Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.

Aus Annette Lesters Tagebuch.

25. März 19.. Heute hatte ich wieder über einen sehr schlechten Tag zu klagen. Es ist eine Unruhe in mir, die mich Schlimmes befürchten läßt. Dabei besteht eigentlich unmittelbar für Tom keine Gefahr: über mir allein könnte sich das Ungewitter entladen, das sich ohne Zweifel vorbereitet. Aber was liegt denn schon an mir? Ein Mensch wie ich hat überhaupt keine Berechtigung zu leben. Bei Tom ist es etwas anderes. Er hat in seiner Jugend sicher manches angestellt – er selbst spricht freilich nicht darüber – aber jetzt hat er doch seinen Posten und ist das geworden, was man einen soliden Menschen nennt.

Und wie stehe ich im Vergleich mit ihm da? Ich habe die halbe Welt bereist und stets nur die Schattenseiten des Daseins kennengelernt. Genau genommen verlief mein Leben bis zu jenem Tag, da ich bei Madame Lemel in Dieppe Frank kennenlernte, fast bürgerlich.

Ich hatte zwar bis dahin auch schon einige Erfahrungen in anderen Städten gemacht, aber ich dachte nicht daran, daß ich jemals etwas anderes sein könnte, als ich seit meinem zwanzigsten Jahr gewesen war.

Hätte mir aber gar jemand gesagt, ich würde einmal in einem kleinen englischen Städtchen die »verruchte Frau« sein, deren Name nur von ganz besonders Eingeweihten im Flüsterton weitergegeben wird, ich hätte ihn ausgelacht. Und nun sitze ich nach allerlei abenteuerlichen Erlebnissen schon ein halbes Jahr in diesem recht hübschen, aber grauenhaft langweiligen Ort und kann nicht fort, obwohl es sicher für mich besser wäre, wenn mich tausend Meilen von Englands Küste trennten.

Warum aber kann ich eigentlich nicht fort? Nun, da ist vor allem Tom. Ich habe ihn wirklich gern, viel lieber als die vielen Männer, die mir einmal mehr oder weniger bedeutet haben, und viel lieber auch, als ich einmal Frank hatte.

Am allerbesten wäre es nach meiner Meinung, wenn ich Tom dazu bewegen könnte, nach Südamerika auszuwandern. Natürlich ohne mich. Was soll er mit so einem Mädchen wie mir? Ich tauge nicht mehr dazu, ein neues Leben anzufangen. Wenn ich aber mit ihm gehe, bin ich nur ein Ballast für ihn. Ich will sehen, ob ich ihn nicht doch noch überreden kann.

Er selbst scheint aber nicht recht zu wollen. Diese unglückliche Geschichte hat uns sehr fest aneinander gekettet. Ohne daß er eigentlich eine Schuld hat, ist er schuldig geworden – wenigstens dem Gericht gegenüber. Früher oder später wird ja doch alles herauskommen – und dann ist er verloren. Was würde es schon nützen, wenn ich die ganze Schuld auf mich nähme? Er würde mir widersprechen, und man würde ihm mehr glauben als mir.

Ist es nicht merkwürdig, daß ich um seinetwillen sofort bereit wäre, ein Opfer zu bringen, während ich nicht imstande war, damals Mowbray zu retten? Und ich redete noch Tom ein, ich hätte erfahren, daß er ganz sicher begnadigt würde und daß noch immer Zeit wäre, sich freiwillig zu stellen, wenn er wirklich solch ein Narr sein wollte. Und auf einmal war er schon hingerichtet. Es ging alles so schnell, und ich war mir noch nicht im reinen, was ich eigentlich tun sollte.

Im Grunde bin ich aber auch gar nicht fähig, mich für einen Menschen zu opfern. Obwohl ich mir tausendmal sage, wie schrecklich das alles ist, so habe ich doch eigentlich kein rechtes Mitleid mit dem armen Menschen, das heißt, ich sage es wohl, daß er mir leid tut, aber ich fühle es nicht. Man sieht so eine Menge Dinge, wenn man »so eine« ist, und man wird eine Egoistin, auch wenn man ursprünglich gar nicht dazu veranlagt war.

