Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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VII.

Langsam neigte sich der August seinem Ende zu.

Es entging Valeska nicht, daß allmählich in dem Leben des Berliner Westens eine bedeutsame Veränderung eintrat.

Man sah häufig Gepäckdroschken, von den Bahnhöfen kommend, vor den Häusern des Tiergartenviertels halten; auf den Straßen erblickte man sonnengebräunte Gesichter. An den Litfaßsäulen, wo den August hindurch zwischen den riesigen, schreiend bunten Plakaten der Tingeltangel und Sommergärten allein der graue Zettel des Lessing-Theaters die großen Bühnen vertreten hatte, zeigte sich eine lange Reihe von Annoncen, die für den 29. August oder 1. September die Wiedereröffnung der verschiedenen Theater anzeigten.

Das Westend-Theater sollte am 29., einem Donnerstag, mit »Ellinor« herauskommen.

Schon zwei Wochen vorher war dem Publikum durch eine an alle großen Zeitungen versandte Notiz diese Tatsache gemeldet worden. Seitdem folgten sich in kurzen Zwischenräumen die Nachrichten, daß die Proben zu »Ellinor« begännen, daß dieselben rüstig fortschritten, daß in der Novität die Damen Dobschütz, Stadinger und Thorbeck, die Herren Grillon und Frey hervorragend beschäftigt seien.

Der Umstand, daß die Zensur zwei kleine Stellen beanstandet hatte, gab zu weiteren Mitteilungen Anlaß, die zunächst ein bevorstehendes Verbot des Stückes ahnen ließen, um mit dessen nach gütlicher Vereinbarung erfolgter Freigabe desto angenehmer zu überraschen.

Daß zahlreiche auswärtige Bühnenleiter sich um die Novität bewarben, mehrere ihr Eintreffen zu der Premiere in Aussicht gestellt, blieb gleichfalls nicht verschwiegen. Und da an allen diesen Nachrichten etwas Wahres war, fanden sie unbeanstandet ihren Weg bis in die größten Blätter.

Valeska sehnte den Beginn der Saison herbei. Sie langweilte sich tödlich.

Jeden Morgen war von zehn bis ein oder zwei Uhr Probe zu »Ellinor«. Dann ging sie nach Hause zum Mittagessen, und von da ab lag der Nachmittag und Abend in gähnender Leere vor ihr.

Mit Thilda war sie zwar öfters zusammen. Doch waren deren Hausgenossen vom Bade zurückgekehrt und nahmen sie für sich in Anspruch. Anziehend waren diese Leute, ein pensionierter Rechnungsrat mit Familie, gerade nicht, und auch Thilda selbst wurde auf die Dauer mit den ewigen Verhimmelungen ihres bei dem Onkel Klaus in der Neumark weilenden Assessors allmählich langweilig.

Und andere Bekanntschaften hatte sie nicht.

Zwar war Herr Hassel, der Agent, einmal bei ihr erschienen, um sich mit väterlichem Wohlwollen nach ihrem Befinden zu erkundigen. Doch empfing sie ihn, durch trübe Erfahrungen gewitzigt, im Salon in Gegenwart der ab- und zugehenden Frau von Haidenschild, und der Greis empfahl sich still.

Im Theater traf sie auch nur die paar Kollegen, die in »Ellinor« beschäftigt waren. Die andern erschienen allenfalls einen Augenblick auf dem Bureau. Thilda zeigte ihr Käthe Hannemann, ein großes, üppiges Mädchen mit weichlich-schönen Zügen, und Franziska Ilgen, eine pikante Brünette in feuerroter Sommerbluse und großem Strohhut. Aber zu persönlicher Bekanntschaft kam es nicht.

Sie hätte ja leicht Verbindungen anknüpfen können. Harald Grillon und ein anderer Kollege hatten bei ihr vorgesprochen, mußten sich aber mit Zurücklassung ihrer Karten entfernen.

Dann hatte sich eine ältliche, runde Dame an Valeska herangedrängt und sie aufgefordert, sie zu besuchen. Es verkehrten bei ihr viele Damen vom Theater!

Das war in gewissem Sinne richtig. In ihrer Wohnung fanden ab und zu Gesellschaften statt, wo sich jüngeren Kavalieren und Offizieren in Zivil die Gelegenheit bot, eine Anzahl kleiner Mädchen von Chor und Komparserie der Vorstadtbühnen kennenzulernen. Natürlich in allen Ehren. Darauf hielt die Dame in ihrem Haus. Was weiter aus dem Verhältnis wurde, ging sie nichts an.

Aber Valeska fertigte sie schnöde ab. »An mir werden Sie keine Provision verdienen!« sagte sie gleichmütig und wandte ihr den Rücken.

