Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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XVI.

Valeska stand vor ihrer Wohnung in der Lützowstraße.

Wie sie dahingekommen, wußte sie selbst nicht genau. Sie war wie betäubt.

Aber da war ihre Hausnummer und daneben das Plakat der Frau von Haidenschild, das Zimmer auf Tage, Wochen und Monate, für In- und Ausländer, mit und ohne Pension verhieß.

Und vor dem Haustor – sie bemerkte es erst jetzt, während sie mechanisch den triefenden Schirm zusammenklappte, um einzutreten –, dicht an der Rampe des Bürgersteigs, hielt eine glänzende Equipage.

Eine vornehme, dunkel lackierte Equipage, mit einer Wappenkrone am Türschlag. Zwei hochbeinige, hellbraune Karossiers davor. Auf dem Bock ein würdevoller Kutscher in weißem Zylinder und weißem Water-Proof. Ein jüngerer Diener in derselben Tracht stand wartend daneben auf dem Trottoir.

Offenbar machte der Besitzer all dieser Herrlichkeit irgendwo in ihrem Hause einen Besuch.

Aber bei wem?

Sie überflog, während sie die Treppe hinaufstieg, halb gedankenlos im Kopf die einzelnen Parteien.

So feine Leute waren eigentlich gar nicht darunter. In der Parterrewohnung ein praktischer Arzt, in der Beletage der Hauswirt, im folgenden Stock die Haidenschild mit ihren Schutzbefohlenen und darüber in den Mansardenwohnungen allerhand kleine Existenzen, die sie selbst nicht kannte.

Da plötzlich hörte sie, als sie auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnung stehenblieb, um Atem zu holen, wie oben die Flurtür aufging. Das heisere Organ der Haidenschild schien sich in Entschuldigungen zu erschöpfen, dazwischen eine metallisch klingende männliche Stimme.

»Ah . . . da ist ja das Fräulein . . .«

Herr von Seybling stand auf dem kleinen Platz vor der Tür, den seine mächtige Gestalt beinahe ausfüllte, und lüftete höflich den Hut, während Fräulein Elten die Treppe heraufkam.

»Das nennt man Glück, Gnädigste . . .«, sagte er, »war im Begriff, den Rückzug anzutreten . . .«

»Ja . . . suchen Sie mich?« Valeska blieb erschrocken stehen.

Der Dandy lächelte.

»Wen denn sonst? Sie baten mich ja neulich um meinen Rat. Enfin . . . mein Fräulein . . . me voilà . . . wohin befehlen Sie . . .?«

»Bitte . . .« Die Elten war durch den unerwarteten Besuch so eingeschüchtert, daß sie ihn nur durch eine Handbewegung zum Eintreten in den Korridor auffordern konnte.

Hier blieb Seybling stehen und schaute nach dem mit Portieren verhangenen Eingang zur Rechten.

»In diesen Feld-, Wald- und Wiesensalon gehe ich nicht . . .«, meinte er gutmütig, »Gott weiß, was da alles an greulicher Weiblichkeit hinter den Türen horcht . . . wo sind Ihre eigenen Appartements, meine Gnädige?«

»Ich habe nur ein Zimmer . . .«, erwiderte Valeska scheu und blickte nach ihrer Tür.

Die stieß Herr von Seybling ohne Umstände auf, daß das helle Licht auf den Korridor fiel.

»Nach Ihnen, mein Fräulein!«

Valeska überlegte . . . schließlich . . . das Zimmer war ja aufgeräumt . . . vor dem Bett stand eine spanische Wand . . . und zu machen war nichts weiter. So ging sie also hinein, und Seybling folgte ihr.

Er war ihr behilflich, das Jäckchen abzulegen. Während sie dann den Hut abnahm und vor dem Spiegel flüchtig das Haar glattstrich, trat er an die Tür und studierte das dort mit einem Nagel angeheftete Wochenrepertoire des Westend-Theaters.

Dies machte einen recht eintönigen Eindruck. Die erste Rubrik, Vorstellungen, war ganz durch »Die kleine Herzogin« und den »Hausfreund« ausgefüllt, die zweite, Proben, ziemlich leer, und ebenso von den darunter befindlichen kleineren Kolonnen die Abteilung »Neu einstudiert«.

Die daneben befindliche Spalte »Neu« wies nur einen Namen auf.

»Lilith«, stand da. Es war das geheimnisvolle Drama, in dem Valeska die Astild spielen sollte.

