Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XXVI.

Rudolf war vom Musikvereinssaal direkt nach Hause gefahren, ohne auch nur mit seiner Mutter gesprochen zu haben. Er sehnte sich danach, allein zu sein und auszuruhen.

Die Sache hatte ihn heftiger aufgeregt als er sich's vorgestellt. Beim Auftreten war er ganz ruhig gewesen; als aber während des Sprechens ihm zweierlei klar wurde: nämlich, daß ihm die Macht fehlte, alles so zu sagen, wie er wollte, und daß, was er sagte, teils nicht verstanden, teils mit zwar schweigendem, aber feindseligem Widerspruch aufgenommen wurde, da hatte sich seiner eine Aufregung bemächtigt, die peinlich und bitter war – so bitter, daß ihm davon in der Tat ein bitterer Geschmack im Gaumen blieb.

Im Bette warf er sich hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Er versuchte, sich zu erinnern, was er gesprochen, und korrigierte daran herum: dies und jenes hätte er sagen sollen. Dabei verlor er aber immer wieder den Faden und mußte von vorn anfangen.

Erst gegen Morgen verfiel er in einen fieberhaften Schlummer und als er um halb neun Uhr erwachte, fühlte er heftigen Kopfschmerz. Das gewohnte kalte Bad erfrischte ihn.

Auf dem Frühstückstisch fand er die Zeitungen. Natürlich galt sein erster Blick den Berichten über den gestrigen Abend. Nicht ob Lob oder Tadel darin enthalten war, interessierte ihn, sondern ob der Inhalt seiner Rede in einem guten Auszuge wiedergegeben, ob sein Gedankengang, wennschon nicht vom Publikum, so doch von den anwesenden Journalisten richtig aufgefaßt worden war.

Das war nicht der Fall. Einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Phrasen; mitunter auch ganz entstellte Zitate und als eigenen Kommentar dazu die unter herablassendem Lob versteckte Andeutung, daß man es mit einem wohlmeinenden, aber die rauhen Wirklichkeiten des Lebens ignorierenden Idealisten zu tun habe. In solchen Wendungen hat das Wort Idealismus den Klang von Unvernunft. Die ernsten Praktiker haben nur ein gerührtes Lächeln dafür.

Ein einziges Blatt brachte einen richtigen, die wichtigsten Punkte hervorhebenden Auszug und fügte ein begeistertes » habemus prophetam« hinzu.

Neben den Zeitungen lag auch ein Briefchen in der gewissen verstellten Handschrift der Unbekannten. Es war vom vorigen Abend datiert:

»Ich bin überwältigt. Als Sie das Podium betraten, war mir, als drehe sich der Saal um mich herum; alle Lichter tanzten – ich war in eine andere Welt entrückt. Da stand ein Mann, der entsagungs- und begeisterungsvoll für eine edle Sache – die Sache des Menschheitsglücks – seine Person einsetzt ... So gibt es also doch noch Größe in der Welt, – gibt es Menschen, die über die Massen der Alltagsleute hinausragen – und dabei so viel Kraft und Zauber haben. Rudolf Dotzky, ich danke Ihnen, daß Sie mir geoffenbart haben, was dem Leben Wert und Adel gibt, ich danke Ihnen, daß Sie sind, Rudolf Dotzky!«

Das Briefchen war, wie seine Vorgänger, ohne Unterschrift.

Rudolf war noch kaum mit der eingegangenen Post fertig, als seine Mutter bei ihm eintrat. Er sprang auf und eilte ihr entgegen.

»Störe ich Dich, liebes Kind? ... Du bist mir gestern entkommen – und ich muß doch über Deinen Vortrag mit Dir reden.«

»Es ist wahr – ich habe gestern die Flucht ergriffen – ich war so unzufrieden mit mir und den anderen ... bitte, setz' Dich ... Hier die Blätter – die sind auch nicht zufrieden ...