Ich wundere mich überhaupt, ob ich nicht doch noch etwas anderes hätte werden können. In der Schule war ich immer eine sehr gute Schülerin, und meine Lehrerin – ach, das brave Fräulein Brown in Dorcester! – glaubte fest daran, daß ich einmal eine »Leuchte der Wissenschaft« werden würde. Haha! Wenn sie wüßte, was aus ihrer kleinen Annie geworden ist! Aber genug von diesen Sachen! Ich wühle da in einer Vergangenheit, die schon Vergangenheit ist und erledigt und. abgetan. Ich habe jetzt eigentlich Wichtigeres zu tun.

27. März. Der heutige Tag brachte mir Gewißheit, daß sich irgend etwas vorbereitet. Irgendwelche Leute, vielleicht gar der berühmte Joe Jannion, auf den sie alle so stolz sind, mühen sich ab, den Tod Franks doch noch aufzuklären. Sicher steht die Familie Mowbray dahinter, und ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie alle Anstrengung macht, den wirklichen Mörder festzustellen ...

Nichtsdestoweniger habe ich mir das Versprechen gegeben, daß ich es diesen Leuten nicht sehr leicht machen werde. Solange ich Tom vor dem Gefängnis bewahren kann, will ich es tun. Wenn er mir nur nicht selbst einen Strich durch die Rechnung macht! Er ist weit mitleidiger als ich und spricht immer von einer schweren Schuld, die er auf sich geladen hat. Wenn ich nur ein Mittel wüßte, ihn von diesen Skrupeln zu befreien, die ihn schließlich nur selbst ins Verderben stürzen werden. Heute sagte ich zu ihm:

»Ich habe doch allein die Schuld! Du glaubtest, daß er begnadigt würde, und nur deshalb hast du gewartet. Was nützt es ihm denn noch, wenn du dich heute dem Gericht stellst? Er ist tot, und es macht ihn nicht lebendig, wenn nun auch du auf zehn Jahre eingesperrt wirst.«

»Das ist alles richtig«, sagte er und ließ seinen hübschen, blonden Kopf hängen. »Aber ich werde doch noch eines Tages hingehen und alles einbekennen.«

Ich antwortete nichts mehr, aber ich weiß, was ich tun werde, wenn es so weit kommen sollte.

*

29. März. Nun wissen sie also bereits, wem das Armband gehört hat – oder sie vermuten es doch wenigstens. Heute vormittag kommt meine Wirtin zu mir herauf und sagt, daß mich ein Herr zu sprechen wünsche.

Ich war gerade mit dem Ankleiden fertig geworden und ging in das Wohnzimmer hinunter, wo sich ein eleganter Herr, den ich sehr gut vom Sehen kannte, erhob.

»Mein Name ist Doktor Chancellor«, sagte er.

Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und fragte nach dem Zweck seines Besuches.

»Nur eine kleine Erkundigung«, sagte er und betrachtete mich forschend. Ich erkannte aus seinem Ausdruck, daß er sich bemühte, festzustellen, ob er mich bereits einmal gesehen hatte. Es mußten ihm aber doch einige Zweifel gekommen sein, denn sein Gesicht verfinsterte sich ein wenig, als er plötzlich fragte:

»Waren Sie mit dem ermordeten Frank Trinkall bekannt?«

Ich ahnte, daß diese Frage kommen würde und hatte mich besser in der Gewalt, als ich je geglaubt hätte. Ohne nur eine Miene zu verziehen, erwiderte ich ruhig:

»Mit Frank Trinkall? Nein, warum fragen Sie?«

»Ich bin der Rechtsbeistand Fräulein Helen Mowbrays«, erwiderte er und ich konnte aus seinem Gesicht ablesen, wie er enttäuscht war, daß ihm die erste Ueberrumplung mißlungen war, »und die Familie hat mich beauftragt, einige Nachforschungen anzustellen, die sich auf das Verhältnis John Mowbrays zu Trinkall beziehen.«

»Und weshalb kommen Sie dann gerade zu mir?« fragte ich so unbefangen wie möglich.

