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4.

Trübe und melancholisch brach der Verhandlungstag an. Die lange Herrschaft des Frostes schien vorüber, denn ein feiner Sprühregen, der alles durchdrang und aufweichte, rieselte unablässig nieder und machte das plötzlich eingetretene Tauwetter doppelt ungemütlich. Die noch vor wenigen Stunden hartgefrorene weiße Schneedecke hatte sich in eine graue Masse verwandelt, die die Straßen und Wege mit einer dicken Schlammschichte bedeckte.

Trotz dem wenig einladenden Wetter waren zahlreiche Fußgänger unterwegs, die sich durch den Schmutz nach dem Schloß hinaufarbeiteten. Nur der kleinste Teil der Menge, die so eilig vorwärtsstrebte, hatte Aussicht, Zutritt zu dem scharfbewachten Gerichtssaal zu erlangen. Das Interesse für John Mowbrays Schicksal war jedoch so rege, daß diejenigen, die nicht eingelassen wurden, zufrieden waren, in den Korridoren verweilen zu dürfen. Viele blieben vor dem Gebäude auf dem geräumigen Hof oder suchten sich ein nahes Plätzchen, von dem aus sie rasch Nachricht über den Verlauf des sensationellen Prozesses erhalten konnten.

Im Gerichtssaal selbst herrschte die größte Unruhe und Erregung, die sich erst etwas zu legen begann, als die Uhr die zehnte Stunde verkündete.

Auf der Tribüne des Saales nahmen verschiedene Vertreter des Gesetzes ihre Sitze ein: Dr. Gazabee wechselte einige Worte mit dem Staatsanwalt Browbeat, und Dr. Chancellor geleitete zwei Damen zu einem besonders für sie reservierten Platz. Die Aufmerksamkeit des Publikums konzentrierte sich sogleich auf diese beiden weiblichen Gestalten, und man flüsterte sich zu, daß die jüngere die Schwester des Angeklagten sei.

So sah sich Fräulein Mowbray, die von ihrer Tante begleitet war, als Zielscheibe hunderter neugieriger Blicke, aber sie hielt diese Prüfung ruhig aus. Wohl erschien ihr Gesicht bleicher als gewöhnlich, und der tiefe Ernst, der darauf lag, verriet, was sie empfand. Trotzdem konnte man weder Furcht noch Mutlosigkeit in ihren Zügen lesen. Ihre ruhige Haltung, ihr sicheres Wesen ließen erkennen, wie fest sie von der Unschuld ihres Bruders überzeugt war und wie zuversichtlich sie seinen Freispruch erwartete.

Plötzlich verstummte das leise Surren der Stimmen im Zuschauerraum, die Gerichtsdiener geboten Schweigen, und der ganze Gerichtshof erhob sich, als Richter Whitehouse in seiner roten, mit Hermelin besetzten Amtstracht eintrat und sich auf seinen Platz begab.

Im nächsten Augenblick erschien der Angeklagte leichten, elastischen Schrittes. Er verbeugte sich vor dem Richter, der die Begrüßung mit einem langsamen, feierlichen Kopfnicken erwiderte, und warf dann einen raschen Blick in den Saal. Als er seine Schwester Helen bemerkte, lächelte er ihr freundlich und ermutigend zu.

Sogleich erhob sich ein lebhaftes Raunen unter den Zuhörern, die ihre Meinung über die Aussichten des Angeklagten miteinander austauschten. Sein hübsches Gesicht, sein sympathisches Aeußere nahm sofort alle anwesenden Damen für ihn ein, während seine offene, furchtlose Haltung selbst den verknöcherten Juristen imponierte. John Mowbray war etwas über Mittelgröße, gut gewachsen und verriet den geübten Sportsmann. Auffallend war sein straffes, schwarzes Haar und sein dunkler Teint, Eigenschaften, die er von seiner Mutter geerbt hatte, die eine russische Aristokratin gewesen war. Es war ein seltsamer Anblick, ihn zwischen diesen blonden und rein angelsächsischen Typen zu sehen, die die Grafschaft Lancaster fast ausnahmslos hervorbringt. Es gab mehr als einen Zuschauer, der sich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß dieser »Fremde« doch vielleicht irgendwelche Eigenschaften besaß, die niemand einem echten Engländer zutrauen konnte. Und was vom Publikum galt, das galt auch von den Geschworenen: sie alle sahen nicht ganz unbefangen auf den Mann, der so viel fremdes Blut in sich hatte und eines so schweren Verbrechens angeklagt war.

