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6.

Den letzten, feierlich verlesenen Worten des Angeklagten, die besonders auf das Auditorium großen Eindruck zu machen schienen, folgte eine kurze Pause.

Die rasch zunehmende Dämmerung des trüben Wintertages gab dem Saal ein düsteres Aussehen, das auch von den durch die Gerichtsdiener angezündeten Lampen nur wenig gemildert wurde.

Auf Aufforderung des Vorsitzenden erhob sich jetzt der Staatsanwalt, Sir Browbeat, zu seiner Rede.

Sie brachte nichts Neues und Ueberraschendes. Es war ganz offensichtlich, daß der Staatsanwalt sich in der Rolle des Anklägers diesmal nicht wohl fühlte, obwohl ihm niemand vorwerfen konnte, daß er die Rolle, für die ihn der Staat bezahlte, nicht nach besten Kräften spielte. Nach seiner Meinung war der Indizienbeweis unwiderleglich. Hatte der Angeklagte auch nicht gestanden, so konnte doch niemand anderer als er der Mörder sein. Es lag etwas Mechanisches in der Art, in der er die Beweiskette den Geschworenen vor Augen führte. Schließlich forderte er die strengste Strafe für den Angeklagten und setzte sich nieder, sichtlich froh, seine unangenehme Aufgabe erledigt zu haben.

Das Auditorium nahm seine Rede mit eisigem Schweigen auf, und alle Augen hingen jetzt erwartungsvoll an der hohen Gestalt Dr. Gazabees, der sich erhoben hatte, um sein Plädoyer zu beginnen.

Zwei Ursachen, so begann er, hätten zu der gegenwärtigen Gerichtsverhandlung Anlaß gegeben – das Schweigen des Angeklagten über seine Handlungen am 11. November und die Unfähigkeit der Polizeiorgane.

Was nun das erstere anlange, so berufe er sich auf die Worte, die der Polizeichef über diesen Punkt geäußert habe. Brabazon habe mit dem Freimut eines Mannes, der das Leben von allen Seiten her kennengelernt habe, bestätigt, daß es Verhältnisse gäbe, in denen ein ehrlicher Mensch sein Leben nicht mit einem Verrat erkaufen würde. John Mowbrays eigene Worte bei der ersten öffentlichen Untersuchung hätten gelautet:

»Ich habe mit einem heiligen Eid beschworen, diese Dinge als ein Geheimnis zu betrachten, und bin entschlossen, diesen Eid zu halten, sollte es mich auch mein Leben kosten.«

Nachdem der Richter an dieser Stelle einige Bemerkungen gemacht hatte, lehnte Dr. Gazabee es ab, die Frage zu erörtern, ob der Angeklagte berechtigt gewesen sei, die Rücksicht auf seine Ehre beiseite zu setzen und, unbekümmert um die Folgen für andere, seinen Schwur zu brechen. Nur ein Feigling würde sein Leben auf solche Weise erkaufen. Wenn es dem Angeklagten möglich gewesen wäre, eine offene Erklärung über die Angelegenheit, die ihn von Manningford wegrief, zu geben, und wenn die Polizei besser ihre Pflicht getan hätte, so befände er sich jetzt nicht in Haft und stände nicht, um seine Freiheit und sein Leben ringend, vor dem Richter.

Man habe John Mowbray einige leere Drohworte gegen Francis Trinkall ausstoßen gehört, die kein Mensch ernst genommen hatte, aber als Trinkall nun ermordet aufgefunden wurde, hatte selbstverständlich der Mann, der Drohungen gegen ihn geäußert, die Tat begangen. Welch leichtfertige Schlußfolgerung! Und dennoch sei auf dieser unlogischen Basis die ganze gerichtliche Untersuchung aufgebaut worden. Sie müsse aber vor einem unparteiisch richtenden Verstand wie ein Kartenhaus zusammenstürzen, Die Geschworenen würden den Drohungen des Angeklagten sicher keine Bedeutung beimessen. Eine einfache Ueberlegung werde ihnen zweifellos sagen, daß der Mann, der kein Geheimnis aus seiner Abneigung mache und seinem Groll so offen Ausdruck verleihe, der letzte sei, der seinen Worten die Tat folgen lasse. Er würde nie daran gedacht haben, seine Drohungen zur Ausführung zu bringen; sie seien leerer Schall gewesen, und in diesem Lichte mögen auch die Geschworenen sie betrachten und sie, wie die meisten Zeugen, für belanglos halten.

