Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13.

»Wollen Sie mich zu den Ställen begleiten? Sie können sich dann selbst ein Pferd aussuchen.«

Mit dieser Einladung betrat Helen Mowbray das Wohnzimmer. Sie war in Reitdreß, und in der Hand hielt sie eine silberne Reitgerte.

Obwohl erst eine Woche seit Chancellors Ankunft verstrichen war, hatte die Anwesenheit des Rechtsanwaltes bereits einen günstigen Eindruck auf die junge Herrin von Manningford House ausgeübt. Ihre Züge waren belebter und freier, der Blick ihrer schönen Augen weniger ernst und trübe»und die strengen Linien um den Mund hatten ihre ursprüngliche Weichheit wiedergewonnen. Helen besaß von Natur ein heiteres Temperament. Die schweren Erlebnisse der letzten Monate hatten es fast zu zerstören vermocht, aber nun, da ihr die Hoffnung winkte, den befleckten Namen der Familie wieder zu Ehren zu bringen, John Mowbrays Unschuld beweisen zu können, brach es sich wieder Bahn. Auch die Notwendigkeit, den Anforderungen des täglichen Lebens zu entsprechen, ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit der Verwaltung des ausgedehnten Besitztums zuzuwenden, wirkte wohltuend auf sie ein.

Ihre Wangen erblühten aufs neue, und wie sie jetzt vor dem Rechtsanwalt in enganliegenden Reitdreß dastand, das die Ebenmäßigkeit ihrer schlanken Gestalt vorteilhaft zur Geltung brachte, war sie wirklich ein Anblick, der einen Mann leicht entflammen konnte.

Der Rechtsanwalt war klug genug gewesen, seit jener ersten Andeutung mit keinem weiteren Wort die Gefühle zu berühren, die ihm das schöne Mädchen einflößte. Instinktiv erriet er Helens Scheu, neue Bande anzuknüpfen, solange ihrem Namen noch ein Flecken anhaftete. So wartete er geduldig, bis das Schicksal die wirren Fäden der geheimnisvollen Ermordung Trinkalls lösen und er ans Ziel seiner Wünsche gelangen würde.

Die Stallungen, zu denen Helen ihren Gast geleitete, lagen in ziemlicher Entfernung außerhalb des Parkes. Früher befanden sie sich dicht hinter dem Herrenhaus und enthielten gleichzeitig die Wohnungen des Stallpersonals. John Mowbray gefiel aber diese Einrichtung nicht. Sobald er in den Besitz seiner Erbschaft gelangt war, ließ er die alten Gebäude niederreißen und neue errichten, die jedoch weiter vom Hause entfernt, an der Landstraße nach Avonbridge, gelegen waren. Das erklärte auch, warum John Mowbray nicht von seiner Dienerschaft gehört werden konnte, als er, wie er behauptete, in jener Nacht spät nach Hause zurückkehrte.

Dr. Chancellor wählte sich unten den Reitpferden einen prächtigen Hengst aus, dessen Haut, außer einem weißem Stern auf der Stirn, glänzend schwarz war. Don, so hieß das Tier, war John Mowbrays Lieblingspferd gewesen; er hatte es stets geritten, wenn er seine geheimnisvollen Ausflüge unternahm.

Helen, die für eine ebenso anmutige als vollendete Reiterin galt, bestieg einen wunderschönen Goldfuchs von überaus leichter Gangart.

Nachdem Dr. Chancellor und seine Begleiterin durch ein kleines Gittertor – dasselbe, das John Mowbray benützte, wenn er spät heimkehrte – den Park verlassen hatten, ritten sie in kurzem Galopp die Landstraße entlang, die über einen Hügel an der Hochlandsfarm vorüber nach Bloxton führte.

»Ich wünschte, der gute alte Don könnte sprechen«, bemerkte Helen mit einem Blick auf den Hengst. »Er würde uns gewiß so manches verraten, worüber wir noch im unklaren sind.«

»Das wäre möglich«, antwortete Dr. Chancellor. »Ich möchte ihm wirklich eines Tages die Zügel schießen lassen und sehen, wohin er mich trägt.«

»Das ist kein schlechter Gedanke«, entgegnete Helen, »denn der brave Don ist klug wie ein Mensch. Trotzdem bezweifle ich den Erfolg. Hätte mein Bruder sein Pferd in irgendeinem Wirtshaus eingestellt, so wäre dies sicher bekannt geworden. Er ließ es aber wahrscheinlich an einem einsamen Ort zurück und machte den Rest des Weges zu Fuß.«