Die Präliminarien wurden rasch erledigt, und es herrschte Totenstille in dem Saal, als der Vorsitzende sich erhob, um im Namen der Krone die Anklage zu erheben.

Nachdem er den Geschworenen die große Wichtigkeit des Falles, den zu prüfen sie berufen seien, vorgehalten und sie ermahnt hatte, alles zu vergessen und außer Betracht zu lassen was sie über das Drama von Manningford gehört oder gelesen, und ihr Urteil nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben, skizzierte er in gedrängter Kürze die Familiengeschichte der beiden Hauptbeteiligten und berührte nur flüchtig die Ursache, die John Mowbray veranlaßt hatte, eine feindselige Haltung gegen seinen früheren Freund Francis Trinkall einzunehmen.

»Hätte der Angeklagte«, fuhr er fort, »sich auf einen passiven Groll beschränkt, so stände er jetzt nicht hier. Unglücklicherweise jedoch gab er seinem heftigen, ungezügelten Temperament nach und ließ sich wiederholt zu offenen Drohungen gegen seinen Nachbarn hinreißen. Sein Verhalten erregte vielfach Aergernis, und von verschiedenen Seiten wurde der Versuch gemacht, den Zwist der beiden Männer beizulegen. Unter denen, die ihre Friedensvermittlung anboten, befand sich auch Hauptmann Kendall, der in Manningford wohnt. Auf seine Vorstellungen hin willigte der Angeklagte schließlich ein, mit dem Ehepaar Trinkall im Hause des Hauptmanns zusammenzutreffen, um eine Versöhnung herbeizuführen.

Der für die Begegnung festgesetzte Abend brach an – es war der 11. November. Eine Anzahl Gäste hatte sich eingefunden. Auch Herr Trinkall erschien, jedoch ohne seine Frau, die eines Unwohlseins halber fern blieb. Der Angeklagte kam ebenfalls nicht, unterließ es aber, seine Abwesenheit zu entschuldigen.

Kurz nach zehn verabschiedete sich Herr Trinkall von dem Gastgeber, und eine Viertelstunde später wurde er von zwei Zeugen auf der Brücke gesehen, die bei Manningford über den Avon führt, befand sich also, nebenbei erwähnt, in entgegengesetzter Richtung von jener, die er hätte einschlagen müssen, wenn er von Hauptmann Kendalls Wohnung gegangen wäre.

Jene Zeugen, die ich schon erwähnte, haben ausgesagt, daß Herr Trinkall nicht allein war, sondern einen Begleiter hatte, Herrn John Mowbray auf Manningford House. Ein Irrtum der Leute scheint fast ausgeschlossen, da sie sowohl Trinkall als Mowbray genau kannten und der Mond hell am Himmel stand, obgleich ein leichter Nebel auf dem Flusse lagerte. Nach ihrer Beschreibung trug Herr Trinkall einen langen, fest zugeknöpften Ueberrock, während der Angeklagte in einen Reitmantel gehüllt war. Die Zeugen sagten ferner aus, daß die beiden, nachdem sie die Brücke übersetzt hatten, links am Flußufer weitergingen. Nachdem sie in dem Nebel, der vom Wasser aufstieg, verschwunden waren, hat sie niemand mehr gesehen. Hingegen fand man am anderen Morgen auf dem einsamen Weg am Ufer den bereits erstarrten Leichnam Francis Trinkalls. Er war meuchlings niedergestochen worden. Die Art der Wunden wird durch die medizinischen Sachverständigen näher erörtert werden.

Es ließ sich sofort feststellen, daß der Ermordete einer Privatrache zum Opfer gefallen sein mußte, denn er war nicht beraubt worden; seine Ringe, Uhr und Brieftasche fanden sich vor.

