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2.

Die Unterredung mit dem älteren Partner verlief verhältnismäßig glimpflich, und so machte sich Dr. Chancellor bald an die Prüfung des Aktenmaterials, das Helen Mowbray ihm gegeben und das Dr. Serle, der Rechtsanwalt der so schwer betroffenen Familie, für die Verteidigung des Angeklagten zusammengestellt hatte.

Die Aufgabe war keine leichte, denn bei der gerichtlichen Leichenschau, die mehrere Tage beansprucht hatte, waren so viele Zeugen vernommen worden, daß das Protokoll im Verhältnis zu der scheinbaren Einfachheit des Falles ungewöhnlich umfangreich erschien. Außer dem Protokoll fand Dr. Chancellor noch eine Menge loser Notizen über die beiden Familien Mowbray und Trinkall sowie über deren Beziehungen zueinander; ebenso verschiedene Theorien und Vermutungen über das Verbrechen, die den Zweck verfolgten, John Mowbrays Unschuld darzulegen.

Nach mehrstündigem Studium dieses Materials gelang es dem jungen Advokaten schließlich, sich ein ziemlich klares Bild von der Sache zu machen und eine zusammenhängende Reihenfolge der Tatsachen zu notieren.

Demnach lag der Fall wie folgt:

Der Angeklagte, John Mowbray, Besitzer großer Eisenwerke in Avonbridge, lebte auf seinem fünf Meilen von der Stadt entfernten Gute Manningford House. Sein Nachbar Francis Trinkall, der eine Garnfabrik in Avonbridge besaß, wohnte ebenfalls in dem kleinen Ort Manningford.

Das ehemals sehr große Landgut der Mowbrays war unter dem Großvater des jetzigen Besitzers sehr zurückgegangen, da dieser Spielschulden halber einen bedeutenden Teil seiner Ländereien verkaufen mußte. Sie gingen in die Hände eines gewissen Trinkall über, der eine luxuriöse Villa darauf erbaute und sie im Gegensatz zu dem viel bescheideneren Landhaus seines Nachbars Manningford Hall nannte.

Der Stolz der Mowbrays litt sehr unter der notgedrungenen Zerstückelung ihres alten Familienbesitzes; niemand aber fühlte es schmerzlicher als sein Sohn Ralph Mowbray, der es nicht verwinden konnte, daß ein Teil seines Erbgutes in fremde Hände gefallen war. Es war der Traum seines Lebens, so viel zu verdienen, daß er die verlorenen Grundstücke zurückkaufen konnte.

Durch eisernen Fleiß und große Sparsamkeit gelang es ihm nach dem Tode seines Vaters auch wirklich, ein kleines Kapital zu sammeln und, indem er auf seinem Grund und Boden nach Erzen grub, ein Eisenwerk zu begründen. Unter seiner umsichtigen Leitung blühte das Werk so rasch auf, daß es ihn nach wenigen Jahren zum reichen Mann machte. Nun hätte er mit Leichtigkeit die verlorenen Grundstücke zurückerwerben können, aber der damalige Besitzer Trinkall ließ sich auf keinen Handel ein und kleidete seine Weigerung in so spöttische Worte, daß die dadurch erzeugte Feindschaft zwischen den beiden Männern bis zu ihrem Lebensende währte.

Kurz nach dem Hinscheiden Trinkalls starb auch Ralph Mowbray, nachdem er auf dem Totenbett seinem Sohn John ans Herz gelegt hatte, nichts unversucht zu lassen, den Familienbesitz in seinem ursprünglichen Umfang wieder herzustellen. Der Sohn, der diesen Ehrgeiz seines Vaters in vollem Maße teilte, bemühte sich redlich, das gegebene Versprechen zu halten, aber der junge Trinkall wollte genau so wenig wie sein Vater, etwas von einem Rückkauf hören. Die beiden entzweiten sich nun zwar nicht wie ihre Väter – im Gegenteil, sie verkehrten sowohl geschäftlich als gesellschaftlich sehr viel miteinander – aber John Mowbray machte keinen Hehl daraus, wie schwer ihn die hartnäckige Weigerung seines Nachbars kränkte.

