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18.

Aus Anette Lesters Tagebuch.

10. Mai. Es ist also entschieden. Gestern hatte ich eine meiner üblichen Zusammenkünfte mit Dawson, und bei dieser Gelegenheit vertraute er mir ohne jeden Argwohn an, daß Joe Jannion bereits zurück sei und eine Unterredung mit Chancellor gehabt habe. Er beschwerte sich, daß sein Partner so strenges Stillschweigen über alle Nachforschungen bewahre, die er seit zwei Monaten anstelle, um den Mörder Trinkalls ausfindig zu machen.

Ich wollte nicht mehr fragen, um nicht das Mißtrauen Dawsons zu erregen, aber eigentlich weiß ich ja schon genug. Es ist nur eine Angelegenheit von Stunden, daß sie mich verhaften werden.

Auch aus einem anderen Grund bin ich sicher, daß Jannion alles über mich in Erfahrung gebracht hat, was er wissen wollte. Dawson bemerkte nämlich, daß Eglington vor kurzem in irgendeiner geheimnisvollen Angelegenheit nach Dieppe gefahren sei, wohin ihn Chancellor während seiner Abwesenheit geschickt habe.

Welch anderen Zweck kann diese Reise gehabt haben, als ihm Gewißheit über meine Beziehungen zu Trinkall zu verschaffen?

Selbst wenn der Sekretär Doktor Chancellors sehr ungeschickt gewesen sein sollte, so ist es doch so gut wie sicher, daß er von Madame Demel alles erfahren hat. Und das besiegelt mein Schicksal endgültig.

Jetzt habe ich nur eine Sorge: wie kann ich verhindern, daß Toms Rolle bei dem Verbrechen unbekannt bleibt? Wenn er nur nicht solch ein Starrkopf wäre! Er hat mir gedroht, daß er augenblicklich alles einbekennen wird, wenn man mich verhaftet. Und dabei ist doch seine Schuld bei dem Mord gering genug.

Es ist doch ein wirkliches Unglück, daß ich mir gerade an jenem Abend in den Kopf setzte, Frank in Manningford aufzusuchen. Wir waren die wenigen Male, die wir einander sahen, nachdem ich Frau Annesley verlassen hatte, vorsichtig genug gewesen, als Ort unserer Zusammenkunft nur London zu wählen. Aber ich brauchte dringend etwas Geld, und Frank war mit den letzten Ueberweisungen sehr sparsam gewesen.

Hat man das Recht von »Erpressungen« zu sprechen? Ich glaube nicht. Frank versuchte damit nur wieder gutzumachen, was er an mir verbrochen hatte. Natürlich erhielt ich, was ich wollte, nur durch den glücklichen Umstand, daß er verheiratet war und sich vor einem Skandal fürchtete. Diese Tatsache allein wirkte so gut, daß ich ihm nie ernstlich drohen mußte.

Ich strich an jenem Abend in der Dunkelheit – ich hatte mich so einfach wie möglich gekleidet, um nicht aufzufallen – um sein Haus herum und überlegte, wie ich mit ihm ohne Aufsehen sprechen könnte. Da kam er plötzlich aus der Tür und ging die Straße hinunter, die zu einer kleinen, einsam stehenden Villa führte. Ich folgte ihm in einiger Entfernung, weil ich gerade in diesem Augenblick Leute kommen hörte und ich glaubte, daß ich etwas später mit ihm sprechen könne. Aber zu meiner Ueberraschung sah ich, daß er an der Gartentür der kleinen Villa läutete und im Innern verschwand.

Ich trat näher und konnte auf dem Türschild mühsam – denn die Straße war so gut wie unbeleuchtet – den Namen »Hauptmann Kendall« lesen. Alle Fenster der Villa erstrahlten in hellem Glanz, und es wurde mir klar, daß hier eine Gesellschaft stattfand. Obwohl ich nicht wissen konnte, wann Trinkall die Villa wieder verlassen würde, beschloß ich, doch zu warten. Denn ich kannte die Gewohnheiten in diesem ländlichen Ort, wo jedermann früh schlafen geht und Gesellschaften selten länger als bis elf Uhr dauern.

Es war ungefähr viertel elf, als ich Frank das Haus wieder verlassen sah. Er war nicht wenig erschrocken, so plötzlich in der Finsternis angesprochen zu werden und noch dazu von mir. Aber dann sagte ich ihm, daß mich niemand im Dorf gesehen habe, und er beruhigte sich wieder. Dann erzählte er, daß seine Frau krank sei und daß er deswegen die Gesellschaft so früh verlassen habe.

»Vielleicht gehen wir über den Fluß hinüber«, sagte er, »dort ist um diese Zeit kaum ein Mensch. Du mußt dich aber kurz fassen, denn mehr als zehn Minuten habe ich nicht Zeit.«

Ich stimmte zu, aber wir waren noch nicht hundert Schritte auf der anderen Seite des Flusses gegangen, als plötzlich ein Mann auf der Brücke erschien und auf uns zukam. Es war Tom.

