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1.

»Helen, mein Kind, du darfst dich nicht aufregen! Wir sind nun am Ziel; da heißt es, alle seine Selbstbeherrschung zu bewahren.«

»Gewiß, Tante,« antwortete das junge Mädchen, »ich will alles tun, was ich kann, um dem Advokaten den Fall ruhig darzustellen. Wer weiß, ob nicht von einem Wort, das ich vergesse, Johns Leben abhängt.«

»Aber deswegen bin ich ja mitgekommen, wenn ich auch sonst zu solchen Unternehmungen nicht tauge. Ich weiß überhaupt nicht mehr ein und aus, seit diese furchtbare Sache geschehen ist. Seit Johns Verhaftung habe ich in keiner Nacht mehr richtig ein Auge geschlossen. Und nun muß Doktor Serle erkranken –«

»Laß nur, Tante!« unterbrach sie Helen Mowbray. »Wir dürfen jetzt an nichts anderes mehr denken, als Doktor Chancellor für uns zu gewinnen.« Und sie drückte auf den Knopf, der neben der Tür eines im Stil der Königin Anna erbauten Hauses angebracht war. Auf einem Messingschild über der Glocke waren folgende Worte zu lesen: »Dr. Dawson & Dr. Chancellor, Rechtsanwälte.«

Das Gespräch fand an einem frostigen, aber klaren Dezembertag um eine späte Vormittagsstunde auf dem Marktplatz von Lancaster, einem kleinen südenglischen Städtchen, statt. Auf den Gesichtern beider Frauen war schwerer Kummer zu lesen, wenn auch die jugendliche Schönheit der jüngeren den tröstenden Gedanken wachrief, daß solch einem Menschen früher oder später jeder Wunsch in Erfüllung gehen würde.

Inzwischen hatte ein Diener die Tür geöffnet und die Damen in die Kanzlei im ersten Stock geführt, wo der Advokat, Dr. Arthur Chancellor, gerade, in einen hohen Aktenstoß vertieft, an seinem Schreibtisch saß.

Er war der Chef der Firma, denn sein Vater hatte sich schon seit Jahren, nachdem er ein bedeutendes Vermögen erworben hatte, zur Ruhe gesetzt und kümmerte sich nicht mehr um das Geschäft, lebte aber mit seinem unverheirateten Sohn zusammen.

Die Chancellors zählten zu den angesehensten Familien der Grafschaft. Die Rechtsanwälte selbst genossen einen ausgezeichneten Ruf, was wohl am besten dadurch bewiesen wurde, daß alle Grundbesitzer der Umgebung zu ihren Klienten gehörten. Merkwürdigerweise hatten sie sich bisher niemals mit Kriminalsachen abgegeben, und nichts war je imstande gewesen, ein Abweichen von dieser grundsätzlich von ihnen festgehaltenen Regel herbeizuführen.

Dr. Chancellor hätte sich daher, als er an seinem Schreibtisch saß, wohl schwerlich träumen lassen, daß er noch vor Abend seinem Grundsatz untreu werden und sich zur Führung eines der schwierigsten und aufsehenerregendsten Kriminalprozesse bereit erklären würde.

Erst vor wenigen Wochen war in der Nähe Lancasters ein Mord verübt worden, der um so mehr Aufsehen hervorrief, als die Hauptbeteiligten den ersten Kreisen der Gesellschaft angehörten.

John Mowbray auf Manningford House, ein reicher Eisenwerkbesitzer, stand unter dem Verdacht, seinen Nachbarn Francis Trinkall ermordet zu haben. Als Motiv der Tat wurde allgemein der Groll angesehen, den Mowbray gegen Trinkall hegte, seit dieser ein Mädchen geheiratet hatte, mit dem Mowbray verlobt gewesen war.

In den nächsten Tagen – Anfang Januar – sollte der Angeklagte, der im Grafschaftsgefängnis zu Lancaster in Untersuchungshaft saß, vor den Geschworenen erscheinen, um aus ihren Händen sein Schicksal – Freiheit oder Tod – entgegenzunehmen.

Dr. Chancellor hatte wie alle anderen von diesem Fall gehört und sich auch lebhaft dafür interessiert, da ihm sowohl Mowbray als Trinkall gut bekannt waren. Allein seine Geschäftsangelegenheiten drängten dieses Interesse bald wieder in den Hintergrund, war er doch ein vielgesuchter Advokat.

