Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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XXII.

Eine endlose Wagenkolonne schob sich langsam an dem hell erleuchteten, menschenwimmelnden Portal des Westend-Theaters vorbei. Bis weit die Straße hinauf wehten im Abenddunkel die hochgestellten Peitschen und blinkten die Helme der Schutzleute, die fluchend und schreiend die Reihen auf und nieder ritten. Am Eingang tönte in regelmäßigen Abständen das Klappen der Wagentüren und das »Los!« des Schutzmanns. Dazwischen strömten die schwarzen Schwärme der Fußgänger auf dem Trottoir dahin, an dessen Rande schon hundert Schritt vor dem Schauspielhause das Spalier der Programmverkäufer begann und mit seinem näselnden »Theaterzettel gefällig? . . . Theaterzettel!« die Passanten bis zum Eingang verfolgte.

Dort trieb, in scheuem Bogen die Polizei umkreisend, die Gilde der Billetthändler ihr Wesen. Vertraulich raunend drängten sich die dunklen Gestalten heran. »Es ist drinnen alles ausverkauft, mein Herr! . . . Parkettplatz, mein Herr! . . . Sehr schöner Parkettplatz . . . ganz vorn . . . sehen Sie nur nach, mein Herr . . . es ist drinnen alles ausverkauft . . .«

Und wirklich war drinnen im Vorraum der Billettschalter durch eine grüne Gardine verhüllt, und vor ihr hing – nach einem geheimnisvollen Naturgesetz wie immer schief – das Papptäfelchen mit dem lakonisch-stolzen Worte: »Ausverkauft.«

Je mehr Ankommende mißmutig vor diesem Täfelchen kehrtmachten, desto mehr verstärkten sich die flüsternden und zankenden Gruppen, die draußen in dunklen, zugigen Straßenecken um den Preis der Billette feilschten, bis endlich der Kauf – gegen das Drei- und Vierfache des Kassenpreises – abgeschlossen war.

Aber es waren meist nur Fremde und vereinzelte Börsianer, die diesem Zwischenhandel ihren Tribut entrichteten. Die große Menge des Publikums war längst – zum Teil seit einer Woche und mehr – mit Einlaßkarten ausgerüstet. Man sah es an den sicheren, eiligen Schritten, mit denen alles dem Theater zustrebte und ohne Umschauen und Fragen sich in Foyer und Garderobe zurechtfand, daß keine gewöhnliche Zuschauerschaft sich heute versammelte. Das Premierenpublikum gab sich hier im Westend-Theater sein Stelldichein, dem deutlich ein Anstrich von Geschäftsmäßigkeit und berufsmäßigem Interesse anhaftete.

Und gar in dem Parkett selbst, das sich rasch dichter und dichter füllte, konnten die paar anwesenden Fremden glauben, sich inmitten des Publikums eines kleineren Provinztheaters zu befinden. Ein jeder der Ankommenden schien den andern zu kennen. Wer eintrat, grüßte rechts und links, schüttelte da und dort den Herumstehenden die Hände, nickte Ferneren über die Bänke hin vertraulich zu und verbeugte sich zu der Logenbrüstung hinauf, die bereits ein ununterbrochener Kranz buntfarbiger Toiletten einrahmte.

Freilich gingen auch viele schweigend aneinander vorüber und übersahen sich nach allen Regeln der Kunst. Aber die kannten einander erst recht. Das waren die intimen Feinde in dieser durch Interessenkonflikte und Kunstdoktrinen tausendfach gespaltenen Gemeinde.

Das Premierenpublikum war unter sich! Man konnte die paar unbekannten Menschen zählen, die meist etwas gedrückt und verwundert in diese lärmende, lachende und durcheinander schwätzende Menge schauten. Sonst nur Leute, die »zum Bau« gehörten oder wenigstens des festen Glaubens lebten, daß ohne sie das gefürchtete Votum des Berliner Parketts, dieser ersten und beinahe einzigen Instanz für die moderne Bühnendichtung deutscher Zunge, unvollkommen und schief ausfallen müsse. Die Überzeugung von der Wichtigkeit dieser Mission war unverkennbar. Sie spiegelte sich trotz alles blasierten Plauderns und Witzelns in der Haltung der Versammlung wider. Ein nervöses, fiebriges Interesse für die Dinge, die da kommen sollten, lag wie eine elektrische Spannung in der schwülen Luft, bereit, je nach dem Verlaufe des Abends sich in tosenden Beifallsstürmen oder brausendem Hohngelächter zu entladen. Warm und lebendig war dies Interesse nicht – im Gegenteil . . . es lag etwas Grausames, etwas Kampflustiges und Schadenfrohes von Anbeginn an darin, aber es war doch eben ein Interesse, in seiner zitternden, alles vorausahnenden und vorausfühlenden Empfangsfähigkeit, verblüffend für jeden, der nur den bleiernen Gleichmut eines philiströsen Provinzpublikums kennt.

Und immer neue Schwärme drängten sich durch die Türen. Es schien, als sei das Theater schon bis auf den letzten Platz gefüllt, und doch nahm der Zuzug kein Ende, während draußen schon mahnend über alle Gänge und Treppen hin das durchdringende Zittern der elektrischen Klingeln tönte . . .