Ebenso widerstand sie der ihr von Frau von Haidenschild nahegelegten Versuchung, bei einigen von ihr genannten Familien Visite zu machen. Thilda hatte sie gewarnt:

»Es sind die alleruntersten Schichten der Börse! Du wirst dort nur eingeladen, um hübsch auszusehen, dir von den Herren das zuflüstern zu lassen, was sie sich den anderen Damen gegenüber nicht gestatten, und zum Schluß als Dank für Wein und Braten der jubelnden Gesellschaft etwas möglichst Verfängliches zu deklamieren. Hast du Glück, so triffst du dort auch einmal eine gefeierte Tingeltangelsängerin als Kollegin an!«

Da ging sie also nicht hin. Sie war überhaupt an Frau von Haidenschild irre geworden, seit sie neulich durch Zufall einen Blick in die sonst hermetisch verschlossenen Flurzimmer des Grafen Vach geworfen hatte, in denen die Magd eben scheuerte.

Das war keine Garçonwohnung, nein, ein raffiniert ausgestattetes blauseidenes Boudoir mit Hängeampel und Himmelbett, mit einem großen Bärenfell und türkischen Wandteppichen.

Ehe sie sich noch von ihrem Erstaunen erholte, lief Frau von Haidenschild an ihr vorbei in das Zimmer und schlug die Tür zu. Von innen hörte man, wie sie die säumige Magd ausschalt.

Seitdem lebte die Haidenschild mit Valeska auf dem Kriegsfuß, wenn sie auch nichts zu sagen wagte.

Endlich war der Tag vor der Aufführung der »Ellinor« gekommen. Er brachte die Kostümprobe, die um ein halb elf Uhr begann.

»Pass' auf!« sagte Thilda lachend in der Garderobe zu Valeska, während sie sich das Gesicht vor dem Spiegel mit Kakaobutter einrieb, daß es glänzte . . . »Mit diesem Anzug kommst du nicht durch! Du siehst viel zu zierlich und niedlich aus in dem weißen Häubchen und der weißen Schürze und den Hackenstiefelchen und den bloßen Armen! So geht eine Wirtin in der Operette, aber nicht eine Berliner Dienstmagd!«

Und richtig! Kaum war der Vorhang in die Höhe gegangen und Valeska auf der Bühne erschienen, so erhob sich Hochmann, der einsam vorn im Parkett saß – der Autor hatte sich mit ihm endgültig überworfen und nahm nicht mehr an den Proben teil –, und klopfte energisch ab.

»Unmöglich, Elten . . ., unmöglich!« rief er . . . »warum nicht lieber gleich in Balltoilette? . . . Sie sind Dienstmädchen bei einem Schnittwarenhändler – bei einem Schnittwarenhändler . . .«, wiederholte er sinnend . . . »Sehen Sie sich bitte nachher das erste beste Dienstmädchen an . . . Nebenan in der Markthalle am Magdeburger Platz finden Sie, soviel Sie wollen, und kleiden Sie sich danach . . . So – nun weiter!«

Die Elten seufzte, beorderte, nach Hause zurückgekehrt, Frau von Haidenschilds Magd zu sich, sah sie prüfend an und entließ das grinsende Geschöpf mit befriedigtem Kopfnicken.

Eine Stunde darauf klingelte sie ihr wieder, und die Magd sah beim Eintreten mit dumpfem Erstaunen, daß das Fräulein sich inzwischen auch in ein besseres »Mädchen für alles« verwandelt hatte.

»Haben Sie Zeit?« fragte Valeska . . . »Ich möchte mit Ihnen auf den Boden hinaufgehen . . ., so, wie ich bin . . ., und ein wenig in meinen Koffern kramen.«

»Aber da wird ja det neue Kleid staubig!« grinste die Magd.

»Das soll es ja gerade!« sagte Valeska unwirsch. »Nachher mache ich noch ein paar Ölflecke hinein, und Sie können mir die blaue Schürze da am Herd etwas rußig machen. Es muß alles ganz echt werden!«

Als die beiden nach einer halben Stunde mit klappernden Schuhen vom Boden wieder herunter kamen, begegnete ihnen auf dem Hausflur ein hübscher, etwas verlebt aussehender junger Mann. Valeska erblickend, blieb er stehen, legte den Arm um sie und küßte sie, als ob sich das von selbst verstände.

»Mein Herr . . .« schrie die Elten empört.

»Mein Fräulein!« sagte der Kavalier freundlich lächelnd, lüftete seinen Hut und stieg die Treppe hinunter.