Seybling schüttelte bedenklich den Kopf. Er und wenige andere Eingeweihte wußten, daß es flau, sehr flau mit dem Westend-Theater stand. Vielerlei wirkte da mit, die Ungunst der Zeiten, die Konkurrenz der anderen Bühnen und nicht minder die der Tingeltangel, die sich eben wieder einmal rüsteten, einen ihrer bekannten, durch Massenballetts, fleischfarbiges Trikot und Gassenhauer unterstützten Einbrüche in das Gebiet des eigentlichen Theaters zu unternehmen, dann der chronische Hader mit der Zensur und nicht zum mindesten – Seybling mußte sich das gestehen – die Leidenschaft der Dobschütz, alle ersten Rollen wahllos zu spielen.

Das ermüdete schließlich das Publikum.

Und Seybling wußte recht gut, daß Hochmann für diesen Winter nicht allzuviel Pulver zu verschießen hatte. An aussichtsreichen Novitäten war so gut wie nichts vorhanden.

Aber da riß ihn Valeskas Stimme aus seinem Sinnen.

»Bitte . . . wollen Sie Platz nehmen . . .«, sagte sie schüchtern, »hier stehen Zigaretten . . . Zigarren habe ich leider nicht . . .«

»Das heißt mit anderen Worten, meine Gnädigste,« Seybling nahm auf einem unter seiner Last krachenden Rohrstuhl Platz, »Zigaretten rauchen Sie selbst, und Sie empfangen keine Herrenbesuche . . . nicht wahr? . . . Sehen Sie . . . darum bin ich da! Ich muß Ihnen ernste Vorwürfe machen!«

Valeska war sehr beklommen. Sie stand am Fenster, von dessen Lichtschein ihre schlanke Gestalt sich wie eine Silhouette abhob.

»Haben Sie mir meinen Brief übelgenommen?«

Der Dandy sah sie beinahe mitleidig an.

»Ich nehme überhaupt nichts übel . . .«, meinte er, »bin jenseits von Gut und Böse . . . am wenigsten aber Briefe schöner Künstlerinnen. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen im Drange der Geschäfte anfangs etwas kurz antwortete. Sie sehen, ich mache mein Unrecht wieder gut.«

Er trat, die dampfende Zigarette in der Hand, neben sie an das Fenster. Beide schauten durch die Scheiben hinunter auf die Straße, wo die Karossiers ungeduldig mit den Hufen das Pflaster scharrten und der Kutscher majestätisch, mit schräg gehaltener Peitsche, im Regen zwinkernd auf dem Bock thronte.

»Sie wollen mir also Vorwürfe machen?« fragte endlich Valeska, sich vom Fenster wendend, und nahm alle ihre Selbstbeherrschung zusammen.

Seybling schaute prüfend in dem ärmlichen Zimmer umher, über das charakterlose Mobiliar, das harte, schmale Bett, das man zwischen den Spalten der spanischen Wand erkennen konnte, über die schlechten Öldruckbilder an den Wänden, die schwindsüchtige Etagere, auf der Valeskas Bibliothek, bestehend aus einem deutsch-französischen Diktionär, dem Bühnen-Almanach und ein paar Reclam-Bänden, neben denen Rollenhefte und allerhand Nähzeug lag, und über den leeren Vogelbauer, für den sie schon seit einiger Zeit den Ankauf eines Kanarienhahnes plante.

Sein Gesicht wurde finster.

»Warum nehmen Sie es nicht ernster mit Ihrer Kunst?« fragte er schroff, beinahe herrisch.

Valeska erschrak.

»Ich nehme es ernst genug . . .«, verteidigte sie sich, »aber . . . ohne Rollen . . . wie soll man da . . .«

»Rollen . . . Rollen . . .« Seybling schaute wieder zornig in dem Zimmer umher. »Was ist in einer ersten Rolle drin . . .? Glut . . . Leidenschaft . . . Verzweiflung . . . alles, was ein Menschenherz in seinen Tiefen aufwühlt! Und das wollen Sie hier in diesem lauwarmen Zimmerchen empfinden, in dieser kläglichen guten Stube mit Nähmaschine und Sofaschonern und Öldruckbildern an den Wänden? Nein, meine Liebe, erst muß man selbst etwas empfunden haben, ehe man andere mit sich fortreißt. Und hier, in dieser Umgebung, kann ja nichts entstehen als Langeweile und der Drang, um zehn Uhr abends schlafen zu gehen.«

Er brach ab und durchmaß ärgerlich mit großen Schritten das Zimmer.

»Ja . . . wo sollte ich denn hin?« fragte Valeska bang.