Da immerhin die Möglichkeit bestand, daß Herr Trinkall, der schließlich eine große Anzahl Leute beschäftigte, unter ihnen einen Feind gehabt habe, wurden über diesen Punkt umfangreiche Untersuchungen eingeleitet. Sie ergaben jedoch alle, daß Trinkall sowohl mit seinen Arbeitern als Pächtern in gutem Einvernehmen lebte und daß der Mörder mit Wahrscheinlichkeit nicht unter diesen Leuten zu suchen war. Es tauchte dann die Vermutung auf, daß er ohne Wissen anderer einen Feind gehabt habe. Aus diesem Grund durchsuchte die Polizei jeden Pachthof und jedes Bauernhaus in der Umgebung, kam aber zu der Ueberzeugung, daß die Tat von keinem Fremden ausgeführt worden war.

Nur mit äußerstem Widerstreben erwog die Behörde nun die Möglichkeit, daß das Verbrechen ein Racheakt des nächsten Nachbarn des Ermordeten, des Gutsherrn auf Manningford House, gewesen sein könne. Der allgemeine Verdacht lenkte sich bald auf ihn, denn er war der einzige, mit dem Herr Trinkall auf gespanntem Fuß lebte. Außerdem hatte er wiederholt Drohungen gegen seinen Rivalen ausgestoßen. Polizeichef Brabazon suchte ihn nach seiner Ankunft in Manningford House auf, in der Erwartung, von ihm Aufklärung über das Verbrechen zu erlangen. Er fand Herrn Mowbray bettlägrig, mit verstauchtem Fuß und überhaupt in einer Verfassung vor, die auf einen blutigen Zweikampf deutete. Diese Verletzungen sowie die seiner Kleidung schrieb Herr Mowbray einem erlittenen Unfall zu, über den er aber jede nähere Aufklärung verweigerte.

Auf die Frage, was er an diesem kritischen Tage alles unternommen habe, erwiderte er, daß ihn wichtige Geschäfte fortgerufen hätten. Er habe in aller Frühe selbst sein Pferd gesattelt und sei erst spät zurückgekehrt, als die Dienerschaft bereits schlief. Als er durch das Dorf geritten sei, habe er die Turmuhr die zweite Morgenstunde schlagen hören.«

Der Vorsitzende machte eine kurze Pause, dann sprach er in feierlichem Ton weiter: »Meine Herren Geschworenen, ich bitte Sie, Ihre volle Aufmerksamkeit der Erklärung des Angeklagten zuzuwenden. Ist diese Erklärung einleuchtend und befriedigend, dann muß das gerichtliche Verfahren gegen Herrn Mowbray eingestellt werden. Allein ich frage: ist sie befriedigend? Uns scheint sie das keineswegs zu sein. Mit wem hatte er an jenem Tage in privaten Angelegenheiten zu tun? Wo und wann wurden diese Angelegenheiten von ihm erledigt? Um welche Zeit machte er sich auf den Weg nach Manningford? Woher stammen die Verletzungen, die so ernster Natur waren, daß sie ihn ans Bett fesselten?

Ueber alle diese Punkte, deren Aufklärung von größter Wichtigkeit für die Untersuchung sein würde, bewahrt der Angeklagte ein hartnäckiges Schweigen und behauptet, daß seine Ehre ihm dieses Schweigen auferlege. Ist aber nicht die Pflicht, einen alten historischen Namen von dem Verdacht einer so schrecklichen Bluttat rein zu erhalten, die höchste Ehrenschuld des Angeklagten?

Die Erklärung des Angeklagten erscheint aber auch unwahr, und zwar aus folgenden Gründen: Gleich nach zehn Uhr verließ Herr Trinkall die Wohnung des Hauptmanns Kendall. Die Brücke ist nur fünf Minuten von dort entfernt, und wie die Zeugen aussagen, ist Herr Trinkall mit dem Angeklagten über die Brücke gegangen. Wie deckt sich das mit der Versicherung des Angeklagten, es habe vom Kirchturm zwei geschlagen, als er durchs Dorf geritten sei? Dieser Widerspruch ist nicht geeignet, den Verdacht gegen Mowbray zu entkräften. Es mögen sich noch weitere Fragen ergeben, die vielleicht für immer unbeantwortet bleiben müssen, unsere Aufgabe muß es jedoch bleiben, aufzuklären, ob der Angeklagte wirklich aus Rache und mit Vorbedacht Francis Trinkall ermordete, und dieser Aufgabe werden wir uns jetzt unterziehen.«

Eifriges Stimmengeflüster folgte dieser Rede des Vorsitzenden, die er in trockenem, geschäftsmäßigem Ton, frei von irgendeinem Pathos gehalten hatte.