»Er hält Ihnen doch für'n Dienstmädchen!« kicherte die Magd, strahlend vor Entzücken. »Der wird sich wundern, wenn ick ihm sage . . .«

»Wer ist es denn?«

»Der Herr Jraf von Vach!«

»Sie sagen ihm kein Wort . . . verstanden!« befahl Valeska zornig, ging auf ihr Zimmer und zog sich um.

Ein unverschämter Mensch, dachte sie bei sich, ein Glück, daß es wenigstens ein Graf war!

* * *

»Sie werden sehen, Gnädigste,« sagte am selben Abend Dr. Lenze, der Herausgeber der »Europäischen Korrespondenz«, zu ihr, »es gibt einen Durchfall mit Pauken und Trompeten!«

»Woher wissen Sie denn das?« Valeska sah den blassen Journalisten, der trotz seiner stutzerhaften Kleidung so merkwürdig verkommen aussah, belustigt an.

»Das liegt in der Luft!« erwiderte Herr Lenze kurz. »Freilich, man irrt sich auch zuweilen, wenn Sie sich entschließen wollten, heute, an diesem schönen Sommerabend, mit mir einen kurzen Spaziergang zu machen, erzähle ich Ihnen mehr darüber.«

Allein Valeska dachte nicht an einen solchen Spaziergang. An allerlei kleinen Anzeichen, namentlich an der Häufigkeit der Begegnungen, die der Herausgeber der »Korrespondenz« mit ihr herbeizuführen wußte, merkte sie zwar, daß er gründlich in sie verschossen war – der erste in Berlin! – aber das fehlte noch, sich mit solch einem Habenichts, der Plötzensee von inwendig kannte, und zwar, wie sie jetzt erfahren, nicht nur wegen Preßvergehen, sich in Dummheiten einzulassen. Außerdem gefiel er ihr auch nicht. Er war kein richtiger Kavalier und war kein rechter Journalist, sondern ein Zerrbild von beiden, das ihr höchstens ein gewisses Mitleid einflößte.

* * *

Am folgenden Tage, dem 29. August, stand Valeska, von der letzten kurzen Probe kommend, andächtig in der Sonnenglut vor einer Litfaßsäule und las den Zettel des Westend-Theaters.

»Rieke, Dienstmagd . . . Valeska Elten«

hieß es da ganz am untersten Ende des Personenverzeichnisses. Sie seufzte. In Bergheim hatte sie immer ganz hoch oben gestanden. Wo waren jetzt ihre Träume von der »Francillon« und der »Magda« geblieben?

Es war noch taghell, als sie gegen halb sieben Uhr abends hinüber in das Theater ging, um sich in ihrer Garderobe mit Ruhe umzukleiden, da sie ja die ersten Worte in dem Stück hatte.

Von Publikum noch keine Spur. Ein paar in der Sonne blinzelnde Schutzleute vor dem Theater und, in weitem Bogen um sie kreisend, zwei oder drei Billetthändler. Einer von diesen bot Valeska zwei gute Parkettsitze in der vordersten Reihe an, und sie lachte noch über diese Idee, als sie schon in den Bühnenraum trat.

Von den andern war noch keiner da. Doch stand auf der Bühne bereits die Dekoration des ersten Aktes, ein kleinbürgerliches Wohnzimmer. Sie sah sich darin um und blickte durch das Loch im Vorhang in den Zuschauerraum, der hell erleuchtet, aber vollkommen menschenleer vor ihr lag. Auch auf der Szene war niemand zu sehen. Ihr eigener Schritt verhallte lautlos in dem Bühnenteppich, als sie wieder nach hinten ging. Es war beinahe unheimlich.

Aber schon während sie sich in ihrem erstickend heißen Zimmerchen mit Hilfe der Garderobiere in die bewußte Rieke verwandelte, wurde es um sie lebendig. Zuerst kam Thilda zu ihr herein und warf sich phlegmatisch in das Kostüm der englischen Gouvernante. Furchtbar mager ist doch das Mädel! dachte Valeska, sie verstohlen ansehend. Dann liefen draußen Garderobefrauen und die Friseusen hin und her, offenbar von der allmächtigen Dobschütz in Bewegung gesetzt, und aus dem Nebenraum hörte man, wie Mizi Stadinger, nach ihrer Gewohnheit einen Gassenhauer pfeifend, herumkramte.

