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9.

Helen Mowbray saß in Gedanken vertieft mit einem offenen Brief in der Hand vor ihrem Schreibtisch, von dem aus sie durch das hohe Bogenfenster einen Teil des Parkes überschauen konnte. Obwohl es bereits Ende März war, machte doch die Landschaft noch einen ziemlich winterlichen Eindruck. Die mächtigen Eichen, die schlanken Ulmen und die breitästigen Kastanienbäume, die in malerischen Gruppen die Einförmigkeit der Wiesenflächen unterbrachen, zeigten noch kein Grün. Kahl und dürr streckten sie ihre Zweige in die frostige Märzluft empor. Jenseits des Parkes zog sich eine Anpflanzung von jungen Tannen und Fichten bis zum Fluß hinab, der in vielen Windungen an Manningford und Avonbridge vorüber dem Meer zustrebte. Dazwischen lag fruchtbares Weideland und am Horizont kündete eine dichte Rauchwolke die Nähe der Fabrikstadt.

Helen Mowbrays Gedanken beschäftigten sich aber nicht mit der Landschaft auf die sie schon eine Viertelstunde träumerisch hinausblickte. Sie gedachte der glücklichen Vergangenheit, von der sie lange Jahre zu trennen schienen, obgleich nur wenige Wochen seit dem furchtbaren Ereignis verstrichen waren, das plötzlich in ihr Leben getreten war. Es schien ihr unfaßbar, wie sie das Grauenvolle der letzten drei Monate hatte überstehen können, und noch war es ihr nicht möglich, sich in ihre jetzige vereinsamte Lage zu finden. Der Bruder war ihr Abgott gewesen. Selbst dann, als sie sich verlobt hatte, war ihre Zuneigung zu ihm die gleiche geblieben.

Nun hatte ein unseliges Geschick sie zur Herrin auf Manningford House, zur reichsten Frau der Grafschaft, gemacht, aber ihre Freude am Dasein, ihre übersprudelnde Lebenslust war dahin. Es galt nur noch, übernommene Pflichten zu erfüllen. Das Leben selbst bot ihr keinen Reiz mehr, und die Oede wirkte zuweilen wie lähmend auf sie ein. Und doch besaß sie auch wieder den ganzen Stolz ihres alten Geschlechtes. Sie wollte nicht vergessen, daß sie eine Mowbray war, die die Vorsehung auf einen verantwortlichen Posten gestellt hatte. Von der richtigen Leitung ihres Besitztums hing die Wohlfahrt vieler Menschen ab. Und dann hatte sie noch die große heilige Aufgabe ihres Lebens zu erfüllen, die Unschuld des geliebten Bruders an den Tag zu bringen.

Auch jetzt gedachte sie wieder dieser Aufgabe, während ihr Blick geistesabwesend auf der Landschaft ruhte. Erst nach einer langen Weile schien sie sich des Briefes zu erinnern, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie las ihn noch einmal durch, obgleich sie den Inhalt bereits auswendig wußte. Dann ergriff sie die Feder und schrieb mit fieberhafter Hast die folgenden Zeilen auf einen schwarzumränderten Bogen:

»Ich habe Deinen Brief erhalten und kann sehr gut begreifen, daß für Dich, als Offizier, der Tod meines Bruders ein furchtbarer Schlag vom Standpunkt Deiner militärischen Ehre ist. Das Opfer aber, das Du mir anbietest, kann ich nicht annehmen. Es genügt mir nicht, daß Du trotz alledem an mir festhalten willst. Ich könnte nur die Frau eines Mannes werden, der wie ich an die Unschuld meines Bruders glaubt, und bereit ist, mich in der Aufgabe zu unterstützen, ihn vor der Welt zu rechtfertigen.«

Ohne das Geschriebene nochmals durchzulesen, schloß sie den Brief in ein Kuvert, das sie an Hauptmann Eric Stanlake, Gibraltar, adressierte.

Dann griff sie nach einem Buch und setzte sich zu ihrer Tante an den Kamin.

»Hast du dem Hauptmann geantwortet?« fragte Nilson, die wiederholt einen beobachtenden Blick zu ihrer Nichte hinübergesandt hatte.

»Ja,« erwiderte Helen, »ich habe ihm sein Wort zurückgegeben, wie er es im Grunde wünschte.«

»Bist du dessen so sicher?«

»Oh, ganz sicher! Seine Anspielung auf unseren befleckten Namen und die kühle Form, in der er äußerte, er wünschte mit Genehmigung seiner Angehörigen unsere Verlobung fortbestehen zu lassen, zeigen mir deutlich seine wahre Gesinnung. Er wollte nur, daß der Bruch von mir ausginge, das ist alles. Ich bin seinem Wunsch natürlich entgegengekommen. Doch laß uns von anderen Dingen reden! Hauptmann Stanlake existiert nicht mehr für mich – es lohnt sich also auch nicht, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren.«

Frau Nilson bedauerte das schöne, jetzt von allen verlassene Mädchen, so ruhig sie sich äußerlich dem kalten Egoismus ihres Bräutigams gezeigt hatte. Dennoch war für dieses Bedauern nicht so viel Grund vorhanden, wie sie glaubte. Helen hatte sich allerdings verletzt gefühlt – wen sollte es nicht kränken, sich in einem Menschen derart getäuscht zu haben? – allein Stanlakes Kälte und der Gedanke daß er John Mowbray für schuldig hielt ließen sie diese Kränkung leichter überwinden, als sie selbst jemals geglaubt hätte.