»Hab' ich schon gelesen und mich geärgert. Die haben Dich nicht verstanden –«

»Und Du – welchen Eindruck hattest Du?«

»Lach' mich nicht aus, Rudolf, aber ich war so sehr »Mutter des Debütanten« – d. h. so von Lampenfieber geschüttelt, daß ich zu gar keinem ruhigen Urteil kam.«

»Also sogar für Dich war der arme Teufel auf dem Podium – der doch nur im Dienste einer Sache – Deiner Sache dort oben stand, einfach ein – wie soll ich sagen? – ein Konzertredner ... Als solcher habe ich allerdings nicht reüssiert, das fühlte ich gleich.«

»Nein – kein Konzertredner – ein Kämpfer stand dort oben. So drückte sich Kolnos aus. Der hat Dich verstanden.

»Ja, ja, man wird nur immer von solchen richtig aufgefaßt, die ohnehin gleicher Meinung sind. Aber die anderen hinzureißen – und darauf kommt es doch an ...«

»Hinreißen? Ich meine: überzeugen, darauf käme es an. Auch das ist eine schwere Sache, die nicht mit einem Male gelingen kann. Es ist schon viel getan, wenn es gelingt, Gleichgesinnte in ihrer Gesinnung zu bestärken. Darum – weißt Du – ich hätte lieber gesehen, wenn Du Deine Kraft in den Dienst einer abgegrenzten Bewegung gestellt hättest, dieselbe, die in meinen roten Heften –«

»Du meinst, wenn ich als Mitarbeiter und Redner mich an den Friedenskongressen beteiligt hätte?«

»Allerdings – da hättest Du Gleichgesinnte bestärken und auch nach außen hin besser wirken können, auf einem bestimmten Gebiet. Das Allumfassende verliert sich ins Weite: qui trop embrasse, mal étreint. Du willst doch als Lehrer auftreten? Also trage den schwachen Schülerköpfen auf einmal doch nur einen Gegenstand vor; versuche nicht – besonders wenn Analphabeten darunter sind, sie in einer Unterrichtsstunde zu Enzyklopädisten zu machen.«

Rudolf wiegte lächelnd den Kopf:

»Deine Kritik, liebste Mutter, ist noch strenger als die der Herren Berichterstatter.« In den nächsten Tagen erhielt Rudolf wieder Briefe von der anonymen Anbeterin; dazu noch andere Epistel verschiedener entzückter Zuhörerinnen, die ihn – ganz wie dies gefeierten Schauspielern und Sängern zu geschehen pflegt – um Autogramme baten, oder gar zum Stelldichein bestellten. Ferner Anfragen von auswärtigen Vereinen, ob nicht im Laufe der Wintersaison ein Vortrag zu erlangen wäre.

Er antwortete bejahend; er wollte so oft als möglich sprechen. Obwohl ihm die erste Probe einen so bitteren Nachgeschmack gelassen, so sehnte er sich danach, wieder und immer wieder dem lauschenden Volke mitzuteilen, was er als Heilswahrheit empfand, und durch unermüdlich wiederholte Predigt dahin zu wirken, daß die Zahl der Einsichtigen sich mehre, welche helfen sollten, den Eintritt einer lichteren Ära zu beschleunigen. Und wenn es eine Kunst war, durch das gesprochene Wort die Menge zu überzeugen, zu trösten, aufzurütteln, mitzuziehen, nun so würde er, durch die beiden unentbehrlichen Gehilfen jeder Kunst – Fleiß und Übung – vielleicht auch zur Meisterschaft gelangen. Dann ein Herrscher sein, um besser dienen zu können. Denn einzig um den Dienst der Sache war ihm zu tun. Und um die Erfüllung des eigenen Gewissensgebots. Auch eine Art Kampfgier war in ihm erwacht – ein zorniger Drang, aller gleißnerischen Niedertracht die Maske abzureißen; ein Drang, der Gesellschaft ins Gesicht zu sagen, wie viel bodenlos Dummes und bodenlos Böses er hinter ihren hochmütigsten und umschmeicheltesten Leuten und Dingen sah. Freilich ist durch Gesetze dafür gesorgt, daß niemand alles sagen kann, was er denkt. Gegen Verächtlichmachung sind manche Dinge und Leute geschützt, denen es nicht verwehrt ist, verächtlich zu sein und Verächtliches zu tun.