Als Valeska geschminkt und kostümiert auf die Bühne trat, herrschte auch da schon reges Treiben. In der ersten Kulisse standen rechts und links zwei Feuerwehrwachen im blinkenden Helm zum Dienst bereit, im Souffleurkasten hatte sich Frau Kautz in ihrem verschossenen, rotgefütterten Lehnstuhl niedergelassen und blickte, an einem Strumpfe strickend, in das während der Proben vielfach mit roten Strichen, mit überklebten und eingeschriebenen Stellen versehene Buch des Stückes, das vor ihr aufgeklappt lag; der Inspizient ging in seinem charakteristisch lautlosen, schleichenden Schritt, das Regiebuch in der Hand, auf und nieder und warf zuweilen einen prüfenden Blick auf den großen Tisch im Hintergrund, wo die Requisiten für den ersten Akt: ein Hut, ein Mantel, ein Pack Zeitungen, eine Schnapsflasche mit zwei Gläsern, ein paar Stoffmuster, beisammen lagen und standen. Auf der Szene selbst waren zwei Arbeiter, am Boden kniend, damit beschäftigt, eine Seitenwand besser zu befestigen. Gedämpft klang ihr vorsichtiges Pochen durch das Geflüster auf der Bühne und das dumpfe Summen und Sesselklappen, das vom Zuschauerraum drang.

Hochmann selbst ging mit großen Schritten auf und nieder, ein zierliches Ordenskettchen auf dem Frack, und ab und zu die weiße Binde zurechtzupfend. Wie immer, wenn er aufgeregt war, verspürte er alle fünf Minuten Brandgeruch aus irgendeinem Winkel des Theaters und ließ sich nur mit Mühe durch den Hausinspektor beruhigen.

Harald Grillon saß, rosig geschminkt, mit langem, blondem Schnurrbart und wie ein Jüngling aussehend, auf einem der Rohrstühle hinter der Szene und überlas murmelnd seine Rolle.

Die Luft war schwül.

»Sprich nur jetzt niemanden an,« sagte Thilda leise zu ihrer Freundin, »ich rate dir im guten.«

Der Direktor sah auf die Uhr.

»Bitten Sie Fräulein Dobschütz,« sagte er zu dem Inspizienten und verließ durch die kleine eiserne Tür den Bühnenraum, um in der Direktionsloge neben seiner Frau Platz zu nehmen.

Bald rauschte denn auch die Dobschütz auf die Bühne, sehr bleich und nervös, ein Flakon mit Kölnischem Wasser in der Hand, und ging mit der Miene einer gekränkten Herzogin quer über die Szene bis zu dem Sessel rechts vorn, wo sie sich niederließ und schweratmend regungslos dasaß.

»Bühne frei!« rief der Inspizient leise. Die Theaterarbeiter verschwanden in zwei Sprüngen, und Thilda huschte durch die Mitte hinaus, so daß die Dobschütz allein zurückblieb . . . »Herr Grillon, . . . Fräulein Elten, . . . an den Eingang links . . . so . . .«

Das erste Klingelzeichen tönte.

Eine längere Pause entstand.

Da gab Hochmann, von seiner Loge aus das Publikum betrachtend, einen fast unmerklichen Wink.

Zwei kurze Glockenschläge, ein in der ersten Kulisse links gezischtes »Auf!«, und der Vorhang ging in die Höhe.

»Hinaus!«

Der Inspizient zog mit der linken Hand an einer Schnur die Papptür auf, mit der rechten schob er Valeska nach vorn.

In der plötzlichen Totenstille, die im Hause eintrat, machte Valeska die Meldung, daß der Herr Baron draußen sei, ließ Harald Grillon, der schon hinter der Kulisse sein sonniges, Herzen knickendes Lächeln auf dem Gesicht fixiert hatte, herein und verschwand nach links.

»Heiß ist es heute!« sagte sie zu Thilda, die da nervös gähnend auf einem Strohstuhl saß, und nahm neben ihr Platz. »Ich bin jetzt schon ganz naß!«

Dann schwiegen beide.

»Das Haus ist kaum halb voll,« versetzte Thilda nach einiger Zeit, »natürlich – eine Augustpremiere . . .«

»Um so besser, wenn's durchfällt«, meinte die Elten. Aber ihre Freundin bat sie dringend, hier nicht laut von derlei zu sprechen.

Wieder saßen sie eine Weile still beisammen.

Von der Bühne her drang eintönig durch die dünne Pappwand die Stimme der Dobschütz und Grillons sonores Organ.

Vor ihnen schritt, seine Rolle hinmurmelnd, mit kniffligem Gesicht der Väterspieler, den sein Weib, die Dobschütz, da draußen betrog.

Dann kam die Mizi, apathisch wie immer, stellte sich an die Mitteltür und wurde vom Inspizienten hinausbefördert.

»Findest du nicht, daß ich scheußlich aussehe?« fragte nach einiger Zeit Valeska und blickte an ihrem groben Kattunkleid und der blauen Küchenschürze hinab.

Aber Thilda war nicht dieser Meinung.