»Zwei Damen wünschen Sie zu sprechen,« meldete der Schreiber Eglington seinem Prinzipal und überreichte ihm zwei Visitenkarten. Chancellor warf einen Blick darauf, ließ die Damen hereinbitten und erhob sich von seinem Sessel, um die Eintretenden zu begrüßen. Er hielt es, nachdem die beiden Platz genommen hatten, für richtig, ihnen seine Teilnahme über das große Unglück, das sie betroffen, auszudrücken, ehe er sich nach dem Zweck ihres Besuches erkundigte. Diese Formalität wußte er jedoch so geschickt jedes rhetorischen Beigeschmackes, der bei einem Advokaten noch um vieles näherliegt als bei einem anderen Menschen, zu entkleiden, daß ihm die beiden Damen, von der Echtheit seines Gefühls überrascht, mit ungewöhnlicher Herzlichkeit dankten.

»Wir sind dazu noch,« fuhr jetzt Helen Mowbray fort, »in der schlimmen Lage, außer unserem Londoner Advokaten ohne jeden Rechtsbeistand dazustehen.«

»Aber soviel ich weiß, hat doch Doktor Serle in Avonbridge die Verteidigung Ihres Bruders übernommen?«

»Ja, aber er ist leider krank geworden,« antwortete Helen Mowbray, »und, wie ich fürchte, durch Ueberanstrengung bei der Führung unserer Sache.«

»Das trifft sich allerdings sehr unglücklich«, stimmte der Advokat bei; »um so mehr als die Schwurgerichtseröffnung so nahe bevorsteht.«

»Kennen Sie Hauptmann Kendell in Manninford?« fragte Fräulein Mowbray.

»Gewiß, er ist ein Vetter meiner Mutter.«

»Nun, er hat mir geraten, die Verteidigung meines Bruders in Ihre Hände zu legen. John wünscht es ebenfalls, denn da die Zeit zur Vorbereitung so kurz ist, muß er einen Anwalt hier im Ort haben, mit dem er sich besprechen und der Dr. Gazabee, unseren Londoner Rechtsanwalt, informieren kann.«

Chancellors Gesicht zog sich bedenklich in die Länge, da er nun wußte, aus welchem Grunde die Damen zu ihm gekommen waren.

»Es gibt allerdings hier noch andere Advokaten«, fuhr Fräulein Mowbray, die den Schatten auf seinem Gesicht bemerkt hatte, fort, »aber wir wüßten niemand anderen, zu dem wir größeres Vertrauen hätten als zu Ihnen. Alle Menschen erzählen nur Gutes über Sie. Ich muß Ihnen sagen, daß mein Bruder sich einzig und allein auf seine Unschuld stützt. Er wird nie zugeben, daß man seine Freisprechung mit unehrenhaften Mitteln oder irgendwelchen Täuschungen anstrebt.« Es lag so viel Angst und Besorgnis im Klang ihrer weichen und melodischen Stimme, daß Dr. Chancellor ein wenig die Fassung verlor. Er war ein großer Verehrer des weiblichen Geschlechtes und man erzählte von ihm, daß er in seinen Studentenjahren die Lippen reizender Frauen eifriger als die Pandekten studiert habe. Aber das lag schon lange zurück.

Jetzt stand vor ihm ein Mädchen, dessen Schönheit weit über die Grenzen der Grafschaft von allen Kennern gepriesen wurde und dessen Kummer den seltsamen Reiz, der von ihrer Person ausging, noch erhöhte.

Trotz alledem erlaubte ihm die Tradition seiner Familie nicht, den Wünschen des jungen Mädchens nachzukommen. Seine Vorgänger hatten nie Kriminalprozesse geführt, und auch er war nicht geneigt, von dieser Regel abzugehen. Wohl verstand er, daß seine Weigerung die Bittende kränken würde, aber er sagte sich, daß es im Interesse des Angeklagten sei, die Verteidigung dem geschicktesten Kriminalisten, den man finden konnte, zu übertragen.

Nachdenklich, mit leicht gerunzelter Stirn, blickte er zum Fenster hinaus und dachte angestrengt darüber nach, wie sich seine Ablehnung am besten motivieren ließe.