Rudolfs Auftreten als öffentlicher Redner hatte in Wien nicht das Aufsehen erregt, das seine Freunde und er selber davon erwartet hatten. Denn abgesehen von dem, was er gesprochen, wäre es ja doch jedenfalls als ein Sensationsereignis zu betrachten gewesen, daß ein Mann in seiner Stellung so auftrat – und man hätte doch – wie es Achtungserfolge gibt – auf einen Staunenserfolg rechnen können. Neunzig Hundertstel der Einwohnerschaft hatten das Ereignis einfach nicht bemerkt, und jener Bruchteil, der den Vortrag gehört oder darüber gelesen, war davon nicht erschüttert. Die Anwesenden erzählten wohl ihren Bekannten, daß sie dabei gewesen, was aber der Inhalt des Vortrags war, hätten die wenigsten erzählen können und die begnügten sich, ein summarisches Urteil abzugeben – meist sehr von oben herab.

Zufällig hatte Rudolf Gelegenheit, ein Gespräch über seinen Vortrag zu belauschen. Es war in dem von Künstlern und Literaten viel besuchten Kaffeehaus an der Ecke der Kärthnerstraße und Wallfischgasse. Er war hineingegangen, um ein paar ausländische Blätter zu sehen und setzte sich an ein Fenster. Um einen Nebentisch, der er den Rücken kehrte, saßen ein paar junge Schriftsteller, die sich über ihre neuesten ultramodernen Arbeiten unterhielten.

Nach einer Weile aber stockte das Gespräch. Da ließ einer, ein ungefähr neunzehnjähriger Jüngling mit einer Froschphysiognomie, die Bemerkung fallen:

»Ich war am vorigen Sonntag im Musikvereinssaal –«

»Ach ja – der Dotzky«, fiel ein anderer ein. »Nun, wie war's?«

»Furchtbar vieux jeu, alte Leier – Leitartikelstil – Kanzelgeist im Journalistendeutsch. Hervorkehrung überwundener Standpunkte. Wichtigtuende Naivität. Segensgesten mit der Don-Quixote-Lanze, die bekannte Idealmeierei. Fortschritt, Freiheit, Menschenliebe, allgemeiner Wohlstand – mit einem Wort, Quatsch. Der gute Mann hat keine Ahnung von der Umwertung der Werte, er weiß nichts vom Adel des Herrenmenschen, der vor allem dem Gebote folgen muß: »Werde hart.« Der wird kein Überwinder sein. Was er eigentlich will, weiß ich nicht weiß er vermutlich selbst nicht. Soviel ist sicher: davon weiß er nichts, daß des modernen Menschen einziges Ziel sein soll: eine Individualität sein und – sich ausleben.«

Rudolf zögerte. Sollte er sich umwenden und der Tischgesellschaft sich vorstellen? Dem überlegenen Individuum – das sich auslebte – eine kleine Verlegenheit bereiten und dann seinen Standpunkt behaupten?

Er widerstand der Versuchung und lauschte weiter. Man sprach nicht länger von ihm, sondern knüpfte an das Gesagte an, um über Nietzsche zu dissertieren, und langte bald wieder bei den eigenen Angelegenheiten an, der geplanten Herausgabe einer »ultravioletten Revue«. Das interessierte Rudolf weniger. Er zahlte und ging. Er schlenderte über die Ringstraße, in Nachdenken versunken. Was er da gehört hatte, summte ihm im Kopfe nach. Besonders das Wort Überwinder.