Dann wurde als erster Zeuge Hauptmann Kendall auf gerufen.

»Ihr Name ist Thomas Kendall, früher Hauptmann im 133. Regiment. Sie leben seit Ihrer Pensionierung in Manningford?« fragte der Vorsitzende.

Der Zeuge bejahte.

»Sie machten in Manningford die Bekanntschaft des Angeklagten und des Ermordeten?«

»Ich kannte sie beide genau.«

»Waren die beiden befreundet, als Sie sie kennenlernten?«

»Ja, ich wenigstens hatte diesen Eindruck.«

»In letzter Zeit trat aber eine Entfremdung zwischen ihnen ein, und Sie haben dem Angeklagten deshalb Vorstellungen gemacht?«

»Ganz recht.«

»Entsinnen Sie sich des 11. November? Welche Umstände sind Ihnen in Erinnerung geblieben?«

»Ich hatte für den Abend eine kleine Gesellschaft veranstaltet. Herr Trinkall war anwesend. Seine Gattin und Herr Mombray, ebenfalls eingeladen, erschienen nicht. Frau Trinkall ließ sich wegen Kopfschmerzen entschuldigen, Herr Mowbray blieb ohne Entschuldigung fort.«

»Hegten Sie die Hoffnung, durch diese Begegnung die beiden Herren wieder miteinander zu versöhnen?«

»Ich glaubte eigentlich, daß es mir bereits gelungen sei, weil ja beide meine Einladung angenommen hatten.«

»Mowbray kam also nicht und sandte auch keine Entschuldigung?«

»Nein.«

»Herr Trinkall verließ Ihr Haus zu Fuß. Können Sie den Zeitpunkt angeben?«

»Es war genau zehn Minuten nach zehn.«

»Gab er Ihnen eine Erklärung für sein frühes Weggehen?«

»Ja, er sagte, daß er um seine Frau besorgt sei und nach ihr sehen wolle.«

»Kannten Sie die Ursache der Entzweiung zwischen dem Angeklagten und Herrn Trinkall?«

»Allerdings, es war das ein offenes Geheimnis.«

»Hat Herr Mowbray nicht bei verschiedenen Gelegenheiten eine drohende Sprache gegen Herrn Trinkall geführt?«

»Leider ja.«

»Was sagte er?«

»Trinkall habe sein Leben zerstört und solle sich vorsehen, denn er werde ihm vielleicht ein gleiches tun.«

»Aeußerte er auch persönliche Drohungen?«

»Ich hörte ihn einmal sagen, daß er ihn wie einen Hund züchtigen werde, wenn er ihm in den Weg käme.«

»Sprach er dies so offen aus, daß es zum allgemeinen Dorfklatsch wurde?«

»Ja, das tat er.«

»Was konnte nach Ihrer Meinung den Francis Trinkall veranlassen, in einer Richtung zu gehen, die von seinem Hause gerade wegführte?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Mit einem leisen Lächeln erhob sich jetzt Dr. Gazabee, um den Zeugen einem Kreuzverhör zu unterwerfen. Er hatte wohl gemerkt, daß Hauptmann Kendall seine Aussagen nur widerstrebend und möglichst zugunsten des Angeklagten gemacht hatte.

»Herr Hauptmann«, sagte er, »Sie kennen John Mowbray von Jugend auf. Welche Meinung haben Sie von seinem Charakter?«

»Die denkbar beste.«

»Er hat eine untadelige und ehrenhafte Gesinnung?«

»Ja.«

»Er ist ein tüchtiger Landwirt, ein guter Herr seiner Untergebenen und außer seinem Haß gegen Trinkall kann man ihm in keiner Hinsicht einen Vorwurf machen?«

»Dem stimme ich vollkommen bei.«

»Setzte seine Verhaftung Sie nicht in Staunen, Herr Hauptmann?«

»Ich war geradezu fassungslos.«

»Legten Sie seinen Drohungen irgendwelche Bedeutung bei?«

»Nicht die geringste. Er machte damit nur, wie mir schien, seinem Aerger Luft, weiter nichts. Ich hielt sie damals für leere Worte und denke auch jetzt noch so.«

»Er hielt sie damals und hält sie auch heute noch für leere Worte«, wiederholte Dr. Gazabee mit erhobener Stimme, zu den Geschworenen gewandt.