»Es steht dir ganz gut,« sagte sie, »auch der Wuschelkopf, den du dir da zurechtgemacht hast, und die Schlappschuhe . . . eben, weil es gar nicht zu deiner Erscheinung und zu deinem hochmütigen Gesichtchen paßt. Du siehst aus, wie 'ne Prinzessin auf dem Maskenball!«

»Um so besser!« sagte die Elten. »O Gott, die Hitze!«

Mizi kam durch die Mitte zurück, setzte sich neben die beiden und summte, mit den Beinen schlenkernd, töricht eine ganz leise Melodie vor sich hin.

Dann war der Akt zu Ende.

Ein mattes Prasseln drang aus dem Zuschauerraum und erstarb, noch während Grillon und die Dobschütz sich verbeugten.

Der zweite Akt neigte sich dem Ende zu, als Valeska, ihres Stichwortes harrend, mit dem Teeservice an die Tür links trat. Voll bitteren Zornes betrachtete sie dieses Teebrett. Sie empfand eine Art persönlichen Hasses gegen die leeren Tassen, die leere Kanne, das leere Sahnentöpfchen und die anderen Dinge, die darauf lagen und standen.

Sie dachte an die Glanzrollen, die sie in Bergheim gespielt, und an die einzelnen »Schlager« in diesen Glanzrollen.

Sie wiederholte sich im Geiste das lachend-empörte »Hinaus! . . . hinaus!« der Magda und Almas naiv-verderbte Frage: »Aber heute darf ich doch noch auf den Maskenball gehen?«, und dann Francillons berühmten Aufschrei: »Er hat gelogen!« und Ritas herziges: »Ihr bleibt der König auch in Unterhosen!« und . . .

Aber da fiel ihr Stichwort, und sie trat hinaus.

Nachdem der Tee serviert war, hatte sie im Hintergrund unauffällig stehenzubleiben – durchaus unauffällig, Fräulein Dobschütz liebte kein stummes Spiel, während sie selbst sprach – und zu warten, bis die Gesellschaft sich entfernte. Dann blieb sie allein in einer stummen Szene auf der Bühne zurück, räumte den Tisch ab und verschwand nach links.

Bis dahin hatte sie gut fünf Minuten Zeit. Sie musterte den Zuschauerraum.

In langen Reihen saßen da wie Wachsfiguren die stummen Gestalten, vorn ganz lückenlos, gegen das Ende des Saales in verteilten Gruppen. Nichts regte sich an ihnen. Man glaubte, das schwere, eintönige Atmen dieser Hunderte von Menschen zu hören.

In den Logen, die nur »garniert«, das heißt in den vordersten Plätzen besetzt waren, bewegte sich ab und zu etwas. Es wehte ein Fächer, ein Theaterzettel knisterte, man hörte das Rücken eines Stuhles.

Besonders in der Proszeniumsloge links, hart an der Bühne, war es unruhig. Dort saß ein Schwarm eleganter Herren, Rohrstöcke mit goldenen Knöpfen in der Hand, die Zylinder auf dem Knie, mit schimmernder Hemdbrust und schwarzen Binden, ein zerschlissenes Chrysanthemum im Knopfloch des Smoking-Coats.

Das waren Seybling und seine Freunde. Doch hatte Thilda der Elten nicht sagen können, wer von den Herren Seybling selbst war. Sie kannte ihn nur dem Namen nach. Er zeigte sich selten auf der Bühne oder im Direktionsbureau und war den meisten dieser kleinen Welt nur ein Begriff, ein unkörperliches Wesen, mit dem sich die Vorstellung ungeheurer Geldsummen verband.

Valeska blickte wieder in das Parkett.

Von diesen fremden Menschen da unten, deren Gesichter wie lange Reihen weißer Flecke undeutlich sich im Dämmerlicht abhoben, hing also ihr Schicksal ab! Das war das gefürchtete Premierenpublikum Berlins, oder wenigstens ein Teil davon – denn das Tiergartenviertel befand sich noch meist in der Sommerfrische –, jene achthundert oder tausend Menschen, die, heute abend im Westen, morgen im Osten der Hauptstadt auftauchend, souverän der deutschen Bühne und Bühnenliteratur den Stempel ihres Willens aufdrückten.

Denn was nicht in Berlin die Feuertaufe empfangen – Valeska wußte das schon von Bergheim her –, dem begegnete die Provinz mit mitleidiger Geringschätzung.