»Sprechen wir von anderen Dingen, Tante!« wiederholte sie. »Ich möchte vor Tisch noch nach der Hochlandsfarm hinüberfahren. Der Pächter Trent hat mir geschrieben, er wolle bleiben, und ich werde wahrscheinlich einwilligen.«

»Ist das wohl klug gehandelt?« fragte Nilson. Du weißt, John weigert sich seinen Pachtvertrag zu erneuern. Trent hat den Hof so schlecht bewirtschaftet und wird es auch so weiter treiben, wenn er sich nicht unerwarteterweise bessert.«

»Oh, ich kenne Trent genau«, entgegnete Helen. Er ist geizig und von niedriger Gesinnung; das sicht man ihm an. Bessern wird er sich auch nicht, aber vielleicht kann es meinen Zwecken dienen, wenn er bleibt. Ich bin darüber noch nicht ganz im klaren.«

»Deinen Zwecken, wie meinst du das?«

»Ich will es dir erklären. Ich habe diesen Trent niemals besonders leiden können, und vorhin kam mir ein Gedanke, der, wenn er sich bewahrheitet, meine Abneigung gegen ihn noch steigern dürfte. Es fiel mir nämlich ein, ob Trinkalls Mörder nicht mit der Anschlußbahn in Bloxton entkam.«

»Das wäre doch ein Umweg gewesen«, meinte Frau Nilson, »denn Bloxton liegt zwölf Meilen von Manningford entfernt.«

»Hältst du es denn für unwahrscheinlich, daß ein Mörder zu seiner Sicherheit einen Umweg machen könnte?« fragte Helen. »Gerade weil in jener einsamen Gegend sehr wenig Verkehr herrscht, ließ sich von dort aus leicht eine Flucht bewerkstelligen. Um halb zwei Uhr morgens geht ein Zug von Bloxton ab. Wurde Trinkall gleich nach zehn ermordet, so hatte der Täter reichlich Zeit, die Eisenbahn zu erreichen. Dies würde auch teilweise erklären, weshalb die Polizei keinen Fremden in der Nachbarschaft entdeckte.«

»Ich verstehe aber nicht, was das mit Pächter Trent zu tun hat«, warf Frau Nilson ein.

»Nun, sein Hof liegt doch auf dem Weg nach Bloxton. Begreifst du es jetzt? Es wäre gar nicht so unwahrscheinlich, daß Trent den Täter gesehen, ihm vielleicht gar zur Flucht verholfen hat.«

Frau Nilson schüttelte ungläubig den Kopf.

»Du willst doch damit nicht andeuten«, fragte sie, »daß Trent geschwiegen und dem ganzen Unheil ruhig zugesehen hätte?«

»Ja, das meine ich!« gab Helen ernst zurück.

»Dann müßte der Mensch ja geradezu ein Ungeheuer sein!« rief Frau Nilson entsetzt aus. »Bedenke, was du sprichst! Und welchen Grund sollte er für eine solche Schlechtigkeit gehabt haben?«

»Rache und Habgier«, lautete die kurze Antwort. »Vielleicht war es aus Furcht«, fügte das junge Mädchen nach einer Pause hinzu. »Trent ist ein ganz unwissender Mensch. Vielleicht schwieg er aus Angst, sich selbst eine schwere Strafe wegen Beihilfe zur Flucht des Verbrechers zuzuziehen.«

»Und als Mitschuldiger behandelt zu werden«, ergänzte Frau Nilson.

»Wer kann wissen, was er alles befürchtete! Natürlich erfuhr er auch später von dem geschehenen Mord, aber er mochte denken, wenn er der Polizei gestand, was er getan, würde sie ihm nicht glauben, daß er nicht um das Verbrechen gewußt habe. Jedenfalls aber waren Rache und Habgier seine hauptsächlichsten Beweggründe.«

»Das wäre doch gemein!« rief Frau Nilson empört aus, die den Gedanken kaum ertragen konnte, daß ihr Neffe vielleicht nur durch die Schurkerei eines seiner Pächter zugrunde gegangen sei.

»Dennoch vermute ich es«, beharrte Helen. »Erinnerst du dich, daß er zum April den Hof verlassen sollte und daß John durchaus nicht gesonnen war, diese Bestimmung zurückzunehmen? Trent wußte, daß er die Farm nicht behalten würde, wenn John der Herr hier blieb. War mein Bruder aus dem Weg geräumt, so hatte er nur mit einer Frau zu verhandeln, mit der er leicht fertig zu werden glaubte. Der Grund seines Schweigens ist demnach klar genug. Er brauchte nur den Mund zu halten, nur ruhig zuzugeben, daß der Verdacht auf seinen Gutsherrn fiel, um nach beiden Seiten hin seinen Vorteil zu haben – sich an John für die Kündigung zu rächen und die Möglichkeit zu gewinnen, von einer Frau günstigere Bedingungen zu erhalten.«

»Oh, Helen, wie mag man einem Menschen so viel Schlechtes zutrauen?«

Das junge Mädchen zuckte die Achseln.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte sie, »aber ich glaube bestimmt, daß Trent das Geheimnis einigermaßen aufklären könnte, wenn er nur wollte.«

»Nun, dann warte doch Doktor Chancellors Rückkehr ab«, riet Frau Nilson, »und höre erst seine Meinung, bevor du irgendwelche Schritte unternimmst.«

Helen dachte einen Augenblick nach.

»Das könnte ich allerdings tun«, sagte sie dann zustimmend.

»Du brauchst ja nicht lange zu warten«, bemerkte Frau Nilson, erfreut über die Nachgiebigkeit ihrer Nichte. »Doktor Chancellor kommt nächste Woche zurück.«

»Gut, warten wir also!« entschied Helen. »Ich werde auch Trent sagen lassen, daß die Sache ruhen müsse, bis ich mit Doktor Chancellor Rücksprache genommen hatte. Das wird wohl das Beste sein.«


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