Der nächste Zeuge stand im auffallenden Gegensatz zu dem militärisch strammen Hauptmann. Er war ein einfacher, etwas beschränkter Mensch, der sich für diese Gelegenheit mit einer Weste und Halsbinde von grellster Farbe aufgeputzt hatte. Er sprach langsam, aber in bestimmten Ausdrücken, und zwar war seine Aussage sehr zu ungunsten des Angeklagten, obwohl seine Glaubwürdigkeit im Kreuzverhör starke Zweifel aufkommen ließ.

Er hieß Lukas Joy, lebte in Manningford und arbeitete bei dem Pächter Westlake als Taglöhner. Als er am Abend des 11. November mit seiner Frau aus dem Wirtshaus heimkehrte, sah er Herrn Trinkall in Begleitung Herrn Mowbrays über die Brücke gehen und dann links auf den Weg abbiegen, der am Flußufer entlang führt. Es war eine mondhelle Nacht, obgleich der Nebel, der aus dem Wasser auf stieg, den Mond verbarg. Joy kannte beide Herren, konnte sich also nicht irren. Er befand sich auch nur hundert Schritte – die Länge der Brücke – hinter ihnen.

»Einen Augenblick, Herr Joy!« unterbrach ihn Dr. Gazabee. »Könnten Sie beschwören, daß Sie das alles nicht geträumt haben?«

»Ja, das kann ich beschwören. Ich sah sie deutlich genug.«

»Na, na!« meinte Dr. Gazabee und wiegte den Kopf zweifelnd hin und her. »Bei so schwachem Mondlicht! Der Nebel hat Ihrer Phantasie gewiß einen Streich gespielt.«

»Durchaus nicht. Ich habe die beiden ganz deutlich gesehen.«

»Nun gut, es war also so hell, daß Sie sich nicht irren konnten. Wie war Herr Trinkall angezogen?«

»Er trug einen lang, fest zugeknöpften Ueberrock.«

»Und sein Hut?«

»War ein niedriger Filzhut.«

»Was hatte Herr Mowbray an?«

»Einen Reitmantel. Ich habe ihn oft drin gesehen.«

»Was für einen Hut trug er?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Na, denken Sie einmal nach, Herr Joy, und beschreiben Sie uns Herrn Mowbrays Hut!«

»Das kann ich nicht.«

»War es vielleicht ein gelber Hut?« fragte Dr. Gazabee mit harmloser Miene.

»Ein gelber Hut? Nein, das bestimmt nicht.«

»Sie können also schwören, Herr Joy, daß Herr Mowbray keinen gelben Hut aufhatte?«

»Allerdings.«

»Das dachte ich mir!« schmunzelte Dr. Gazabee ingrimmig. »Na, wenn Sie also bestimmt wissen, daß der Hut nicht gelb war, dann können Sie mir vielleicht seine Farbe und sein Aussehen sagen.«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Ich glaube es Ihnen gern«, antwortete der Anwalt. »Sie entsinnen sich, welche Röcke die beiden Herren trugen, erinnern sich auch, wie Herrn Trinkalls Hut aussah und daß der des Herrn Mowbray nicht gelb war. Nur können Sie ihn nicht näher beschreiben, ist es so?«

Joy bejahte.

»Erinnert sich also wohl an den Hut und kann ihn doch gleichzeitig nicht beschreiben«, bemerkte Dr. Gazabee und warf den Geschworenen einen bedeutsamen Blick zu.

»Sie waren also nur etwa hundert Meter hinter den beiden Herren?«, setzte er dann das Verhör fort.