»Wenn ich nur ein paar von diesen Leuten kennte,« dachte sie, in das Parkett blickend, »nur einen einzigen wenigstens!«

Und einen einzigen kannte sie wirklich! Es war gar kein Zweifel. Da unten saß in einer der vordersten Reihen der Major von Rönne, in Zivil natürlich . . . in demselben grauen Zivil, das er neulich getragen. Wenn sie die Augen etwas schloß, um nicht durch das Flimmern des Rampenlichts geblendet zu werden, erkannte sie ihn ganz genau.

Merkwürdig! Er hatte doch gesagt, daß er nie ins Theater ging!

Aber ehe sie noch darüber nachdenken konnte, erhoben sich vorn Grillon, die Dobschütz und die anderen und traten nach rechts ab.

Die Souffleuse gab ihr, vom Buch aufsehend, ein Zeichen.

Sie schritt also vor und begann den Tisch abzuräumen. Alle Augen, das fühlte sie, waren in diesem Moment auf sie, die allein auf der Szene stand, gerichtet. Ein lautloses Schweigen herrschte im Zuschauerraum wie auf der Bühne. Selbst die Souffleuse war verstummt.

Nur die Tassen und Löffel klirrten leise.

Wozu diese stumme Szene notwendig sei, hatte sie einmal auf der Probe gefragt, und Hochmann hatte sie belehrt, daß dies den jetzt verpönten Monolog ersetze.

Und Grillon hatte maliziös gemeint:

»Man kann nicht in einem fort ehebrechen! Es muß auch Pausen geben!« –

Endlich war sie fertig und trug das Brett hinter die Kulissen. Ein ironisches Klatschen erscholl da und dort.

»Was heißt denn das?« fragte sie verblüfft den Inspizienten. Aber der zuckte die Achseln und ging weiter.

Es herrschte überhaupt eine unangenehme Stimmung. Das merkte sie, wenn sie auch nicht recht begriff, warum. Besonders gegen das Ende des Aktes. Da scholl plötzlich ein- oder zweimal ein undefinierbares, dumpfes Geräusch aus dem bisher lautlosen Parkett, eine Art kurzes Murmeln, das sofort wieder verstummte.

Hinter der Szene brachte es eine tiefe Wirkung hervor. Man sah sich an und zuckte bedeutsam die Achseln. Aber niemand sprach ein Wort.

Und dann fiel der Vorhang, und das Prasseln klang noch matter als bisher hinterdrein.

Die Szene wurde geändert. Theaterarbeiter liefen mit Möbeln hin und her, es tönte leises Hämmern und Pochen. Valeska stand müßig ganz im Hintergrund an der staubigen Backsteinmauer, neben dem Tisch, an dem der Inspizient seine Requisiten für den dritten Akt ordnete.

Da trat ein Herr durch die Tür, die zum Zuschauerraum führte, und ging langsam längs der Wand nach hinten.

Valeska betrachtete ihn neugierig. Das war also einer der Gigerl, von denen sie schon soviel in den Witzblättern gelesen.

Aber freilich kein lächerlicher Gigerl. Im Gegenteil, der finstere, hünenhaft gebaute Dandy mit der weitläufig schlotternden Kleidung und der goldenen Keule imponierte ihr ungemein.

Zu ihrem Erstaunen blieb er neben dem Requisitentisch stehen und warf aus seinen grauen, stählern glänzenden Augen einen Blick auf sie.

»Den möchte ich nicht im Zorne sehen!« dachte Valeska beinahe furchtsam. »Das ist ja ein gefährlicher Mensch!«

Aber der Fremde war augenblicklich durchaus nicht grimmig.

»Nun . . .!« sagte er ganz leutselig zu dem Regisseur, der, herbeikommend, ihn jetzt erst erblickte. »Sie haben ja da eine neue Kraft gewonnen . . . wollen Sie mich nicht vorstellen?«

»Aber . . . bitt' schön, Herr Baron! . . . Herr . . . Herr von Seybling . . . Fräulein Elten . . .«

Herr von Seybling!

Ein freudiger Schrecken durchzuckte Valeska.

»Oder störe ich Sie etwa?« fuhr jener fort. »Manche Künstler lieben es nicht, in den Zwischenakten aus dem Geiste ihrer Rolle gerissen zu werden.«

»Ach bitte . . .«, sagte Valeska scheu und sah zu dem Stutzer empor, dessen Riesengestalt sie hoch überragte, »meine Rolle ist nicht so groß.«

»Aber Sie sehen wenigstens reizend aus! Darüber ist in unserer Loge alles einig!«

»Ach . . . in der Proszeniumsloge?« fragte Valeska schnell. »Da, wo alle die Gig . . . wo die Herren sitzen?«

»Wo die Gigerl sitzen«, bestätigte Herr von Seybling ernsthaft. »Aber im Vertrauen gesagt, mein gnädiges Fräulein, es gibt gar keine Gigerl, sondern nur einige Menschen in Europa, die sich anständig anziehen. Und für manche andere fängt der Stutzer schon beim reinen Hemdkragen an!«

»Ja . . . verzeihen Sie bitte . . .«, sagte Valeska, »ich bin eben erst aus der Provinz angekommen und fühle mich noch so dumm in Berlin . . .«

»Da läßt sich schon Rat schaffen, mein Fräulein!« Seyblings stählerner Blick heftete sich unverwandt und prüfend auf ihr Gesicht. »Ihnen kann es hier nicht fehlen, wenn Sie . . .«

Aber da tönte das Klingelzeichen zum dritten Akt.