Das Herz blieb mir stehen, aber ehe ich noch dazu kam, ihn mit einigen Worten zu beruhigen, überschüttete er mich mit wütenden Vorwürfen. Er habe schon längst geahnt, daß ich ihn betrüge, und jetzt habe er sich endlich Gewißheit verschafft. Dann packte er Trinkall bei der Brust und verlangte von ihm zu hören, was wir miteinander zu tun hätten und wie lange unsere Bekanntschaft schon dauere. Trinkall versuchte ihn abzuschütteln, und die beiden wurden handgemein Ich bin heute noch davon überzeugt, daß Tom damals ein wenig betrunken war, wenn er es mir auch später abgestritten hat. Aber er war stets ein so friedlicher Mensch und ich hätte ihn niemals der Handlung für fähig gehalten, die er damals beging.

Frank, der weit kräftiger war als Tom, hatte ihn nämlich zu Boden geworfen und entfernte sich rasch, nachdem er Tom noch einige kräftige Ohrfeigen versetzt hatte. Aber das machte aus Tom einen rasenden Stier. Er zog auf einmal aus der Tasche den Dolch, den ich ihm geschenkt hatte – derselbe, den mir Frank einmal zum Geschenk gemacht hatte –, stürzte seinem Gegner nach und versetzte ihm zwei Stiche in den Rücken. Frank fuhr herum, glitt dabei auf dem hartgefrorenen Boden aus und stürzte nieder. Ich hatte das alles starr vor Schrecken mit angesehen und erwartete nun, daß Frank um Hilfe rufen werde und daß dann alles verloren sei. Aber statt dessen blieb er regungslos liegen, und sein Kragen begann sich im Nacken blutig zu färben.

Jetzt begann auch Tom zu begreifen, was er angerichtet hatte und stand mit schlotternden Gliedern da, ohne ein Wort herauszubringen,.

Was dann mit mir vorging, kann ich mir heute noch nicht erklären. Irgendwie begriff ich dunkel, daß Frank tot sein mußte, wenn wir nicht selbst ins Zuchthaus wandern sollten. Ich riß Tom den Dolch aus der Hand, bückte mich über den Leblosen und stach mit aller Gewalt in einer Richtung, in der ich sein Herz vermutete.

Ehe mich Tom zurückriß, war es schon zu spät. Dann wurde es mir plötzlich schwarz vor den Augen und ich sank auf die Erde neben den unglücklichen Frank nieder.

Tom hat mir später erzählt, daß auch er zuerst vor Schrecken beinahe ohnmächtig geworden wäre, aber dann faßte er sich ein wenig und versuchte, mich ins Bewußtsein zurückzurufen, indem er mir das Gesicht mit Schnee abrieb. Endlich, nach fünf Minuten, schlug ich die Augen auf, und eine Viertelstunde später vermochte ich zu gehen.

Was Frank betraf, so war kein Zweifel, daß er tot war. Wir konnten ihm nicht mehr helfen,, und mußten nur sehen, ohne erkannt zu werden, nach Lancaster zurückzukommen. Tom erklärte, den Weg zu Fuß durch die Felder machen zu wollen, wenn er auch die ganze Nacht dazu brauchen würde. Ich selbst entschloß mich, die Bahn in Avonbridge zu erreichen. Trotzdem weiß ich nicht, ob meine Kräfte ausgereicht hätten, wenn mich nicht ein Bauer auf seinem Wagen eingeholt und mich zur Station Bloxton gebracht hätte, wo ich den Zug nach Lancaster bestieg. Ich kann mir heute noch nicht erklären, warum mich dieser Mann nicht schon damals verraten hat.

Hier an dieser Stelle betone ich übrigens noch einmal, daß ich Trinkall nicht haßte und daß ich in diesem Augenblick von Sinnen war, als ich auf ihn einstach. Ich war nach Lancaster gekommen, nicht um mich zu rächen, sondern weil ich von ihm einen kleinen Geldbetrag verlangen wollte. Er hätte ihn mir sicher gegeben, und ich wäre ruhig nach Lancaster zurückgekehrt.

In demselben Augenblick aber, in dem Tom die Stiche gegen ihn geführt, verlor ich den Verstand und tat, was mir heute noch unbegreiflich ist.

Vor allem weiß ich, was ich jetzt machen werde. Ich werde ein schriftliches Geständnis niederlegen, daß ich es war, der Trinkall am 11. November ermordete. Tom werde ich in einem besonderen Brief bitten, mein Opfer anzunehmen und sich selbst zu schonen.

In meinem Kollier befindet sich ein Fläschchen mit einem sicher und schmerzlos wirkenden Gift. Möge, wenn ich es in einigen Minuten an die Lippen setze, der letzte jener Menschen sterben, den der erste Tote mit sich ins Grab gezogen hat.

*

Dieses Tagebuch schicke ich an meinen Bruder, der augenblicklich in Glasgow in einer Fabrik arbeitet. Außer Tom ist er der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe. Von ihm droht meinem Geliebten, dem ich mit diesen Zeilen die letzten Grüße sende, keine Gefahr.

Er möge das Tagebuch, wenn es ihm richtig erscheint, einmal einem Menschen übergeben, der aus dem, was ich im Leben zu leiden hatte, eine Geschichte macht und so auch die wirkliche Mörderin in den Augen der Welt rechtfertigt.



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