Er richtete dann einen heftigen Angriff gegen die Art und Weise, wie die Untersuchung geführt worden war, und unterzog das Verhalten der Polizei einer strengen Kritik. Sie habe es versäumt, den Eigentümer des Armbandes zu suchen, das man am Tatort gefunden habe und das die Initialen der Gattin des Ermordeten aufweise.

Da jedoch Dr. Gazabee leider selbst nicht imstande war, diesen merkwürdigen Umstand aufzuklären, so begnügte er sich damit, die Nachlässigkeit der Polizei in scharfen Ausdrücken zu rügen und ihr vorzuwerfen, daß sie sich nicht die Mühe genommen habe, eine weitere Erklärung für das geheimnisvolle Verbrechen zu suchen. Es genügte ihr ja anscheinend vollkommen, äußerte er in bitterem Hohn, daß der Angeklagte einmal einige nichtssagende Drohungen ausgestoßen habe und aus Ehrengründen gezwungen gewesen sei, über sein Tun und Lassen an jenem kritischen Tag zu schweigen. Und weil er nicht jene Aufklärung, die man von ihm verlangte, gegeben habe, so sei er eben in den Augen der Polizei der Mörder.

Und während sie sich abmühte, ihre haltlose Theorie zu begründen, laufe der wirklich Schuldige frei umher und lache sich ins Fäustchen, daß es so leicht sei, die Polizei zu täuschen und zum Narren zu halten.

Andererseits sei die Absicht der Gerichtsbehörde, die voreilige Schlußfolgerung der Polizei zu unterstützen, nur allzu deutlich. Der Vorsitzende sei einfach über die wichtige Entdeckung des Armbandes am Tatort hinweggegangen, bis ihn der Verteidiger darauf aufmerksam gemacht habe. Die Verletzungen, die Polizeichef Brabazon an dem Angeklagten wahrgenommen, seien bisher nur erwähnt worden, um darzutun, daß John Mowbray mit diesen nicht bis Manningford hätte reiten können, und dadurch seine Aussage, daß er erst um zwei Uhr morgens zurückgekehrt sei, zu entkräften.

Es scheine ihm, wie es zum Beispiel der Staatsanwalt getan habe, vollkommen unlogisch, einerseits einen Unfall als Erklärung für die Verletzungen abzulehnen und andererseits mit Stillschweigen darüber hinwegzugehen, daß zwischen dem Mörder und seinem Opfer allem Anschein nach gar kein Kampf stattgefunden habe.

Sei es denn ferner möglich, auf das Zeugnis von Lukas und Mercy Joy hin die Aussage des Angeklagten zu bezweifeln? Die Geschworenen müßten sich doch erst überzeugen, ob das Ehepaar wirklich glaubwürdig sei und wenn sie sich ein wenig auf Menschenkenntnis verstünden, müßten sie sich sagen, daß niemand den Worten eines entlassenen Arbeiters, der gegen seinen ehemaligen Chef aussagt, Glauben schenken würde. Ueberdies habe sein Zeugnis keine andere Bestätigung als das seiner Frau, die er mißhandle und die in beständiger Furcht vor ihm lebe. Er bitte die Geschworenen, nicht zu vergessen, zu welcher Zeit die beiden Trinkall und Mowbray gesehen haben wollen. Es war die Polizeistunde der Wirtshäuser, und Mann und Frau seinen eben aus einem solchen zurückgekehrt. Ueber dem Fluß habe ein dichter Nebel gelegen und es seien in dieser Atmosphäre nur unbestimmte Schatten wahrzunehmen gewesen. Sei es nicht denkbar, daß die beiden, als am nächsten Tag die Bluttat bekannt wurde, Dinge gesehen haben wollten, die sie in Wirklichkeit gar nicht gesehen hatten!?

In dieser Weise fuhr Dr. Gazabee fort, die Aussage eines jeden einzelnen Zeugen zu analysieren, verspottete den Skeptizismus der Aerzte, die nicht glauben wollten, daß ein rasendes Weib die Kraft besäße, solche Wunden zuzufügen, wie sie der Körper des Ermordeten aufwies, und schloß mit einem zündenden Appell an die Geschorenen, John Mowbray von der Anklage des Mordes freizusprechen.

Der berühmte Verteidiger hatte sich in seinen Schlußworten selbst übertroffen, und als er geendet, bewiesen die Tränen der anwesenden Frauen und die gerührten Mienen der Männer, welch tiefen Eindruck seine Beredsamkeit hervorgerufen hatte.