»Ja.«

»Sprachen sie miteinander?«

»Ich konnte nichts hören.«

»Sie können also schwören, daß die beiden nichts miteinander sprachen?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Und die Gesichter haben Sie nicht gesehen?«

»Sie bogen gerade in den Weg ein, als ich die Brücke erreichte.«

»Das dachte ich mir gleich!« bemerkte Doktor Gazabee. »Der Zeuge will sie nicht sprechen gehört haben, kann es aber nicht beschwören. Und außerdem hat er die Gesichter nicht gesehen. Mir kommt es verdammt so vor, Herr Joy, als wenn diese Geschichte, die Sie uns erzählt haben, Wort für Wort eine Erfindung Ihrer Phantasie wäre. Ueberlegen Sie wohl, was Sie sagen und bedenken Sie die Folgen eines Meineides!«

»Was ich gesagt habe, ist wahr«, beharrte der Zeuge. »Ich habe sie beide gesehen, so wahr mir Gott helfe!«

»Sie standen lange in Herrn Mowbrays Diensten?«

»Ja.«

»Wurden aber vergangenen Oktober entlassen, weil Sie wiederholt betrunken waren und zum Aergernis der ganzen Nachbarschaft Ihre Frau mißhandelten?«

Joy senkte nur schweigend den Kopf.

»Ich will diesen Punkt nicht weiter verfolgen«, fuhr Dr. Gazabee fort. »Schweigen heißt zustimmen, das werden Sie wohl wissen. Waren Sie nicht etwa wieder betrunken, als Sie die beiden Herren auf der Brücke zu sehen glaubten?«

»Ich war ganz nüchtern«, behauptete Joy.

»Mein Vorredner«, begann nun der Staatsanwalt, »fragte Sie, ob Sie aus Herrn Mowbrays Dienst entlassen worden seien. Sie fanden aber für gleichen Lohn Beschäftigung bei dem Pächter Westlake?«

Joy bejahte.

»Sie sind also in jener Nacht ganz nüchtern gewesen?« nahm Dr. Gazabee sein Kreuzverhör wieder auf. »Was hatten Sie an dem Abend alles getrunken?«

»Nur zwei Maß Ale.«

»Nur zwei Maß Ale!« rief Dr. Gazabee aus. »Ich kenne genügend Leute, die schon nach einem Maß nicht mehr fest auf den Füßen stehen. Aber sagen Sie uns jetzt, ob Sie vielleicht irgendwelchen Groll gegen den Angeklagten hegen?«

»Keineswegs. Ich trage ihm die Entlassung nicht nach und habe auch jetzt nur die Wahrheit gesagt.«

Da Dr. Gazabee erklärte, keine weiteren Fragen mehr stellen zu wollen, wurde Mercy Joy, die Frau des Zeugen, vorgerufen.

Sie bestätigte die Aussagen ihres Mannes in jeder Beziehung. Auch sie erklärte, nicht mehr zu wissen, was für einen Hut Herr Mowbray getragen habe, doch habe sie ihn in seinem Reitmantel erkannt. Dr. Gazabee gab sich redlich Mühe, sie in Widersprüche zu verwickeln. Das einzige, was er aus ihr herauspressen konnte, war das Geständnis, daß sie in beständiger Angst vor ihrem Manne lebte. Hingegen versicherte sie, daß Herr Mowbray stets besonders freundlich mit ihr gewesen sei, selbst noch nach der Entlassung ihres Mannes.

Es galt nun zu beweisen, ob John Mowbray an jenem 11. November ohne Wissen seiner Dienerschaft bereits um neun Uhr zurückgekehrt sein konnte.

Joscelyne, der langjährige Hausmeister auf Manningford House, berichtete, die Küchenräume lägen so entfernt von den Stallungen, daß man dort nur selten den Hufschlag eines Pferdes vernehmen könne. Das seltsame Wesen des Gutsherrn, seine häufige Abwesenheit und späte Rückkehr seien von der Dienerschaft oftmals besprochen worden, doch sei er, Joscelyne, stets allem Gerede entgegengetreten. Herr Mowbray habe bei seinen Ausflügen niemals die Dienste des Türhüters in Anspruch genommen; er benützte vielmehr eine kleine Pforte am Ende des Parkes, die er mit dem Griff seiner Reitpeitsche öffnen konnte, ohne vom Pferd zu steigen.