Schließlich kam es doch zu einem offenen Bruch, als sie gleichzeitig um dasselbe junge Mädchen, Annie Sybil Lyle, ein Wesen von großer Schönheit, warben. Miß Lyle hatte einen sehr schwankenden und launenhaften Charakter, und ihre Gedanken standen nach nichts anderem, als stets hübsch gekleidet zu sein und recht vielen Männern den Kopf zu verdrehen. Das gelang ihr nun ausgezeichnet mit John Mowbray, der sich sinnlos in sie verliebte und ihr beharrlich den Hof machte, obwohl, wie sie ihm oft sagte, er eigentlich nicht der Mann war, den sie zu heiraten wünschte. Schließlich kam es doch zu einer Verlobung, und alle hatten sich daran gewohnt, in ihr die künftige Gutsherrin von Manningford House zu erblicken, als plötzlich Miß Lyle ihrem Bräutigam, ohne daß irgendein Streit oder dergleichen vorhergegangen war, in einem Brief mitteilte, daß sie die Verlobung als gelöst betrachte.

John Mowbray faßte die Sache zunächst als eine vorübergehende Laune auf, mußte aber bald erkennen, daß es ihr vollkommen ernst mit ihrem Entschluß war.

Eine Zeitlang benahm er sich wie ein Rasender, und man konnte geradezu für seinen Verstand fürchten. Schließlich beruhigte er sich aber wieder und ließ die Dinge ihren Lauf nehmen.

Etwa ein Jahr später brachte der »Lancaster Tagesbote« die Mitteilung, daß sich Fräulein Lyle und Herr Trinkall verlobt hätten. Als John Mowbray davon erfuhr, wiederholten sich jene Wutanfälle, die schon damals das Entsetzen seiner Schwester und seiner Tante hervorgerufen hatten. Er beschuldigte jetzt geradezu Trinkall, ihm hinterlistig seine Braut abspenstig gemacht zu haben und stieß mehrmals und zum Teil vor Zeugen wilde Drohungen gegen ihn aus.

Zugleich veränderte sich seit jener Zeit sein ganzes Wesen. Er wurde mürrisch und schweigsam und zog sich völlig von der Gesellschaft, deren Zierde er bisher gewesen war, zurück.

Auch seine Lebensweise erhielt einen mysteriösen Anstrich. Er war oft tagelang abwesend, ohne dafür einen Grund anzugeben; selbst seiner Schwester Helen gegenüber, die mehr als einmal versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen, blieb er verschlossen. Es konnten keine Geschäftsangelegenheiten sein, die ihn fortriefen, denn sein Vater hatte ihn zu einem Gutsbesitzer erzogen, der sich um die Leitung seiner Eisenwerke in Avonbridge nicht zu kümmern brauchte.

Was also trieb ihn so häufig von seinem Hause fort? Darüber zerbrachen sich viele den Kopf, unter ihnen auch Hauptmann Kendall, ein in der Nachbarschaft lebender pensionierter Offizier. Er stand auf freundschaftlichem Fuß mit den beiden jungen Leuten und hatte sich schon wiederholt bemüht, eine Versöhnung zwischen ihnen herbeizuführen, jedoch stets vergebens. Schließlich gelang es ihm aber, John Mowbray zu bewegen, sich zu einer Zusammenkunft mit Trinkall, der inzwischen Fräulein Lyle geheiratet hatte, in Kendalls Wohnung bereit zu finden. Auch Trinkalls Frau sollte anwesend sein.

Am verabredeten Abend jedoch erschien nur Francis Trinkall, der seine Gattin wegen nervöser Kopfschmerzen, an denen sie litt, entschuldigte. Mowbray blieb ebenfalls – doch ohne Motivierung – fern, und seine Schwester Helen, die sich bei Verwandten aufhielt, war zu dieser Zusammenkunft nicht eingeladen worden.

Bald nach zehn Uhr verließ Trinkall das Haus des Hauptmanns, um, wie er sagte, nach seiner kranken Frau zu sehen. Am folgenden Morgen wurde er als Leiche, mit Stichwunden, im Hals, in Brust und Rücken, am Flußufer gefunden.

Von dem Täter fehlte jede Spur. Merkwürdig war auch, daß der Schauplatz des Verbrechens in entgegengesetzter Richtung von Trinkalls Wohnsitz lag. Was konnte ihn in der dunklen Novembernacht an jenen einsamen Ort am Fluß geführt haben?

Von einem vielleicht stattgefundenen Kampf zwischen dem Mörder und seinem Opfer war nichts zu entdecken, da der Boden durch den eingetretenen Frost hartgefroren war. Auch die Nachforschungen nach der Waffe, mit der die totbringenden Wunden beigebracht worden waren, blieben erfolglos. Keine Waffe wurde gefunden, wohl aber das Armband einer Dame, und zwar in nächster Nähe des Tatortes, an einer Stelle, die im Volksmund »Liebesruhe« hieß. Es war dies eine rohgezimmerte Bank unter einer uralten Eiche von mächtigem Umfang. Im Winter wurde das Plätzchen allerdings selten benutzt; im Sommer jedoch hätte man an schönen warmen Abenden sich kaum unter dem Baum niederlassen können, ohne sich den ewigen Haß einiger Liebespaare zuzuziehen.