Seybling blieb vor ihr stehen und sah mit seinen stählern glänzenden Augen auf sie nieder.

»In die Welt hinaus!« sprach er langsam. »In das volle Leben, wo die großen Sünderinnen gedeihen, die ihr kleinen Mädchen uns so schlecht vorspielt, weil ihr sie nicht versteht. Mit Verstand kommt ihr nicht weit. Ihr müßt empfunden haben, was ihr wiedergeben sollt . . .«

Die kleine Elten sah ihn bang an.

»Man kann doch nicht alles selbst erleben!«

»Alles . . .?« sagte Seybling. »Was heißt alles? Was erlebt ihr Weiber denn? . . . Die Liebe, die Liebe und abermals die Liebe! Die aber müßt ihr allerdings durchgekostet haben, wenn ihr wahre Künstlerinnen werden wollt . . . die Liebe in allen ihren Erscheinungen . . . in Hingebung und Verzweiflung, in Eifersucht und Entzücken. Und anderes habt ihr ja auch nicht darzustellen . . . solange ihr nicht komische Alte seid oder so was . . . immer nur die Liebe und wieder die Liebe. Die müßt ihr kennen – darum ist man von allen Zeiten her nachsichtig gegen euren Lebenswandel gewesen – und die volle Liebe, die große Leidenschaft gibt es nur in der großen Welt, wo man sich um die Schranken des Philistertums nicht kümmert . . .«

Valeska war in die Ecke des Zimmers zurückgewichen und sah ihn mit großen, angstvollen Augen an.

»Dankt es Ihnen denn irgendein Mensch,« fuhr Seybling ruhiger fort, »wenn Sie hier in ihren vier Wänden versauern? Ich glaube nicht. Sie sind Schauspielerin. Das genügt für die satte Tugend unserer Zeit . . .«

Das war wahr. Der Trotz stieg in Valeska empor.

»Sie haben recht . . .«, sagte sie rauh, »danken tut es einem gewiß niemand. Aber ich verstehe nur nicht . . . was ist das große Leben, von dem Sie sprechen?«

Der Dandy schüttelte mitleidig den Kopf.

»Sie können es sich sehr verschieden vorstellen . . .«, meinte er, »zum Beispiel: Sie sitzen auf dem Deck eines Viererzuges, der vom Rennen zurückkehrt. Rings um Sie machen Ihnen die Sprossen unserer reichsten und vornehmsten Geschlechter den Hof . . . vor Ihnen klingt das Jagdhorn, und tief unter uns wogt und wimmelt die gemeine Menschheit, zu Fuß oder in Kremsern oder in Droschken erster Güte . . . und wir, die Halbgötter dieser Erde, rollen hoch über ihnen vorbei und lachen.

Oder ein anderes Bild: Sie schreiten durch Ihre Wohnung . . . eine Flucht von glänzend eingerichteten Gemächern, in denen die Dienerschaft Ihrer Befehle harrt . . . Sie sehen heute Ihre Freunde bei sich zu Tisch, Männer aus der unnahbarsten Welt des Highlife . . . Sie spielen lachend und plaudernd die Wirtin und genießen den ganzen Stolz und die Stellung der Hausfrau ohne alle die kleinliche Misere, die sonst damit verbunden ist.

Und ein drittes Bild: Es sind Theaterferien. Sie reisen mit dem Freunde ins Weite, irgendwohin. Er führt Sie, wohin Sie wollen. Wir schlendern vormittags über den weißen Sand von Trouville und schlürfen ein paar Stunden darauf unseren Kaffee an einem Tischchen auf dem Boulevard des Italiens in Paris. Der Nachtschnellzug bringt uns nach Monaco. Wir kommen gerade noch zurecht, um in diesem mit Unrecht verrufenen, leichtsinnigen Paradies unser Glück zu probieren. Und gefällt es uns da nicht, so segeln wir weiter, hinaus auf das blaue Meer . . . irgendwohin . . .«

Valeska hatte sich auf das Sofa geworfen. Sie war ganz ratlos und betäubt.

Seybling musterte sie mit einem prüfenden Blick.

»Glauben Sie nicht, daß ich den Versucher spielen will,« sagte er gleichmütig, »wenn ich Ihnen aus diesem muffigen Stübchen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige. Ich tue es nur in Ihrem Interesse. Zum Beispiel gestern . . . da spielten Sie eine Herzogin . . . nebenbei gesagt, in süperber Toilette . . . ja, aber armes Kind, wissen Sie denn, wie einer Herzogin zumute ist, wie sie denkt und spricht? Nein! . . . Und in der nächsten Novität haben Sie die Astild . . . ja, wissen Sie denn, was eine große Sünderin ist und was sie fühlt in ihrer Sünden Maienblüte? Nichts wissen Sie. Sie werden die Rolle noch schlechter spielen, als sie ohnedies schon ist, und werden alle Rollen schlecht spielen, solange Sie es nicht ernster und gewissenhafter mit ihrer Kunst nehmen . . .«

Seybling schwieg.