»Auf Wiedersehen!« sagte Seybling, reichte ihr seine Rechte, in der ihre schmale Hand fast verschwand, lüftete höflich den spiegelnden Zylinder und ging davon.

Thilda kam in großer Aufregung heran.

»Ich habe Seybling noch nie auf der Bühne gesehen. Er muß eigens wegen dir heraufgekommen sein!«

»Tant mieux!« meinte die Elten leichtsinnig und mit pochendem Herzen.

Thilda warf ihr einen strafenden Blick zu. »Sprich nicht so!« sagte sie kurz.

»Sie ist doch ein blondes Schaf!« dachte Valeska und schwieg.

* * *

Wiederholt war während des dritten Aktes wieder jenes unheimliche Murmeln und Grollen im Parkett erklungen, und die Stimmung hinter den Kulissen wurde immer beklommener. Valeska hätte zu gern durch das kleine Drahtgitter in der ersten Kulisse einen Blick in den Zuschauerraum geworfen. Aber erstens stand der Feuerwehrmann davor, und zweitens war der unbefugte Aufenthalt dort bei zehn Mark Strafe verboten.

Jetzt kam ihr Stichwort.

»Nur man dreist!« sagte der Inspizient – sie wußte nicht recht warum – und ließ sie hinaustreten, um die Meldung zu erstatten, daß der gnädige Herr zurückkomme.

Wieder entstand das Murmeln und Brausen, aber stärker als bisher, und verschlang beinahe Grillons Antwort.

Die Angst überfiel Valeska. Gott sei Dank, sie hatte nur noch einen Satz!

»Na . . . nu wird's jut!« sagte sie mit gepreßter Stimme.

Aber im nächsten Augenblick glaubte sie vor Schreck in die Erde zu sinken.

Ein Sturm der Heiterkeit, Bravorufe, Händeklatschen und Gelächter erschütterte das Haus.

Hatte sie sich versprochen . . .? Oder war etwas an ihrer Kleidung . . .? Nein. Sie warf einen ratlosen Blick auf das Publikum. Ein erneuter Jubelausbruch folgte.

»Lacht nicht, ihr Ochsen!« zischte neben ihr Grillon fast lautlos durch die Zähne, und dann, vor Wut in sein angestammtes Wienerisch verfallend, zu Valeska: »Schau', daß d' weiterkommst!«

Die ließ sich das nicht zweimal sagen. »Um Gottes willen,« flüsterte sie hinter der Kulisse zitternd dem Inspizienten zu, »was hab' ich denn gemacht?«

»Ha, Elende!« klang da von der Bühne der Aufschrei des betrogenen Ehemanns. Ein donnernder Jubelsturm folgte.

»Was sollen Sie denn getan haben?« erwiderte der Inspizient mürrisch. »Das Stück geht um die Ecke. Sie sehen's ja!«

Bloß das Stück! Valeska seufzte erleichtert auf, lief in die Garderobe und zog sich so schnell wie möglich um.

Als sie zurückkam, spielte man den vierten Akt. Das Unheil war im vollen Gange. Jedem fünften Satz folgte Lachen, Grollen und ironischer Beifall. An besonders markanten Stellen mischte sich Grunzen und Getrampel hinein.

»Schluß! Schluß!« tönte es von zwei, drei Stimmen, dann dagegen protestierendes Zischen und ein schwacher, langgezogener Pfiff. Dann wurde es wieder ruhiger, und das Spiel ging weiter.

»Gedenket der armen, unschuldigen Schauspieler!« sagte Thilda, von der Szene kommend. »Gott sei Dank . . . ich bin fertig!«

Die Mizi folgte ihr.

»Brr!« sprach sie schläfrig und schüttelte sich wie ein nasser Pudel. »Heute sind sie wieder gut . . .!«

»Das verzapfen wir wohl nicht oft mehr?« fragte Valeska.