Aber dieses Zögern lieferte seiner schönen Gegnerin die Waffen, deren sie bedurfte, um Arthur Chancellor umzustimmen. Als er sie wieder anblickte, fühlte er ihre Augen mit solch flehendem Ausdruck auf sich ruhen, daß sein Entschluß, John Mowbray unter keinen Umständen zu verteidigen, augenblicklich in das Gegenteil umschlug.

Er vermochte das Nein, das er soeben aussprechen wollte, nicht über die Lippen bringen, und stammelte nur etwas von dem großen Bedenken, das er verspüre, eine ihm so ungewohnte Aufgabe zu übernehmen.

»Ich kann nicht glauben, daß irgend jemand meinen armen Bruder besser verteidigen kann als Sie«, sagte Helen mit einschmeichelnder Stimme und beugte sich so weit vor, daß der Advokat den feinen Duft ihrer Haut über den Stoß staubiger Akten hinweg verspürte. »Sie schlagen mir doch meine Bitte nicht ab?«

»Gewiß nicht!« erwiderte Dr. Chancellor rasch, und war damit nicht der erste Mann, den die schönen Augen einer Frau besiegten.

Helen stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und dankte ihm mit warmen Worten.

»Ich bitte Sie, mich künftig auch zu Ihren Freunden zu zählen, Miß Mowbray«, sagte der Advokat, der, da er nun einmal die Sache übernommen hatte, ihr auch sein volles Interesse zuwandte. »Ohne Zweifel hätten Sie einen besseren Ratgeber – das heißt einen in Kriminalprozessen erfahreneren – finden können als mich, denn wir haben uns bisher niemals mit dergleichen befaßt. Wenn Sie aber trotzdem wünschen, daß ich die Verteidigung Ihres Bruders in die Hand nehme, so werde ich alles daran setzen, ihm zu helfen.«

»Sie werden sich doch sicher auch auf den Standpunkt stellen, daß mein Neffe unschuldig ist, nicht wahr?« mischte sich Frau Nilson zum ersten Male ins Gespräch.

»Selbstverständlich«, entgegnete Chancellor. »Das Gesetz hält jeden für unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, und ich, als sein Verteidiger, wäre natürlich der letzte, ihn für schuldig zu halten.«

»Die Polizei war ganz entgegengesetzter Ansicht«, bemerkte Frau Nilson in bitterem Ton. »Sie hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihre Meinung als die richtige zu beweisen.«

Chancellor zuckte die Achseln.

»Das ist leider so ihre Art«, sagte er. »Daher kommen auch ihre Mißgriffe und ihre Unfähigkeit, ein Verbrechen aufzudecken. Doch – darf ich fragen, von wem ich das Material für die Verteidigung erhalten werde? Ich müßte ja vor allem die Akten durchsehen.«

»Ich habe sie bei mir«, fiel Helen ein und entnahm einer Mappe, die sie in der Hand hielt, ein umfangreiches Aktenbündel. »Ich habe auch die Notizen, die Doktor Serle sich bei seinen Nachforschungen gemacht hat, sowie einiges Material, das für die Verteidigung von Nutzen sein könnte.«

»Das wird vorläufig genügen«, erwiderte Dr. Chancellor, nachdem er die Akten flüchtig durchgeblättert hatte. »Ich werde mich sogleich an die Durchsicht des Materials machen und Ihnen so bald als möglich Nachricht zukommen lassen.«

Helen erhob sich und streckte ihm ihre schmale Hand hin.

»Ich bin Ihnen unendlich dankbar«, sagte sie, »und setze meine ganze Hoffnung auf Sie.«

»Ich werde mich bemühen, mich Ihres Vertrauens würdig zu erweisen«, erwiderte Dr. Chancellor mit einer Verbeugung und begleitete die Damen hinaus.

Als er an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, zündete er sich eine neue Zigarette an, atmete tief den Rauch ein und murmelte vor sich hin:

»Ein Prachtweib! Oder ich will nicht Arthur Chancellor heißen!«

Es war ihm vollkommen entfallen, was für eine ernste Unterredung ihm mit seinem Partner, Dr. Dawson, bevorstand, wenn dieser erfahren würde, daß die Kanzlei gegen ihr geheiligtes Prinzip einen Kriminalfall übernommen hatte.


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