, glänzende Karriere bevor. Der ältere hatte sich verlobt mit der Tochter eines ungarischen Magnaten ... »ein wunderschönes Mädel – und eine Herrschaft von fünftausend Joch als Mitgift ... das verdirbt nichts – aber er wird weiter dienen – der Erzherzog ... Sie wissen ja, er ist der Adjutant des Erzherzogs Wilhelm und sein großer Liebling – der würde es ihm sehr übel nehmen, wenn er quittierte; das wollte er auch gar nicht, er ist ja mit Leib und Seele Soldat.«

»Eine glückliche Familie«, sagte Dotzky.

»Eigentlich ja, das sind wir«, gab Gräfin Ranegg zu. »Und umsomehr tut es mir leid, lieber Dotzky, daß Sie das Schicksal so grausam heimgesucht hat ... Aber es hat doch jeder seine Sorgen«, fügte sie in weinerlichem Tone hinzu. »So macht mir das Leiden meiner armen Mutter viel Kummer – und mein Schwager Hallstein muß jetzt operiert werden – und so verschiedenes andere ...« Es war, als wollte sie seinen Neid dämpfen.

Rudolf war aber nicht neidig. Er konnte sich gar nicht mehr in die Lage jener hineindenken, deren Freuden und Leiden ganz auf die eigenen und nächstliegenden Schicksale und Verhältnisse beschränkt waren, die nichts wußten von der großen Unruhe, der großen Sehnsucht, den großen Kämpfen, die eine mit den Lebensrätseln und sozialen Rätseln ringende Seele bewegen ... Noch am selben Abend reisten die beiden Damen weiter und Dotzky brachte sie zur Bahn. Cajetane war die ganze Zeit sehr schweigsam gewesen. Aber wenn sie ein paar Worte gesagt, so hatte in ihrer Stimme stets verhaltenes Mitgefühl gebebt. Als Mutter und Tochter vom Waggon aus dem Grafen Dotzky, der grüßend vor dessen Fenstern stand, Abschied gewinkt und der Zug sich in Bewegung setzte, da sank Cajetane in die Kissen zurück und brach in Tränen aus.

Die Gräfin sah sie überrascht an:

»Was hast Du, Caji? Ich glaube gar, der junge Witwer hat es Dir angetan ...«


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