Wodurch wird das Überwinden gar so sehr erschwert? – Dadurch, daß die Arbeit derer, die etwas überwinden wollen, lange vor ihrer Vollendung von jenen unterbrochen wird, die ihrerseits die Überwinder zum Gegenstand der Überwindung machen wollen. Da bemühte sich z. B. eine junge naturalistische Schule, den verlogen gewordenen Idealismus zu verdrängen; und noch war sie in voller Gärung, noch hatte sie ihre Meisterwerke nicht hervorgebracht, so war schon eine neue romantische Schule daran, den Naturalismus für überwunden zu erklären. Das erste, was manche Leute von einer neuen wissenschaftlichen Theorie erfahren, ist, daß man sie schon längst widerlegt und abgetan hat. Verbreitet wird sie viel später als abgeurteilt. Und nun gar der große Kampf, dem Rudolf sich angeschlossen hatte: die Überwindung der jahrtausendsten Institutionen menschlicher Unfreiheit, ein Kampf, der kaum erst begonnen hat, und zu seiner Austragung der rastlosen und kraftvollen Anstrengung mehrerer Generationen bedürfen wird – der soll auch schon als veraltete Philisterei belächelt werden? ... Wahrlich, Schlagworte wechseln heutzutage schneller als Hutmoden. Man darf sich ja – in der geistigen jeunesse dorée – gar nicht mehr sehen lassen mit einem vorjährigen Ideal! Erst dann läßt sich wieder damit hervortreten, wenn es eine Zeitlang »überwunden« gewesen, und die Reihe an die Überwinder kommt, ihrerseits »vieux jeu« zu werden. In immer rascherem Tempo spielt sich dieses Hin und Her ab, dieses Altwerden des Neuen und Wiederneuwerden des Alten – mit Hinzukommen von wirklich noch nie dagewesenen Begriffen und Dingen. Man müßte dabei ganz haltlos, schwindlig und rasend werden, wenn es nicht ein paar feste, ruhige Punkte gäbe, – einiges, das unter all diesem Wirbelnden, Flüchtigen, Aufblitzenden und Untertauchenden als das Ewigragende erscheint ... Zum Beispiel – Rudolf suchte nach solchen Ewigkeitsbegriffen – zum Beispiel: Liebe, Güte. Er mußte unwillkürlich lächeln: Da bin ich ja wieder mitten drin in der – wie sagte doch der hartgesottene Auslebe-Jüngling – alten Idealsmeierei.

Ein Vorübereilender stieß an ihn an. Da hob er den Kopf und bemerkte, daß er sich vor dem Tor des von der Familie Ranegg bewohnten Hauses befand.

Dem Impulse, hier einen Besuch abzustatten, folgte er rasch.

»Die Frau Gräfin zu Hause?« fragte er den Portier.

»Zu dienen, gräfliche Gnaden«, antwortete der Mann und gab das Glockenzeichen.

Oben ließ ihn der Diener ohne vorherige Meldung in den Salon ein. Gräfin Ranegg und ihre Töchter Cajetane und Christine saßen um einen in einer Salonecke stehenden runden Tisch, auf dessen Mitte eine schirmbedeckte Lampe brannte, und der mit Büchern, Arbeitskörben und Schreibmaterial bedeckt war.

Als Rudolf eintrat, erhoben sich alle drei Stimmen, um ihn zu begrüßen; es schien ihm, als wäre unter den Ausrufen: »Ah, Sie? – Ah, Graf Dotzky – Das ist schön!« auch ein leiser Schrei ausgestoßen worden. War denn sein Besuch gar so überraschend? Sonst war er ja ein häufiger Gast in diesem Hause gewesen und diesen gemütlichen runden Tisch kannte er ganz gut, um welchen die Raneggschen Damen in den Nachmittagsstunden zu sitzen pflegten, mit Lektüre, Handarbeiten und Korrespondenz beschäftigt. War er denn, seit seinem Auftreten, ein gar so exotisches Geschöpf geworden, daß sein Erscheinen erschreckte, wie das des steinernen Gastes?

Die Gräfin aber reichte ihm mit sichtlicher Freude die Hand.

»Setzen Sie sich her zu uns, Graf Rudi ... Es ist wirklich schön von Ihnen, daß Sie bei Ihren neuen, großartigen – (sie suchte nach einem passenden Ausdruck, fand aber keinen) hm, Sachen die alten Freunde nicht vergessen.«

»Ach, meine großartigen Sachen«, antwortete Rudolf lächelnd, indem er sich setzte, »werden wohl viele alte Freunde mir entfremden, nicht mich ihnen.«

Er blickte Cajetane an und war erstaunt, sie so blaß zu sehen, blaß bis in die Lippen.