Der Fund des Armbandes verursachte der Polizei viel Kopfzerbrechen; auch Dr. Serles Scharfsinn fand keine Lösung dieses Rätsels. Das Schmuckstück war ein breiter Goldreifen mit einem erhabenen Monogramm aus Rubinen und Saphiren, hatte aber besonders an der Innenseite starke Schrammen. Die Initialen des Monogrammes lauteten: A. S. L., was von einigen, die es erfahren hatten, als die Initialen des Mädchennamens der Frau Trinkall, »Anny Sybil Lyle«, gedeutet wurde.

Die junge Frau leugnete jedoch jedes Besitzrecht auf das kostbare Juwel, und erklärte, niemals einen solchen Schmuckgegenstand besessen zu haben. Durch diese Erklärung wurde die Sache noch geheimnisvoller und weder der Staatsanwalt noch der Verteidiger waren imstande, den Eigentümer des mysteriösen Fundstückes festzustellen.

Das Dörfchen Manningford hatte kaum fünfhundert Einwohner, hauptsächlich Taglöhner, die auf den benachbarten Höfen arbeiteten. Sie alle waren über die feige Mordtat entsetzt, und sobald es erwiesen war, daß um die kritische Zeit kein Fremder in der Gegend gesehen worden war und daher auch kein Anhaltspunkt für einen bestimmten Täter gefunden werden konnte, lenkte sich der allgemeine Verdacht auf John Mowbray, dessen gespanntes Verhältnis zu Francis Trinkall jeder im Dorf kannte.

Die Ortspolizei wartete jedoch noch die Ankunft des Grafschaftsinspektors ab, bevor sie in dieser Richtung irgendwelche Schritte zu unternehmen wagte. Sie erstattete dem Polizeichef Brabazon nach seinem Eintreffen Bericht, und dieser begab sich daraufhin zu John Mowbray, mit dem er eine längere Unterredung hatte.

Als der Gutsherr auf Manningford House von der Ermordung Trinkalls erfuhr, geriet er in größte Erregung, was von vielen als Schuldbewußtsein gedeutet wurde. Sobald der Polizeichef jedoch einen Alibibeweis von ihm forderte, fand er seine gewohnte Ruhe und Kaltblütigkeit wieder. Er erklärte, frühzeitig in Angelegenheiten privater Natur fortgeritten und erst spät abends, nachdem die Dienerschaft sich bereits zur Ruhe begeben hatte, zurückgekehrt zu sein.

Ein weiterer Aufschluß war von ihm nicht zu erlangen, da er behauptete, daß seine Ehre ihm verbiete, mehr zu sagen. Er verweigerte jede Auskunft über das Ziel und den Zweck seines Rittes an jenem Tage, selbst dann noch, als Brabazon ihm vorhielt, daß seine wiederholt geäußerten Drohungen gegen Trinkall sehr zu seinen Ungunsten gedeutet werden könnten.

Ein anderer Umstand, der ebenfalls ins Gewicht fiel, war, daß er seit seiner Rückkehr mit einem verstauchten Fuß zu Bett lag, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sein Gesicht war zerschunden und außerdem fanden sich an seinem Körper noch zahlreiche Beulen und Abschürfungen vor, die recht gut auf einen Kampf zurückgeführt werden konnten.

Auf Befragen Brazabons erklärte er die Verletzungen mit einem Unfall, über den er sich jedoch nicht näher äußern wollte, um sein Geheimnis nicht preiszugeben.

Auch dazu schwieg er, daß während der gerichtlichen Totenschau ein Ehepaar bezeugt hatte, daß es die Herren Mowbray und Trinkall kurz nach zehn Uhr zusammen auf dem Weg zum Flußufer gesehen, eine Anzeige, die wohl geeignet schien, den Verdacht gegen den Gutsherrn zu verstärken.

Obwohl Dr. Chancellor bei der Durchsicht der Akten verschiedene schwache Punkte in der Beweiskette der polizeilichen Anklage gegen John Mowbray entdeckte, so konnte er sich doch nicht verhehlen, daß auch manches sehr zu Ungunsten seines nunmehrigen Klienten sprach und daß die Zeit für eine umsichtige, erfolgreiche Verteidigung viel zu kurz bemessen war, da die Schwurgerichtssitzungen bereits in einigen Tagen beginnen sollten und John Mowbrays Fall als erster zur Verhandlung kam.


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