* * *

In einer Loge des ersten Ranges saß Thilda Thorbeck an der Seite ihres Bräutigams. Sie hatte ihm zwar versprechen müssen, für die nächsten Jahre überhaupt gar nicht an das Theater zu denken, geschweige denn eine Vorstellung zu besuchen, aber in diesem einen Falle, wo es sich um den Triumph oder die Niederlage ihrer kleinen Kollegin handelte, machte man eine Ausnahme.

Hinter ihr hustete und stöhnte Onkel Klaus aus der Neumark. Er war sehr unwirsch. Dies Premierentreiben mißfiel ihm. Auch entdeckte er, soweit er schaute, keine Bekannte. Lauter fremde, unheimliche, aufgeregte Gesichter.

Und er wußte so genau, wo er jetzt seine Freunde finden würde! Die konservativen Abgeordneten saßen jetzt im Hofbräu in der Französischen Straße und im Leistbräu gegenüber dem alten Reichstag, die Herren seines früheren Regiments kneipten im Pschorrbräu in der Friedrichstraße, während andere dasselbe Bräu in der Potsdamer oder das Bürgerbräu der Leipziger Straße zum Abendtrunk vorzogen. Und ebenso würde es in den Reichshallen, dem Wintergarten, in der Weinstube des Kaiserhofs oder bei Hiller an Bekannten und Verwandten aus der Mark nicht mangeln.

Statt dessen saß er jetzt hier in einem Theater, in dem er nicht das geringste zu tun hatte. Was sollte er eigentlich hier? Er war es gewohnt, wenn er nach Berlin kam, entweder mit seiner Gattin und den halbflüggen Töchtern einmal in das Königliche Schauspielhaus oder aber allein im Räuberzivil in das Residenz-Theater zu einem Pariser Sittenstück zu wandern und dann noch einmal en famille den Zirkus Renz aufzusuchen. Auch in »Charleys Tante« hatte er sich vortrefflich amüsiert. Aber diese eleganten Berliner Modetheater mit ihrem blasierten Börsianerpublikum flößten ihm einen unüberwindlichen Abscheu ein.

Neben ihm saß der Major von Rönne, schweigsam und ernst.

Desto mehr sprach sein Bruder. Er machte im Verein mit Thilda die beiden Herren auf die Sehenswürdigkeiten im Publikum aufmerksam, die er durch jahrelangen Theaterbesuch kannte. Er zeigte ihnen in dem Mittelrang die berühmten älteren Schriftsteller, die die Direktion zu solchen feierlichen Gelegenheiten einlud, und zwischen diesen Solokrebsen der Literatur, wie er sich in frivoler Weise ausdrückte, die weitbekannten anderen Berliner Bühnenleiter mit ihren Frauen, die nicht beschäftigten oder aus fremden Theatern gekommenen Modeschauspielerinnen, die, vom ganzen Publikum lorgnettiert, bekrittelt und bestaunt, von der Logenbrüstung herab heute, unbefangen lächelnd und fächelnd, ohne Gage mitspielten, die Intendanten und Direktoren aus der Provinz, die zufällig in Berlin anwesend oder eigens zur Premiere der »Lilith« gekommen waren.

Und dann wies er ihnen unten in dem ungeduldig murmelnden und schwatzenden Parkett die markantesten Erscheinungen. Eine Anzahl Berliner Dramatiker, die großen Theateragenten und Bühnenverleger, ein paar Komponisten, Künstler und Gelehrte, und überall an den Ecken der vorderen Parkettreihen die Kritiker der bedeutenderen Blätter, die wie gewöhnlich im letzten Moment erschienen und eilfertig ihren gewohnten Plätzen zustrebten. Dazwischen die Feuilletonkorrespondenten auswärtiger Zeitungen, Schriftstellerinnen, haarbuschige Jünglinge auf —ismus, die schon am Nachmittag im Café Kaiserhof erklärt hatten, daß die ganze Sache wieder einmal »ein kolossaler Mist« sei, harmlose Kriminalschutzleute in Zivil, die ab und zu mit raschem Blick durch das Parkett nach den ihnen wohlbekannten Gesichtern der Berliner Taschendiebsgilde spähten.

In den Parkettlogen einige der bekannten Premierenschönheiten, lachend, plaudernd und befreundeten Damen zunickend, an der Seite ihrer Männer, hinter ihnen da und dort die funkelnden Uniformen der Garde-Kavallerie und in schlichtem schwarzen Zivil einige höhere Offiziere z. D., die nach ihrer Pensionierung mit der Literatur in Fühlung getreten waren.

Und im Proszenium endlich das Highlife, schimmernde Hemdbrust, schwarze Atlasbinden, glänzende Kahlschädel und blinkende Monokels, Leute vom Schlage Seyblings und seiner Freunde, die eine ganze Loge dicht an der Bühne innehatten.