Joscelyne sowie die übrige Dienerschaft, die ihrem Herrn sehr zugetan schien, gab zu, daß Herr Mowbray öfters gedroht habe, sich an Francis Trinkall rächen zu wollen. Auch gestand der Hausmeister mit sichtlichem Widerstreben ein, daß Herrn Mowbrays Reitmantel, den die Zeugen Lukas und Mercy Joy beschrieben hatten, am 11. November nicht an seinem Platz hing – ein Umstand, der sehr gegen den Angeklagten sprach.

Während des nun folgenden Kreuzverhörs gelang es Dr. Gazabee jedoch, einige Punkte zugunsten seines Klienten festzustellen.

Er konstatierte, daß Mowbrays geheimnisvolle Ausflüge, obwohl sie seit dem Zwist mit Francis Trinkall häufiger geworden waren, bereits mehrere Monate früher begonnen hatten. Auch erklärte der erste Stallknecht es als durchaus nicht unwahrscheinlich, daß sein Herr in jener Nacht erst um zwei Uhr morgens heimgekehrt sei; er habe ihn selbst einmal um vier Uhr früh zurückkommen sehen.

Hierauf wurden noch die beiden Arbeiter vernommen, die am Morgen des 12. November auf ihrem Weg zu Westlakes Pachthof die Leiche Francis Trinkalls gefunden hatten.

Nachdem die Sitzung vier Stunden gedauert hatte, ließ der Richter eine kurze Pause eintreten, äußerte jedoch seine Absicht, den Prozeß noch am selben Tage zu Ende zu führen, »und wenn wir bis Mitternacht sitzen«, fügte er hinzu.

Auch den aufs höchste gespannten Nerven der Zuhörer schien die Unterbrechung willkommen, denn kaum hatte der Richter den Saal verlassen, so erhob sich ein lautes Stimmengewirr, ein Austausch der Meinungen über das Zeugenverhör und die Aussichten des Angeklagten.

Die einen hielten es für einen groben Fehlgriff der Polizei, den leeren Drohworten John Mowbrays so viel Bedeutung beigelegt zu haben, wodurch sie, wie gewöhnlich, auf eine falsche Fährte geraten sei. Doch diese Theorie wurde meist von den Damen des Auditoriums vertreten, die der junge Gutsherr durch sein einnehmendes Aeußere und seine tapfere Haltung für sich eingenommen hatte. Sie bewunderten die Ruhe und Furchtlosigkeit, mit der er den Fortgang des Prozesses beobachtete, und faßten dies als ein Zeichen seines Unschuldsbewußtseins auf. Hätten nicht seine Nerven in dem Kampf, den er mit dem Gerichte führen mußte, längst versagt? Auch war John Mowbray nicht der Mann, der ein Verbrechen beging und dann nicht die Folgen auf sich nahm.

Es gab aber auch andere, die kritischer urteilten und bedenklich den Kopf schüttelten. Sie fanden, daß die Anklage auf ziemlich festen Füßen stand. War nicht das Motiv zur Tat gefunden? War es nicht durch die Aussagen der eigenen Dienerschaft John Mowbrays bewiesen, daß er recht gut einige Stunden vor dem Mord unbemerkt nach Manningford hätte zurückkehren können? Ihrer Ansicht nach stand die Sache sehr schlecht für den Angeklagten, aber natürlich hielten sie mit ihrem Urteil zurück, bis es sich gezeigt hatte, wie Dr. Gazabee mit der Polizei und den Gerichtsärzten fertig werden würde.

»Wartet es nur ab!« bemerkte ein wohlgenährter Bürger von Lancaster zu seinen Bekannten. »Wartet es nur ab, bis ihr den Gazabee gehört habt! Ihr werdet schon sehen, wie der die Polizei und die Doktoren anpacken und zu Staub zermalmen wird, daß sie die eigene Mutter nicht wieder erkennt. Der Lukas Joy wird es nicht so bald vergessen, wie ihm Doktor Gazabee in dem Kreuzverhör auf den Zahn fühlte! Der sollte Herrn Mowbray gesehen haben? Warum konnte er denn nicht seinen Hut beschreiben, wie es ihm der Doktor so trefflich ins Gesicht gesagt hat? Wartet nur, dieser Londoner Rechtsanwalt wird den allzu klugen Herren vom Gericht noch eine harte Nuß zu knacken geben!«


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