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15.

12. April. Ich habe das Gefühl, daß sich irgend etwas vorbereitet. Meine Feinde sind hinter mir her wie die Jäger hinter einem Wild. Aber noch haben sie mich nicht zur Strecke gebracht und werden es auch nicht so bald, wenn ich mich nicht täusche. Joe Jannion ist schon einige Zeit verschwunden. Man spricht davon, daß er auf den Kontinent gefahren ist. Sollte er mir nachspüren? Die Leute lassen es sich ein schönes Stück Geld kosten, einem armen Mädchen wie mir die Schlinge um den Hals zu legen. Nun, schließlich habe ich es nicht besser verdient. Nur Tom sollen sie in Ruhe lassen. Ich bin die Alleinschuldige, ich will es sein. Mein Leben ist ohnehin verdorben.

Wie ich sie alle hasse, diese scheinheiligen Bürger mit ihrer Moral, die nur ein Deckmäntelchen für um so schlimmere Dinge ist! Man sollte, wenn man den Charakter eines Volkes richtig beurteilen will, vor allem die Mädchen wie mich fragen. Uns gegenüber lügen die Männer nicht, wie sie es in ihren Gesellschaften, Zeitungen und Büchern tun. Ich lebe doch nun lange genug in England und werde es nicht müde, mich zu wundem. Wenn ein Fremder in dieses kleine Städtchen Lancaster kommt, so muß es auf ihn den Eindruck eines unendlich moralischen und anständigen Ortes machen. Aber wenn man nur ein wenig tiefer schürft – was kommen da für Sachen zum Vorschein!

Dr. Chancellor hat sich mit Fräulein Mowbray verlobt, und jetzt erklärt es sich auch, warum er so hartnäckig nach dem Mörder Trinkalls sucht. Des Geldes allein wegen hätte er es wahrscheinlich nicht einmal getan. Aber sie ist auch eine schöne Person. Diese reichen Leute können sich pflegen, das ist nicht so wie unsereins.

Tom ist in der letzten Zeit nicht mehr so wie früher zu mir. Ich glaube, daß er darunter leidet, an solch einen Menschen wie mich gebunden zu sein. Und dabei weiß er doch so gut wie gar nichts von meinem anderen Leben. Aber vielleicht wird er nicht mehr allzulange darunter leiden müssen.

Ich bin davon abgekommen, den alten Dawson dazu zu bringen, mich zu heiraten. Nein, ich weiß ein anderes Mittel, um die Herren an der Nase zu führen.

Wenn man es recht bedenkt: ich habe, obwohl ich doch halb Europa gesehen habe, an keinem Ort noch so viel erlebt wie in diesem kleinen englischen Nest. Und dabei werde ich vielleicht hier noch allerlei Dinge erleben. Das beste wäre sicher, wenn ich mich rechtzeitig aus dem Staube machte. Sie sollen mich nur suchen: die Welt ist groß, und Beweise haben sie bisher nicht gegen mich. Aber das ist es nun: ich kann Tom nicht verlassen. Was ich nur an diesem Jungen finde? Er ist so ein rechter, blonder englischer Jüngling, und obwohl er schon fünfundzwanzig ist, bin ich doch die erste Frau, die er richtig kennengelernt hat. Er ist freilich nur ein Arbeiter und lange nicht so gebildet wie die verschiedenen Herren, mit denen ich im Laufe meines abenteuerlichen Lebens zu tun hatte – auch Frank war weit gebildeter – aber ich liebe ihn doch, weil er ein so einfacher, aufrichtiger und unverdorbener Mensch ist. Er hat alles das, was mir fehlt und was ich gern haben möchte.

Jedenfalls wird bald die Entscheidung fallen. Es kann nicht lange dauern, und Jannion und der Rechtsanwalt werden herausbekommen haben, daß Frank in meinem Leben eine große Rolle gespielt hat und daß daher auch das Armband nur mir gehören kann. Dann werden sie mich natürlich so rasch als möglich verhaften lassen. Sie haben es ja eilig, den guten Ruf des armen Mowbray wieder herzustellen.

Und dann wird es dir an den Kragen gehen, Annie!


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