* * *

Nun war das Haus ganz gefüllt und das erste Glockenzeichen verklungen. Ein ungeduldiges Summen und Surren webte durch die lichtüberfluteten Ränge, eine ununterbrochene nervöse Bewegung, ein Grüßen und Winken und Sichverbeugen und Zulächeln. Die Parkettstühle klappten, die Theaterzettel knisterten, die von Dunst, Staub und Parfüm erfüllte Luft begann drückend heiß zu werden, und von der Decke her spiegelte sich in breiten bläulichen Strahlen das elektrische Licht auf den schimmernden Damentoiletten, dem Samt der Logenbrüstungen und den blanken Köpfen im Parterre, das immer noch unruhig durcheinanderwogte.

Da das zweite Zeichen. Das Haus verfinstert sich. Im Augenblick hat alles Platz genommen und setzt sich mit kurzem Räuspern zurecht. Und mit dem dritten Glockenschlag rollt lautlos der Vorhang vor einem Publikum in die Höhe, das, wenn es kein anderes Lob verdiente, doch an atemloser Aufmerksamkeit sicher von keiner Zuhörerschaft Europas erreicht wird.

* * *

Valeska trat aus ihrer Garderobe. Sie kam erst in der dritten Szene auf die Bühne.

Die Friseuse, die Ober- und Untergarderobiere, ein ganzer Schwarm weiblicher Wesen umringte sie. Der Inspizient wich kaum von ihrer Seite. Auf seinen Wink hatte ein Theaterarbeiter sofort einen Stuhl herbeigetragen, damit sie sich noch etwas ausruhen solle. Die Kollegen traten heran und schüttelten ihr die Hand – selbstverständlich ohne den unheilbringenden Glückwunsch auszusprechen. Im Gegenteil, die Mizi sagte ihr freundlich: »Brechen Sie sich's Genick!« und dachte ihr damit etwas Liebes zu erweisen. Andere, wie die Ilgen und die Hannemann, hielten sich freilich abseits, und ihr schadenfrohes Lächeln sagte deutlich genug, was sie dachten. Aber das eine fühlte doch Valeska stolz und deutlich: Heute war sie die Herrin hier, sie, die vor kurzem noch eine Rieke und dergleichen gespielt. Von ihr hing Glück und Unglück dieser kleinen Welt heute abend ab.

Sie war nicht einmal eigentlich aufgeregt. In wenigen Stunden – das wußte sie – war die Entscheidung gefallen. Sie konnte sie nicht mehr ändern. Sie konnte nichts tun, als ihr Bestes zu geben.

Zajonchek war schon draußen. Sie hörte seine Stimme durch das dünne Lattengestell, hinter dem sie saß, und zuweilen die Antworten Mary Essers und Harald Grillons.

Näher und näher kam ihr Stichwort.

Und wie sie da mit immer stärker pochendem Herzen saß und aus den rotumränderten Augen vor sich hin auf das Leinwandgerüst starrte, das sie von der glänzenden, unheimlichen Welt der Premiere draußen schied, hatte sie nur die eine Empfindung: Die Augenblicke vergißt du in deinem Leben nicht wieder! –

Diese Stille, diese fürchterliche Stille! Kein Laut aus dem menschengefüllten Zuschauerraum, von der Bühne das halblaute, scharfbetonte Plaudern Zajoncheks, hinter ihr die schlürfenden, vorsichtigen Tritte der Vorbeigehenden . . . es war beinahe unheimlich, obwohl sie das schon seit Jahren kannte.

Wie bei einem Leichenbegängnis! fiel ihr ein, und gleich darauf mußte sie denken: Vielleicht wird es eins . . . für mich und für das Stück!

Da stand der Inspizient neben ihr.

»Aufgepaßt!« flüsterte er. »Gleich kommen Sie heraus!«

Mechanisch raffte sie sich ihre ersten Sätze im Kopf zusammen. Da fiel ihr Stichwort. Sie trat hinaus auf die glänzend helle Bühne.

* * *

Erst als sie draußen zu sprechen begann, merkte sie, wie aufgeregt sie war.

Das war nicht die gewöhnliche Nervosität, das landläufige Lampenfieber. Das war eine erstickende Angst, die ihr die Kehle zuschnürte und sie am freien Gebrauch ihrer Stimmittel, ja beinahe ihrer Glieder hemmte.

Ab und zu gelang es ihr, sich freizumachen und aus sich herauszugehen. Und dann schien es ihr an einer leichten Bewegung im Parkett, als ob sie Fühlung mit dem Publikum gewänne. Aber gleich darauf war das wieder vorbei. Die alte Beklemmung kehrte wieder, und sie spielte ihre Rolle ängstlich und korrekt, wie sie sie auf der Probe gelernt. Die Furcht, etwas schlecht zu machen, wurde immer stärker als der Drang, etwas Gutes zu leisten.

Das Publikum blieb lau und zuwartend. Ist es doch ohnedies nicht Brauch, schon im ersten Akt oder nach dessen Schluß Mißfallen zu äußern.

So erscholl immerhin ein freundlicher Beifall, als sich die Gardine zum erstenmal senkte, und Valeska konnte sich an Zajoncheks Hand zweimal vor dem matt klatschenden Publikum verbeugen.

Aber viel – das wußte sie – war damit nicht gewonnen.

 


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