Es überraschte einigermaßen, daß Sir Browbeat auf das Recht des Gegenplädoyers, das ihm als Staatsanwalt zustand, verzichtete. Daß es sich jedoch um keine großmütige Geste von seiner Seite handelte, bewies jetzt Lord Whitehouse, der sich nun erhob, um in ruhiger, sachgemäßer Form den Tatbestand noch einmal kurz zusammenzufassen. Die Zuhörer merkten bald heraus, daß der Richter das Amt des Staatsanwaltes übernommen hatte, und zwar mit einer Geschicklichkeit, dessen sich der andere nicht hätte rühmen können.

Sir William Whitehouse gehörte zu jener noch nicht ganz ausgestorbenen Klasse von Richtern, die, nach Erlangung der höchsten juristischen Würden, ihren Advokatenberuf doch beibehalten. Hätte er sich anstatt der Jurisprudenz der Literatur gewidmet, so würde er sich auf diesem Gebiet, dank seinem literarischen und dramatischen Talent, hohes Ansehen erworben haben. Außerdem besaß er eine reiche Phantasie, eine besondere Begabung, im geeigneten Augenblick dramatisch zu wirken, und eine leichte elegante Ausdrucksweise, um die ihn mancher Rechtsanwalt beneidet hätte.

Es war von ihm bekannt, daß er stets für die Berechtigung des Indizienbeweises einzutreten pflegte, ohne den, wie er behauptete, neun Zehntel aller Verbrecher, die hinter Schloß und Riegel säßen, zum Schrecken der Gesellschaft frei herumlaufen würden.

Der vorliegende Prozeß John Mowbray war nach seiner Meinung solch ein Fall, der ihm volle Gelegenheit bot, seinen Standpunkt zu beleuchten.

Seine Ansprache an die Geschworenen erwies sich denn auch als ein Meisterstück. Nachdem er die Kritik des Verteidigers an der polizeilichen Untersuchung zurückgewiesen hatte, bewies er klar, daß die Behörden erst dann Mowbray des Mordes an Trinkall für verdächtig gehalten hatten, als alle anderen Spuren, die verfolgt wurden, zu keinem Ergebnis geführt hatten. Er kam dann auf den Groll Mowbrays gegen seinen Nachbarn zu sprechen, dem er große Bedeutung beilegte, und verstand es ausgezeichnet, die Drohungen Mowbrays zu dessen Ungunsten auszubeuten.

Er schilderte in anschaulicher Weise, wie der Angeklagte, der schwer unter der ihm von Francis Trinkall zugefügten Unbill gelitten habe, häufig ganze Tage und Nächte ausgeritten sei, um seine Verstimmung zu bekämpfen. Sein Verhalten gegenüber Hauptmann Kendall, dessen Einladung er erst angenommen habe, um dann ohne Entschuldigung wegzubleiben, beweise deutlich, wie wenig ihm an einer Versöhnung mit Trinkall gelegen war. Er sei dann wahrscheinlich nach der Rückkehr von einem seiner Streifzüge, noch in voller Hast zu Kendall geeilt, um sich nachträglich zu entschuldigen. Der Zufall habe ihn vor dem Hause des letzteren mit Trinkall zusammengeführt, der sich frühzeitig aus der Gesellschaft entfernt habe, und die beiden seien, wie ja auch die Aussage des Ehepaares Joy bestätige, gemeinsam über die Brücke gegangen. Mit dramatischem Effekt malte der Richter aus, wie der Zwist von neuem losgebrochen sei und Trinkall, ärgerlich über die Unvernunft des Mannes, mit dem er sich versöhnen, aber nicht streiten wollte, in den Weg am Flußufer eingebogen sei, um sein Haus zu erreichen, dessen Schwelle er nicht lebend wieder überschreiten sollte. Denn der Angeklagte sei ihm gefolgt, habe ihn unversehens durch Messerstiche in den Rücken überfallen und dem Angegriffenen, als dieser sich nach seinem Gegner umwandte, die drei tödlichen Wunden in Hals und Brust beigebracht.

Es gibt Geologen, die imstande sind, aus dem fossilen Zahn oder dem Rückgrat einer ausgestorbenen Tiergattung ein vorsintflutliches Geschöpf von der Schnauze bis zum Schwanz genau zu konstruieren. Genau dasselbe tat Lord Whitehouse. Aus den einzelnen Beweisfragmenten baute er das ganze Verbrechen von Anfang bis zu Ende auf.