»Ich war am Sonntag verhindert, Sie anzuhören«, sagte die Gräfin – »aber die Caji war dort mit den Blaskowitz' – sie war ganz entzückt.«

Jetzt war das Gesicht des jungen Mädchens mit Purpur übergossen.

Rudolf schüttelte den Kopf.

»Entzückt? Das Wort scheint kaum zu passen. Die Frage ist: waren Sie einverstanden?«

Cajetane nickte.

»Ja«, sagte sie leise und fügte hinzu: »Neue Horizonte haben sich mir eröffnet ... es war schön.«

Rudolf ergriff ihre Hand:

»Danke, Gräfin ... Das ist das erste Beifallswort, das mich erfreut. Ja, darum handelt es sich: neue Horizonte – die sollen der Gemeinde aufgehen, wenn der Prediger von einem gelobten Lande spricht.«

»Prediger?« fiel Christine ein. »Hören Sie, Graf Rudi, so heilig fassen Sie nicht alle Ihre Zuhörer auf. Ich kenne mehrere, die nennen Sie Agitator.«

»Beweger? Auch kein schlechter Name. Ich wollte, ich könnte die Menschen aufrütteln.«

»Nehmen Sie mir's nicht übel«, sagte die alte Gräfin, »aber vom Rütteln bin ich keine Freundin.«

»Das weiß ich, Exzellenzfrau.«

»Sie wollen sagen, daß ich so konservativ bin, weil ich die Frau eines Geheimen Rates bin? O nein – sondern überhaupt ... es ist doch nicht gemütlich, wenn der Boden, auf dem man steht, zum Zittern, die Säulen, an die man sich lehnt, zum Wanken gebracht werden, nicht wahr?«

»Wo jetzt der Ring steht, da stand noch vor vierzig Jahren die Bastei. Hätte niemand an den Basteimauern rütteln dürfen, so wäre hier nicht Ihr schönes Haus erbaut worden –«

»Ist das aber ein Grund, um mir mein Haus gutwillig zerstören zu lassen? Das können Sie doch nicht von mir verlangen?«

»Nein, das kann ich nicht verlangen. Sehe ich aber wirklich danach aus, als ob das meine Absicht wäre? Wie man doch immer die stillen Aufbauer, die an Stelle des Verfallenden neues Material herschaffen wollen, mit gewalttätigen Zerstörern verwechselt! Was ich bringen wollte, ist ein bißchen Licht, ein bißchen Liebe –«

»Verzeihen Sie, lieber Dotzky, das sind doch keine neuen Sachen. Haben wir nicht Licht genug in der Offenbarung und Liebe genug in unserer schönen Religion? Wenn die Leute nur wirklich fromm wären, aber leider sind sie's zu wenig von Natur und werden dann auch noch irre gemacht von allen den sogenannten Aufklärern.«

»Womit Sie mich meinen?«

»Ach, nur nicht streiten!« rief Christine.

Cajetane seufzte. Ihr war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, offenbar peinlich und darum beeilte sich Rudolf, es abzulenken, indem er sich um das Befinden der Söhne Ranegg erkundigte.

»O, es geht ihnen prächtig ... die Kriegsschule glänzend absolviert ...« Auf dieses Thema gebracht, sprudelte die Rede der Gräfin in vergnügtester Weise weiter. Von den frohen Nachrichten über die militärischen Erfolge ihrer Söhne ging sie zum Schicksal ihrer verheirateten Tochter über und da gab's auch nur Erfreuliches zu berichten: Familienzuwachs, eine Erbschaft, interessante Reisen – kurz ein rosa in rosa gemaltes Bild des Lebens.

Und in dieser Art Leben – so flog der Gedanke durch Rudolfs Sinn – hätte ich meinen Platz bewahren können: Sorgenlosigkeit, Familienfreuden, genußreiche Erlebnisse ... und statt dessen – –

»Und hören Sie,« fuhr die Gräfin fort, »ich will Ihnen etwas anvertrauen ... in wenigen Tagen soll's ja doch offiziell –«

»Aber Mama!« unterbrach Christine.