»Auf jeden Fall werde ich es bald versuchen«, erklärte Dr. Chancellor. »Möglicherweise kann das Tier uns doch einen Anhaltspunkt geben, weshalb sein Herr so oft abwesend war.«

Dieser Entschluß entsprang dem Wunsch, nicht müßig zu bleiben, während Jannion die Spur der unbekannten Geliebten Trinkalls suchte. Dr. Chancellor hatte nicht die Absicht, ruhig den Schluß des Jahres abzuwarten, um den Inhalt des versiegelten Paketes, das John Mowbray seiner Schwester gegeben hatte, zu erfahren. Er wollte die Unschuld des Hingerichteten schon vorher, und zwar durch klare Beweise feststellen. Der beste Beweis wäre natürlich die Entdeckung des wirklichen Täters gewesen. Ebenso wichtig jedoch war es, ein Alibi für John Mowbray zu finden, das, selbst wenn der Schuldige nicht ermittelt werden konnte, genügte, den Toten von dem ihm zur Last gelegten Verbrechen freizusprechen.

Dr. Chancellor hatte noch einen weiteren Plan im Sinn. Die Widmung auf dem Armband machte es seiner Ansicht nach wahrscheinlich, daß sich in der Mordnacht eine fremde Person in Manningford aufgehalten hatte. Auch betrachtete er Helens Mitteilung, daß ein Zug um drei Uhr morgens von Bloxton abgehe, sowie ihren Verdacht, Pächter Trent könnte – vielleicht ohne es zu wissen – dem Mörder zur Flucht verholfen haben, als einen zu wichtigen Fingerzeig, um ihn unbeachtet zu lassen. Da Francis Trinkall nach dem ärztlichen Gutachten zwischen zehn und elf Uhr ermordet worden war, so hätte der Verbrecher hinreichend Zeit gehabt, Bloxton zu erreichen und den Frühzug zu benutzen.

Nachdem die Reiter die Spitze des Hügels erreicht hatten, führte ihr Weg sie an gut bebauten Feldern vorüber und dann abermals über eine Anhöhe, von der aus sie im Gegensatz zu der früheren fruchtbaren Landschaft ein wildromantisches Tal erblickten, das gänzlich unbewohnt und auf der einen Seite von ödem Marschland begrenzt war. Im Hintergrund der Landschaft schimmerte das Schienennetz der kleinen Ortschaft Bloxton, die sich um diesen Knotenpunkt der Eisenbahnlinie gebildet hatte.

Dr. Chancellor sagte sich, daß diese Strecke einem unbemerkten Entkommen des Mörders sehr günstig gewesen wäre, begriff aber nicht, wie ein Fremder, der die Gegend nicht kannte, darüber so gut hätte orientiert sein können. Diese Frage fand jedoch bald Lösung durch den Stationsvorsteher in Bloxton, der, nachdem Dr. Chancellor ihn um Auskunft über den Reiseverkehr des Monats November gebeten, bereitwillig in seinen Büchern nachschlug.

»Wir haben am 12. November für den Frühzug zwei Uhr dreißig fünf Reisende – alle nach London fahrend – eingetragen«, berichtete er.

»Es sind vier Fahrkarten dritter und eine zweiter Klasse ausgegeben worden. Die Karte zweiter Klasse war für eine Dame.«

»Wirklich?« rief Dr. Chancellor überrascht aus. »Woher wissen Sie das?«

»Weil ich damals selbst am Schalter stand. Der Verkehr ist hier oft sehr lebhaft, weil Bloxton Knotenpunkt verschiedener Linien ist. Die Leute, die von hier abfahren, sind meist Geschäftsleute, die gewöhnlich die dritte Klasse benutzen. Solange ich hier angestellt bin, hat noch keine Dame zu so ungewohnter Stunde eine Fahrkarte verlangt. Schon deshalb ist mir der Vorfall in Erinnerung geblieben.«

»Und wohin löste sie die Karte?« fragte Dr. Chancellor.

»Nach Lancaster«, antwortete der Stationsvorstand.

»In der Tat?«

»Ja, ich kann mich ganz genau daran erinnern.«

»War die Dame jung oder alt?« fragte Dr. Chancellor weiter.