Dr. Gazabee wütete zwar innerlich über die kühnen Schlüsse, die sich der Richter dabei erlaubte, versuchte auch, ihn einige Male zu unterbrechen; aber er nützte damit seinem Klienten nur wenig. Auf seinen Einwand, es sei kein Beweis vorhanden, daß John Mowbray Francis Trinkall vor dem Hause des Hauptmanns getroffen habe, erwiderte Lord Whitehouse ruhig:

»Glauben Sie mir, Herr Doktor Gazabee, es hat sich alles so zugetragen, wie ich es geschildert, und es wird den Geschworenen überlassen bleiben, ob sie die Zeugenaussagen für stichhaltig ansehen oder nicht. Der Angeklagte trug einen Reitmantel, den er bei seiner Rückkehr erst gar nicht ablegen konnte, weil er bereits zehn Minuten, nachdem Trinkall das Haus Kendalls verlassen hatte, mit diesem zusammen auf der Brücke gesehen wurde.«

Und so trug wieder die oratorische Gewandtheit des Richters den Sieg davon. Sein fließender Stil, seine dramatische Darstellung und vor allem seine wohlklingende Stimme gaben seiner Rede einen faszinierenden Schwung, der selbst Dr. Gazabees meisterhaftes Plädoyer in den Schatten stellte.

Es war halb zehn, als Lord Whitehouse seine Rede beendet und sich die Geschworenen zur Beratung zurückgezogen hatten.

Langsam, mit monotonem Ticken, bewegte sich der Zeiger der großen Wanduhr vorwärts. John Mowbray saß in aufrechter Haltung mit gekreuzten Armen da und erwartete ruhig, gefaßt sein Schicksal, während seine Schwester gesenkten Hauptes den Himmel anflehte, ihren Bruder zu retten.

»Es wäre schlimm, wenn die Jury sich nicht einigte«, bemerkte Gazabee zu Chancellor, mit dem er sich im Flüsterton unterhielt. Der Zeiger der Wanduhr kündete die elfte Stunde, und noch immer blieb alles still. Wann würden die Geschworenen wieder erscheinen und wie würde ihr Urteilspruch lauten? Diese Frage beschäftigte alle Anwesenden, und jeder begriff, welche Seelenqual die lange Ungewißheit dem Manne bereiten mußte, dessen Leben auf dem Spiele stand.

Endlich, als die große Glocke der Kathedrale die Mitternachtsstunde schlug, erschienen die Geschworenen wieder im Saal.

Alle Augen richteten sich auf ihre Gesichtszüge, um aus ihnen das Urteil zu lesen, aber in dem Halbdunkel, das herrschte, war dies unmöglich.

Der Richter, der sich in sein Zimmer begeben hatte, wurde gerufen, und nachdem, wie es das Gesetz verlangte, die Namen der Geschworenen noch einmal verlesen worden waren, unterbrach der Gerichtsschreiber die eingetretene Stille mit der Frage:

»Meine Herren Geschworenen, haben Sie sich über das Urteil geeinigt?«

Der Obmann bejahte.

»Halten Sie den Angeklagten John Mowbray des Mordes schuldig oder nicht schuldig?«

»Schuldig!« lautete die inhaltsschwere Antwort.

Die ungeheure Spannung, mit der das Urteil erwartet worden war, löste sich jetzt. Im Auditorium entstand ein Flüstern und Murmeln, das nur vom Schluchzen einiger Frauen unterbrochen wurde. Und wieder drang die Stimme des Gerichtsbeamten in geschäftsmäßigem Ton durch den Raum: »John Mowbray, Sie sind beschuldigt, am 11. November einen gewissen Francis Trinkall mit Vorbedacht ermordet zu haben. Laut dieser Anklage sind Sie schuldig befunden worden. Haben Sie einen Grund vorzubringen, weshalb der Gerichtshof, dem Gesetz gemäß, nicht das Urteil gegen Sie aussprechen sollte.«

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann erwiderte John Mowbray mit klarer, ruhiger Stimme:

»Es wäre mir wohl möglich, durch Angabe meines Aufenthaltes an dem bewußten Abend den Urteilsspruch der Geschworenen umzustoßen und den Schandfleck zu tilgen, mit dem ihr Urteil einen unschuldigen Mann gebrandmarkt hat. Ein einziges Wort von mir könnte den ganzen Aufbau der Beweisführung gegen mich in Trümmer stürzen. Aber meine Ehre verbietet mir, dieses Wort zu sprechen. Meine Ehre ruht in meiner eigenen Hand und ich werde sie wahren, um welchen Preis auch immer. Mein Name, mein Ruf ist in der Gewalt anderer. Ich überlasse meine Rechtfertigung der Zeit. Die Welt wird, mag es auch lange währen, John Mowbray doch noch einst Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

Als der Angeklagte schwieg, blieb fast kein Auge trocken. Seine edle Haltung und die ruhige Würde, mit der er seine Unschuld beteuerte, fanden einen mächtigen Widerhall in den Herzen der Zuhörer.