»Und sie trugen einen Toten hinaus . . .«, versetzte Mizi kaltblütig, »und sie riefen: sancte! sancte! . . . Er aber verstand: Fangt ihn! Fangt ihn!, und er entwich!«

Diesen Geistesblitz hatte Prinz Duyn, ein alter Korpsstudent, sie gelehrt.

»Pssst! . . . meine Damen!« mahnte der Inspizient im Vorüberstreichen.

Und in der Tat . . . es war draußen wieder ruhig geworden. Grillon und die Dobschütz, die die große Schlußszene hatten, boten ihre ganze Kraft auf, um das Stück wenigstens zu einem ehrenvollen Ende zu bringen.

Es gelang ihnen. Das Publikum ging mit. Schüchterner Beifall regte sich da und dort. Und schon kam der Schluß.

»Das sei das Ende!« rief die Dobschütz in hinreißender Leidenschaft und leerte den Giftbecher.

Eine kurze, beklommene Pause . . .

»Prost!« krähte es aus einer Loge.

Ein brausender Heiterkeitssturm begleitete das Fallen des Vorhangs. Dann ein langes, energisches Zischen, ein heftiges Händeklatschen beim Anblick des rechts und links verrollenden eisernen Vorhangs, und das Haus leerte sich.

Die Dobschütz hatte den Giftbecher von sich geschleudert, daß es klirrte.

»Ich spiele die Rolle nicht wieder«, sagte sie kurz zu den Umstehenden und ging in ihre Garderobe.

Valeska war im Begriff, ihr zu folgen und zu sehen, ob Thilda mit dem Abschminken fertig sei, als plötzlich Seybling wieder vor ihr stand.

»Gratuliere!« rief er lachend schon von weitem.

Valeska war empört.

»Ich kann nichts dafür! . . . So eine Rolle . . .! Mit der hätte die Wolter selbst umgeschmissen!«

»Aber Sie haben sich ja brillant aus der Affäre gezogen!« lachte Seybling. »Sahen reizend aus in Ihrem sprachlosen Entsetzen! Das Publikum hat sich königlich amüsiert!«

Er war dicht vor sie hingetreten und sah sie unverwandt an. Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Mit heiß flackernden Augen hielt sie seinem kalten, durchdringenden Blick stand.

Es war ja kaum ein Zweifel mehr – wie ein Gefühl beklemmenden und erstickenden Triumphes stieg der Gedanke in ihr auf –, sie hatte auf Seybling, den Gewaltigen dieser kleinen Scheinwelt, einen tiefen Eindruck gemacht.

Jetzt hieß es klug sein, klug wie die Schlangen! Dem da gegenüber mußte man va banque spielen, dachte sie blitzschnell. Er sollte sehen, daß sie etwas anderes war als das typische »kleine Mädchen« mit fünfundsiebzig Mark Monatsgage und festem Verhältnis, keines jener Sumpfblümchen der Großstadt, das er so en passant zu pflücken gedachte.

»Ja . . . wirklich eine schlechte Rolle . . .«, sagte der Dandy und faßte wie in der Zerstreutheit ihre Hand. »Sie haben gewiß schon größere gespielt?«

»Die allerersten! . . . Am Bergheimer Stadt-Theater!«

»Oh . . . und welche spielen Sie am besten?«

Valeska empfand, wie er ihre Hand hart in der seinen preßte.

Sie entzog sie ihm und sah ihm fest ins Gesicht.

»Meine beste Rolle ist die Jungfrau von Orleans!«

»Oh . . . die Jungfrau? . . .«

»Ja!«

Herr von Seybling zog lächelnd den Hut.

»Gute Nacht, mein Fräulein!«

»Gute Nacht, Herr Baron!«

* * *

Im Vestibül traf Seybling seine Freunde.

»Nun?« fragte Hammerschmiedt, der kleine, millionenschwere Gigerl. »Wie ist's mit dem Mädchen aus der Fremde?«

»Das Mädchen aus der Fremde ist ein Karnickel,« sagte Seybling, zum Ausgang schreitend, »ich bin gar nicht dazu gekommen, sie einzuladen.«

»Wolltest du sie denn einladen?« Prinz Duyn, ein blasser, distinguierter Herr mit langem Schnurrbart, schob seinen Arm unter den Seyblings.

»Ja . . . zur Dobschütz. Wir feiern doch bei ihr die neue Rolle. Wird freilich ein Leichenfest statt des Siegesgelages . . .« Seybling lachte. »Die hätte sich schön geärgert, wenn ich ihr die Kleine mitgebracht hätte!«

»Ja . . . warum haben Sie's denn nicht getan?« forschte Hammerschmiedt.

Seybling zuckte die Achseln. »Sie sagt, sie wäre die Jungfrau von Orleans!«

»Oh!« stöhnte der Gigerl.

 


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