»Vielleicht dreißig Jahre. Oder auch etwas jünger. Ich konnte ihr Gesicht nicht deutlich sehen, da sie einen Hut trug, der ihr Gesicht zum Teil verdeckte. Sie hatte es sehr eilig, und da der Zug schon zum Abfahren bereit stand, rief ich ihr zu, einzusteigen, während ich die Fahrkarte holte.«

»So würden Sie sie also nicht wiedererkennen?«

Der Stationsvorstand schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich glaube kaum«, meinte er. »Unsere Beleuchtung ist hier keine glänzende, und ich sah die Dame nur sehr flüchtig: kaum eine halbe Minute später ging der Zug ab. Vielleicht würde ich sie aber doch wiedererkennen, wenn ich sie sähe.«

»Sie wissen wohl nicht, wie sie zum Bahnhof gelangte, ob zu Fuß oder zu Wagen?«

»Doch, das kann ich Ihnen sagen. Pächter Trent von der Hochlandsfarm fuhr sie her. Ich sprach mit ihm, nachdem der Zug abgefahren war. Er könnte Ihnen sicher noch bessere Auskunft geben als ich.«

Dr. Chancellor dankte dem Beamten für seine Mitteilungen und kehrte zu Helen zurück, die ihn vor dem Bahnhofsgebäude erwartet hatte. Während sie den Heimweg einschlugen, berichtete er ihr das Resultat seiner Unterredung mit dem Stationsvorstand.

»Ihre Vermutung war richtig«, schloß er. »Trent half der Mörderin bei ihrer Flucht, und es hat sich auch ein Verdachtsmoment mehr gegen die Lester erhoben. Wer anderer als sie könnte nach Lancaster zurückgekehrt sein? Jetzt scheint es mir auch immer mehr, daß sie es war, die mich am Vorabend jenes unglückseligen Tages vor dem Gefängnistor ansprach.«

»Was ist das für eine Geschichte? fragte Helen. »Sie haben mir noch nicht davon erzählt.«

Dr. Chancellor berichtete ihr sein Abenteuer mit der Fremden, die damals so großes Interesse für den Verurteilten an den Tag gelegt hatte.

»Mein Gemütszustand war aber damals so verwirrt, daß ich mich nicht mehr an ihre Stimme und ihr Aussehen – selbst nur annähernd – erinnern kann. Vielleicht war sie es, vielleicht aber nur eine Neugierige. Jetzt aber, da wir schon so viel wissen, hoffe ich, daß ich die Frau, der Trinkall das Armband schenkte, aufspüren werde, selbst wenn Jannion nichts auf seiner Reise über sie in Erfahrung gebracht haben sollte.«

Ein freundlicher Blick aus Helens schönen Augen lohnte ihn für seinen Eifer.

»Ich werde Sie zu meinen Ritter erheben«, sagte sie scherzend. »Sie wissen ja, in alten Zeiten zogen die Ritter aus, bedrängten Frauen beizustehen.«

»Und nach Vollbringung ihrer Heldentaten führten sie gewöhnlich die von ihnen Befreite als Gattin heim. Doch lassen Sie uns diesen Vergleich nicht weiter ausspinnen: ich könnte sonst auf die Vermutung kommen. Sie hätten Ihre Worte ernst gemeint.«

Helen wandte ihm ihr Gesicht zu.

»Werden Sie mir es verzeihen«, sagte sie, »daß ich sie bitte, im Augenblick nicht mehr davon zu sprechen? Ich weiß, daß ich Ihre Treue anders lohnen müßte, allein ich lebe jetzt nur für einen Zweck: die Rechtfertigung meines Bruders. Alles andere tritt davor zurück.«

»Und wenn Sie Ihr Ziel erreicht haben werden, was dann?«

»So weit wollen wir nicht denken«, entgegnete Helen ausweichend. »Wer kann sagen, ob die Wahrheit je ans Tageslicht kommen wird? Es wäre grausam, Ihnen Hoffnungen zu machen, denn daran halte ich unerschütterlich fest: solange der Name der Mowbray entehrt ist, werde ich ihn nie mit dem eines Gatten vertauschen.«

Dr. Chancellor war klug genug, keinen Widerspruch gegen diesen Entschluß zu erheben, obgleich es ihn zu erfahren drängte, ob sie seine Liebe erwidere. Gedankenvoll ritt er neben ihr her, und auch sie wurde schweigsam. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie die Wolke bemerkte, die sein Gesicht überschattete und deren Ursache sie erriet. Seine Ergebenheit, sein Eifer für ihre Interessen ließen sie nicht ungerührt bleiben, allein noch war sie sich über ihre eigenen Gefühle nicht klar geworden. Was sie für Liebe hielt, war vielleicht nur eine unbegrenzte Dankbarkeit, obgleich sie sich ein gestand, daß seine Gegenwart sie wunderbar aufrichtete und belebte.