Nur auf einen machten die schlichten Worte Mowbrays keinen Eindruck. Kalt und unbewegt sprach Richter Whitehouse das Todesurteil aus und fügte die Erklärung hinzu, daß er mit der Entscheidung der Geschworenen zufrieden sei, da nach seiner Meinung die Schuld des Angeklagten außer jedem Zweifel stünde.

Nach dem lauten »Amen«, das die Urteilssprechung beschloß, folgte John Mowbray festen Schritten seinen Wächtern in die Zelle zurück, während der Saal sich langsam leerte und die Leute sich gruppenweise entfernten.

Der Regen hatte aufgehört, die Luft war wieder frostig kalt und am klaren Himmel funkelten die Sterne – schweigende Zeugen menschlicher Leidenschaften und Schmerzen.

Der letzte Nachzügler hatte das Gerichtsgebäude verlassen, als Dr. Chancellor die Schwester des Verurteilten zu dem Wagen führte, der sie erwartete, während sein Partner, Dr. Dawson, die Tante des jungen Mädchens geleitete.

»Halten Sie den Kopf hoch, meine Damen«, sagte Dr. Dawson in ermutigendem Ton, »wir werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eine Revision des Prozesses zu erlangen und das ungerechte Urteil umzustoßen.«

Helen Mowbray erwiderte nichts. Aeußerlich bewahrte sie zwar ihre Fassung, und ihre Haltung war so stolz wie zuvor, aber es war die Ruhe eines Menschen, der alle Hoffnung aufgegeben hat. Ihr Inneres zitterte noch unter dem furchtbaren Schlag, der sie getroffen hatte. Sie konnte es nicht verstehen, daß die ganze Welt nicht wie sie von der Unschuld ihres Bruders überzeugt war. Eine grenzenlose Verzweiflung erfüllte ihr Herz und machte sie unempfindlich gegen alle äußeren Eindrücke.

Nur einen Augenblick, als sie Dr. Chancellor zum Abschied die Hand reichte, schien sie sich auf die Wirklichkeit zu besinnen, und in dem stummen Händedruck sprach sie dem Advokaten ihre Dankbarkeit für seine Bemühungen aus, wenn diese auch fruchtlos geblieben waren.

In Chancellor aber löste dieser Händedruck Gefühle aus, die ihm bisher unbewußt geblieben waren. Er hatte derart alle seine Kraft darauf konzentriert, dem Angeklagten beizustehen – wenn seine Rolle auch neben Dr. Gazabee sehr bescheiden war – daß ihm die Existenz Helen Mowbrays ganz aus dem Bewußtsein geschwunden war. Nun schien es ihm, als wenn sein Herz nicht so leichten Kaufes davonkommen würde. Aber noch durfte er nicht an sie denken, sondern mußte alle Energie anspannen, um John Mowbray doch noch aus jener furchtbaren Maschinerie, die sich »Justiz« nannte, zu retten.

Als der Wagen mit Frau Nilson und Helen Mowbray fortgefahren war, trat Dr. Gazabee zu den beiden Rechtsanwälten. Er befand sich in der wütendsten Stimmung, denn er wußte, daß seine Verteidigungsrede zu seinen besten Leistungen gehört hatte. Und dennoch diese Niederlage! Sein so oft erprobter Einfluß auf die Geschworenen hatte zum erstenmal versagt. Das war eine bittere Erfahrung für den berühmten Advokaten.

»Wir werden natürlich Revision einlegen«, bemerkte er zu Dr. Chancellor. »Es ist die ungeheuerlichste Prozeßführung, die ich je erlebt habe.«

»Selbstredend werden wir kämpfen, solange es nur überhaupt möglich ist«, antwortete Dr. Dawson.

»Und lösen Sie vor allem unseren Klienten die Zunge! Das wäre die einfachste Lösung«, sagte Dr. Gazabee, ehe er sich verabschiedete.

Nachdenklich schlug Dr. Chancellor den Weg nach seiner Wohnung ein und überlegte im Stillen, was er tun könnte.

Gab es kein Mittel, John Mowbray zum Sprechen zu bringen? Welche Argumente konnte er noch vorbringen, um den Starrsinn des Unglücklichen zu brechen? Er zermarterte sich den Kopf, aber er konnte auf keinen neuen Gedanken mehr kommen. Ob es Helen möglich sein würde, ihren Bruder zu etwas zu bewegen, was dem vereinten Drängen so vieler ausgezeichneter Männer nicht gelungen war?

Das war sein letzter Gedanke, als er sich in dieser Nacht zur Ruhe begab.


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