Er schien einen Augenblick nachzudenken.

»Ich habe gehört, daß Ihnen der Ermordete nicht ganz unbekannt gewesen ist«, sagte er dann langsam und wieder fühlte ich seinen Blick durchdringend auf mir ruhen.

»Dann hat man Sie sichtlich falsch informiert«, gab ich zurück. Ich wußte, daß jetzt alles von meiner Festigkeit abhing, denn ich sah wohl, daß er nichts wußte und mich nur einschüchtern wollte. »Ich weiß von Frank Trinkall nicht mehr als alle anderen Leute in Lancaster, die die Zeitung lesen.«

Mein Besucher griff plötzlich in die Tasche.

»Dann gehört Ihnen also auch nicht dieses Armband?« Dabei hielt er mir das Schmuckstück entgegen, das, wie ich wußte, damals in der Verhandlung eine gewisse Rolle gespielt hatte.

Ich muß gestehen, daß er mich diesmal um ein Haar aus der Fassung gebracht hätte, aber mit der größten Willensanstrengung gelang es mir, äußerlich meine Ruhe zu bewahren. Meine Stimme zitterte nicht, als ich nach kurzer Pause erwiderte:

»Nein, ich habe es nie gesehen.«

»Es trägt aber Ihre Initialen, und innen ist noch der Name »Nany« zu erkennen.«

Ich zuckte die Achseln.

»Was beweist das schon? Viele Frauen haben die gleichen Anfangsbuchstaben in ihrem Namen. Und heiße ich denn ›Nany‹?«

»Aber ›Anny‹«, bemerkte Dr. Chancellor, »was ja eine Abkürzung von ›Nany‹ sein kann, nicht war? Und dieser Spruch, den wir auf der Innenseite des Armbandes entziffert haben, so zerkratzt auch die Schrift war, bezieht sich also nicht auf Sie?«

Er reichte mir den Abdruck, auf dem ich die mir wohlbekannte Widmung Franks lesen konnte.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich kenne diese Widmung nicht«, sagte ich und gab meiner Stimme einen etwas schärferen Ton, »und weiß auch nicht, wem sie gelten. Was berechtigt Sie übrigens zu einem solchen Verhör? Handeln Sie im Auftrag einer Behörde?«

Dr. Chancellor schien verlegen, und ich sah, daß ich wenigstens im Augenblick die Schlacht gewonnen hatte.

»Nein«, erwiderte er, »ich handle, wie ich schon sagte, nur im Auftrag der Familie Mowbray. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Auskunft.«

Er erhob sich mit einer Verbeugung und verließ das Zimmer.

Hat also der Kampf begonnen? Es sieht fast so aus. Wenn er also auch nicht die Frau in mir wiedererkannt hat, die ihn damals vor der Hinrichtung nach dem Schicksal John Mowbrays gefragt hat, so scheine ich sein Mißtrauen doch keineswegs zerstreut zu haben. Nun, ich fürchte mich nicht. Ich werde den Herren noch manche Nuß zu knacken geben, bis sie meinen geliebten Tom in ihre Fänge bekommen.

Und dann habe ich für den letzten Notfall noch ein Eisen im Feuer. Es ist Dr. Dawson, der Partner Dr. Chancellors. Er verehrt mich schon seit langem, und ich bin überzeugt, daß ich ihn dazu bringen könnte, mich zu heiraten, wenn ich es nur geschickt genug anstelle. Er ahnt nichts von meiner Vergangenheit, und in diesem Ort war ich, bevor ich Tom kennenlernte, sehr vorsichtig in der Wahl meiner Verehrer. Ich habe ihm eingeredet, daß ich von meinem Vater ein kleines Vermögen geerbt habe und nun von einer Rente lebe. Aber das wäre wirklich mein letzter Rettungsanker.


 << zurück weiter >>