Dr. Chancellor hatte sicher einen besseren Lohn verdient als ihre spröde Zurückhaltung; dennoch durfte sie nicht anders handeln, ihn nicht den boshaften Pfeilen giftigen Spottes aussetzen. Nach dem schmachvollen Ende ihres Bruders war sie von der Gesellschaft gemieden, ausgestoßen worden; konnte sie ein gleiches Geschick über den Mann heraufbeschwören, der sich ihrer so großherzig, so ritterlich angenommen hatte? Ihr Herz sträubte sich dagegen, und immer wieder von neuem wiederholte sie sich, daß seine Liebe zu ihr ihm nur Unglück bringen werde, solange ihr Name in den Augen der Welt entehrt blieb.

»Pächter Trent wünscht Sie zu sprechen, Herr Doktor«, meldete der Haushofmeister, als der Anwalt mit Helen von dem Ritt nach Bloxton zurückkehrte. Dr. Chancellor wechselte seine Kleidung und begab sich dann in das Zimmer, das ihm als Bureau diente.

Hier saß Silas Trent und wartete auf ihn. Er war ein Mann in den Fünfzigern, und sein blasses Gesicht verriet Starrsinn und Verschlagenheit. Der unstete Blick der kleinen Augen ließen es nicht ratsam erscheinen, sich diesen Mann zum Feind zu machen.

Eine nur mühsam unterdrückte Unruhe malte sich in Trents Zügen, während er das Erscheinen des Rechtsanwaltes erwartete. Die Angelegenheit, die ihn unaufgefordert nach Manningford House geführt, betraf die Erneuerung seines jetzt abgelaufenen Pachtvertrages. Er wußte, daß er wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, denn Dr. Chancellor, an den ihn Fräulein Mowbray gewiesen, befand sich schon über eine Woche auf dem Gut, ohne von Trents Existenz Notiz zu nehmen.

Das beunruhigte den Pächter, und er hielt es daher für angezeigt, selbst die Initiative zu ergreifen. Nur ungern hätte er den Hof verlassen; er wünschte zu bleiben, nicht aus Anhänglichkeit an die Scholle, die ihn ernährte, sondern weil er insgeheim besondere Vorteile daraus zog, und aus diesem Grunde wollte er nichts unversucht lassen, sich die Pacht zu sichern. Was ihm dabei störte und beunruhigte, war der Gedanke, daß er anstatt mit einer unerfahrenen Frau, wie er gehofft, mit einem weltklugen, gesetzeskundigen Mann zu tun haben werde.

Verlegen erhob er sich von seinem Stuhl, als Dr. Chancellor das Zimmer betrat, fuhr sich mit den langen, dürren Fingern durch das bereits stark ergraute Haar und heftete einen scharfen Blick auf den Advokaten, als suche er die Stärke des Gegners zu ermessen.

Dr. Chancellor nahm vor dem Schreibtisch Platz, ordnete einige Papiere und wandte sich dann an Trent.

»Wer war die Dame«, fragte er, »die Sie an jenem Abend, als Herr Trinkall ermordet wurde, nach Bloxton fuhren?«

Diese unerwartete Frage traf den Pächter wie eine Kugel. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Ihm lag nur die Erneuerung seines Vertrages im Sinn. Um sie zu erlangen, hätte er ruhig alle Vorwürfe über seine schlechte Bewirtschaftung des Bodens hingenommen und würde die umfassenden Verbesserungen zugesagt haben – natürlich ohne die Absicht, dieses Versprechen zu halten. Der plötzliche, von der eigentlichen Sache so weit abliegenden Angriff des Rechtsanwaltes brachte ihn daher aus der Fassung. Doch nicht für lange. Seine Fuchsnatur kam ihm rasch wieder zur Hilfe.

»Gütiger Himmel, Herr Doktor«, sagte er mit erstaunlicher Unverfrorenheit, »ich wußte im ersten Augenblick gar nicht, wen Sie meinten. Die Dame war meine Nichte. Ich fuhr sie damals nach Bloxton, weil sie in London eine Stellung als Wirtschafterin angenommen hatte.«

»Wie heißt Ihre Nichte und wo wohnt sie? fragte Dr. Chancellor kurz, indem er eine Feder ergriff und sich zum Schreiben anschickte.