»Schad't nichts – eine Woche lang wird der Rudi schon schweigen. Also: meine Christine hier ist auch glückliche Braut – Otto Weissenberg –«

»Der älteste Sohn des Fürsten Franz Weissenberg? – o, ich gratuliere, das ist ja eine der glänzendsten Partien des Landes – und dabei ein lieber, hübscher Mensch – ich freue mich herzlich.« Und er schüttelte Christinens Hand. »Jetzt aber ist die Reihe an Ihnen, Gräfin Cajetane –«

»O, an der wäre eigentlich zuerst die Reihe gewesen, da sie unsere älteste ist, aber sie ist ein eigensinniges Mädel.«

Cajetane machte eine unwillige Bewegung und stand auf.

Jetzt kamen einige andere Besucher. Es waren zumeist Leute, die Rudolf kannte. In den allgemeinen Gesprächen, die geführt wurden, vermieden sie jede Anspielung auf den stattgehabten Vortrag im Musikvereinssaale. Es war wie eine zarte Rücksicht. Von ihren » faux pas« erwähnt man doch den Leuten nichts. Allmählich landete die Unterhaltung wieder bei Jagdangelegenheiten und Gesellschaftstratsch; man versuchte gnädig, Rudolf hineinzuziehen, als ob man bei ihm das lebhafteste Interesse für diese salonfähigen Gesprächsstoffe voraussetzte. Wirklich, sie bauten ihm goldene Brücken. Wenn er nur seinen »Schritt vom Wege« bereuen wollte und wieder vernünftig werden – sie würden ihn ja wieder als ganz normal behandeln.

Cajetane hatte sich an das andere Ende des Salons begeben, wo das Klavier stand. Sie machte sich dort mit Ordnen der Notenhefte zu schaffen.

Rudolf ging zu ihr hin. Er hielt es in der Mitte der anderen nicht länger aus. Ein plötzlicher Entschluß war ihm gekommen: in diesem Kreise würde er sich nicht mehr als Besucher, als kameradschaftlicher Standeskollege bewegen. Streit und Kampf aufnehmen? Das ja – mit jedem und allerorts – aber höfliche Gemeinplätze austauschen, harmlos konversieren, als ob nichts vorgefallen wäre, als ob er sich nicht feierlich von den hier geltenden Anschauungen losgerissen hätte – sich noch mit einer gewissen Nachsicht patronisieren lassen? Nein, das nimmermehr. Dies sollte seine letzte Visite im Ranneggschen und ähnlichen Salons sein.

Doch zu Cajetane zog es ihn. Der mußte er noch einmal die Hand drücken. Er ging zu ihr hin.

»Was suchen Sie in diesen Noten?«

Sie hatte ihn nicht kommen gesehen. Jetzt wandte sie sich rasch um; wie ein Schauer oder wie ein elektrischer Schlag durchschüttelte es ihre Gestalt.

»Habe ich Sie erschreckt?«

»Nein, ich ... ich ... o, Graf Rudolf –«

»Was denn, Cajetane – was haben Sie? Ich wollte Ihnen nur Adieu sagen – ich gehe.«

»Das begreife ich.«

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, daß Sie sich dort unmöglich wohl fühlen können.« Und sie deutete mit dem Kopf nach der Richtung, wo die Gesellschaft saß.

»Sie haben recht – ich fühle mich dort nicht wohl. Obwohl es ja eigentlich mein von Geburt auf gewöhntes Milieu ist.«

»Sie aber sind neugeboren – Sie haben sich ein neues Reich erwählt und das ist nicht von –« sie wiederholte die Kopfbewegung wie vorhin – »nicht von dieser Welt.«

»Sie sind ein merkwürdiges Mädchen, Cajetane. Sollten Sie auch zu einer anderen Welt gehören?«

»Gehören noch nicht, aber mich dahin sehnen – ja.«

»Seit wann?«

»Seit – seit – Ihrem Abschiedsfest in Brunnhof – und seit Ihren Vorträgen und Broschüren.«

»Meine Broschüren haben Sie gelesen? Da möchte ich doch –«

Das Gespräch wurde durch die Dazwischenkunft Christinens unterbrochen. Da empfahl sich Rudolf von der Hausfrau und den anderen und ging.


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