»Sie heißt Mary Smith«, erwiderte Trent und strich sich über sein Kinn. »Die Adresse ist mir allerdings entfallen, aber ich kann meine Frau fragen, die wird's wissen.«

Aergerlich warf Dr. Chancellor die Feder auf den Tisch.

»Wie können Sie wagen«, rief er aufgebracht, »mir solche falsche Angaben zu machen? Wenn Sie den Hof so schlecht bewirtschaften, wie Sie plumpe Lügen anbringen, so tat Herr Mowbray wohl daran, Ihnen die Pacht zu entziehen. Die junge Frau war weder Ihre Nichte, noch eine Wirtschafterin. Bevor Sie sie nach Bloxton brachten, hatten Sie sie nie gesehen. Das ist alles erwiesen.«

»Wenn Sie so viel wissen«, warf Trent rasch ein, »weshalb fragen Sie mich dann?«

»Um Ihnen die Möglichkeit zu geben, Ihre Tage am eigenen Herde zu beschließen anstatt im Gefängnis, das Sie reichlich verdient hätten«, lautete die strenge Antwort. »Sie haben der Person, die Trinkall ermordete, zur Flucht verholfen: das ist eine strafbare Handlung.«

»Wenn die Person ihn ermordete, wofür wurde dann der andere gehängt?« fragte Trent in zynischem Ton.

»Sie erbärmlicher Schurke!« rief Dr. Chancellor in höchster Entrüstung aus. »Wagen Sie es in diesem Hause mit einem Wort Herrn Mowbrays Unschuld zu bezweifeln, so bringe ich Sie geradewegs ins Gefängnis und verklage Sie als Mitschuldigen an der Ermordung Herrn Trinkalls. Sie verhalfen der Person, die die Bluttat beging, zur Flucht, und anstatt Herrn Mowbray durch Ihre Aussage zu retten, schwiegen Sie feige und ließen den Unglücklichen kalten Blutes für ein Verbrechen büßen, das er, wie Sie wußten, nicht verübt hatte. Wie wollen Sie Ihre schändliche Handlungsweise rechtfertigen?«

Trent wurde totenblaß. Er stand wie gelähmt unter der Wucht dieser Anklage. Schweigend starrte er vor sich hin.

»Haben Sie denn kein Gewissen, Mensch?« fuhr Dr. Chancellor eindringlich fort. »Leider ist es zu spät, das Unrecht wieder gutzumachen, das Sie durch Ihr verbrecherisches Schweigen begangen haben. Die Schuld an Herrn Mowbrays Tod lastet auf Ihnen, und die einzige Sühne, die Sie für Ihre Freveltat bieten können, ist ein offenes Bekenntnis, in welcher Weise Sie an dem Verbrechen beteiligt waren. Als Fräulein Mowbrays Rechtsanwalt werde ich Ihnen in ihrem Namen die Bürgschaft geben, daß man Sie nicht gerichtlich belangen wird.«

Trent überlegte einen Augenblick, dann sagte er kurz: »Gut, wenn Sie mir das schriftlich geben, bin ich bereit, Ihnen zu sagen, was ich von der Sache weiß.«

Dr. Chancellor ergriff ein Blatt Papier, warf rasch einige Zeilen darauf und reichte dem Pächter die Bürgschaft.

Trent las das Dokument aufmerksam durch und steckte es dann in die Tasche.

»So«, sagte er, »nun will ich Ihnen alles berichten. Vor Gott erkläre ich aber, daß ich an jenem Abend, als die Person nach Bloxton fuhr, nicht ahnte, daß sie mit dem Mord in Verbindung stand. Das erfuhr ich erst später. Ich kehrte in meinem Wägelchen von Avonbridge zurück, als sie mir in der Nähe der Brücke begegnete und mich anrief, weil sie wissen wollte, ob sie von Avonbridge noch einen Zug nach London bekäme. Auf meine Antwort, es gehe nur um halb drei Uhr morgens ein Zug von Bloxton ab, bot sie mir zehn Schilling, wenn ich sie hinfahren wollte. Sie erklärte mir, sie sei in London in Stellung, habe in Manningford Freunde besuchen wollen, sie aber nicht getroffen, und da sie in der Gegend fremd sei, zöge sie vor, direkt nach London zurückzufahren. Wir sprachen unterwegs sehr wenig miteinander; sie war auffallend still, und ich bin gerade auch kein Schwätzer. Sie erreichte den Zug mit knapper Mühe, aber sie kam doch noch mit.

Der Polizei, die nach dem Mord auch bei mir nachfragte, sagte ich nichts von dieser Frau, weil ich keinen Verdacht gegen sie hatte. Erst als das Armband gefunden wurde, dachte ich an sie, aber ich hielt es für bequemer und einfacher zu schweigen. Auch glaubte ich nicht, daß Herr Mowbray auf so unbestimmte Verdachtsgründe hin wirklich verurteilt werden würde. Ich habe auch gewußt, daß die Joys sich irrten, als sie sagten, sie hätten Herrn Mowbray an seinem Mantel erkannt. Es war der weite Regenmantel der Frau, den sie sahen. Na, sie konnten sich wohl täuschen, denn es war eine recht nebelige Nacht und vom Mond nicht viel zu sehen. Das ist alles, was ich weiß.«

Dr. Chancellor nahm Trents Aussage zu Protokoll und ließ sie von dem Hausmeister als Zeugen unterschreiben.

»Wie ist's nun mit dem Hof?« fragte Trent und griff nach seinem Hut. »Kann ich bleiben.«

»Sie werden nur eine kurzfristige Verlängerung erhalten«, antwortete der Rechtsanwalt. »Wir wollen erst sehen, ob Sie den Hof wirklich anständig bewirtschaften werden.«

»Verwünscht!« murmelte Trent vor sich hin, als er das Zimmer verließ. »Auf diese Weise werde ich doch noch einen Haufen Geld hineinstecken müssen.«

Bald nach seinem Weggang trat Helen bei Dr. Chancellor ein.

»Haben Sie irgendwelche Auskunft von Trent erlangt?« fragte sie.

Schweigend reichte ihr der Rechtsanwalt das Dokument, das sie mit gemischten Gefühlen – halb voll Zorn über die niedrige Gesinnung des Pächters, halb voll Befriedigung über die ihren Bruder entlastende Aussage – durchlas.

»Sie haben also Trent mit Recht in Verdacht gehabt«, sagte Dr. Chancellor, als ihm Helen das Blatt zurückgab. »Ich habe nämlich eine Entdeckung gemacht, die möglicherweise für uns von Wichtigkeit sein könnte. Bei der Durchsicht des letzten Kontoauszuges, den die Bank uns geschickt hat, fand ich, daß in den letzten zwölf Monaten wiederholt beträchtliche Summen ohne ersichtlichen Zweck abgehoben wurden. Einige der Beträge lauten auf Ihren Bruder selbst, und ihre Höhe ist mir aufgefallen. Die Abhebung der Summen geschah meist zwei bis drei Tage vor einem der geheimnisvollen Ausflüge Ihres Bruders. Außerdem lauten vier Beträge auf einen gewissen Fisher, der jedoch unauffindbar ist. Die letzte Auszahlung an Fisher wurde im Kontobuch am 14. November eingetragen, allein der Scheck war bereits am 11. November – dem Tag der Ermordung Trinkalls – ausgestellt worden. Diese in eine Londoner Bank gezahlte Summe ist sehr hoch – sie beläuft sich auf fast tausend Pfund.«

»Tausend Pfund!« rief Helen überrascht aus.

»Die genaue Höhe dieser unerklärlichen Zahlungen beträgt 7341 Pfund», berichtete Dr. Chancellor weiter. »Um solchen Forderungen zu entsprechen, muß das Stammkapital herangezogen worden sein. Es fragt sich nun, für wen dies geschehen und wer dieser Fisher ist.«

»Ja, wer das wüßte«, seufzte Helen. »Ich habe keine Ahnung, für welchen Zweck mein Bruder diese Summen gebraucht hat. Da stehen wir abermals vor einem Rätsel. Glauben Sie die Lösung finden zu können?«

»Ich werde wenigstens alles tun, um sie herauszubekommen«, versprach der Rechtsanwalt, »In der Verfolgung der Mörderin müssen wir ohnehin eine kurze Pause eintreten lassen, bis Jannion zurückgekehrt sein wird. Ich erwarte ihn in spätestens fünf bis sechs Tagen. Er wird hoffentlich das noch restliche Beweismaterial mitbringen, das wir benötigen. Inzwischen möchte ich gern den Versuch mit Don machen. Vielleicht bringt uns das kluge Tier auf die Spur des geheimnisvollen Herrn Fisher.


 << zurück weiter >>