Die kleine Elten stand auf und sah ihm trotzig und aufgeregt ins Auge. Ihre Stimme klang heiser.

»Was soll ich also tun?«

Der Besucher zuckte die Achseln.

»Vor allem sollen Sie den Leuten, die es ehrlich und aufrichtig gut mit Ihnen meinen, nicht so unvernünftige Antworten geben wie neulich . . . Sie wissen schon . . .«

Valeska senkte den Kopf.

»Es fuhr mir so heraus!« sagte sie leise. »Ich will's nicht wieder tun.«

Seybling zündete sich eine neue Zigarette an.

»So . . . sehen Sie!« meinte er erfreut. »So ein paar Wochen in Berlin tun doch Wunder. Und wenn Sie jetzt hübsch brav sein wollen, so verspreche ich Ihnen auch, daß ich mich für Sie verwenden werde. Ich sehe heute noch Hochmann. Vielleicht findet sich auch einmal eine schöne ältere Rolle, die Fräulein Dobschütz nicht mehr spielen will . . . das ist das beste für Berliner Anfängerinnen, um sich auf ungefährliche Weise an großen Aufgaben zu versuchen. Denn in den Premieren . . . das wissen Sie ja . . . da weht ein scharfer Wind . . .«

Er sah auf die Uhr.

»Ich muß fort!« sagte er. »Also adieu, meine Gnädige!«

Valeska reichte ihm stumm und zitternd die Hand und begleitete ihn zur Tür.

»Richtig!« sagte da der Dandy, stehenbleibend. »Ich muß Sie doch noch einmal sprechen, damit Sie wissen, ob ich etwas für Sie habe ausrichten können . . .« Er sann nach. »Vielleicht heute abend . . .?«

»Im Theater?«

»Ins Theater komme ich nicht,« erwiderte Herr von Seybling, »aber nach dem Theater. Ich weiß einen Ort, wo einige geistsprühende Menschen unter Führung meines Freundes Hammerschmiedt soupieren. Fräulein Ilgen wird wohl auch dabei sein. Wenn ich Sie bitten darf, an unserem bescheidenen Mahle teilzunehmen . . .«

Er lachte laut auf, als er Valeskas verstörtes Gesicht sah.

»Sie haben ganz recht, sich zu ängstigen,« flüsterte er herzlich, »geben Sie acht . . . ich verzehre Sie mit Haut und Haaren, sowie wir bei Dressel eingetreten sind, angesichts der ganzen Gesellschaft. Das ist so eine kleine Schwäche von mir . . .«

Und etwas ernster setzte er hinzu:

»Nun . . . seien Sie vernünftig! . . . Was soll Ihnen denn geschehen! . . . Sie sind um halb neun mit dem Abschminken fertig, fahren zu Dressel, unterhalten sich ein paar Stunden anregend im Kreise heiterer Menschen und setzen sich, wenn Sie müde sind, wieder in eine Droschke und fahren nach Hause . . .«

»Ja . . . aber . . .«, sagte Valeska stockend.

Seybling hatte die Türklinke in der Hand.

»Ich will Sie nicht drängen!« meinte er kaltblütig. »Wenn es Ihnen mehr Spaß macht, so gehen Sie vom Theater direkt nach Hause und vergähnen Sie den Abend in Ihrem öden Stübchen . . . Aber glauben Sie nur nicht, daß ein Mensch in Berlin das merkt oder Ihnen gar dafür dankt . . .«

Das wirkte.

Valeska hielt ihrem Besucher die Hand hin.

»Ich komme«, sagte sie, schwer atmend. »Sie haben es gut getroffen . . . mit Ihrem Besuch . . . gerade heute.«

Das hatte Seybling schon lange gemerkt, wenn er auch den Grund nicht ahnte.

»Also . . . vergessen Sie nicht . . .«, ermahnte er, »Dressel . . . Unter den Linden . . . nahe der Friedrichstraße . . . jeder Droschkenkutscher erster Klasse weiß es. Und dort fragen Sie nur nach meiner Gesellschaft.«

Valeska nickte willenlos.

»Und Ihr Wort darauf . . . Sie kommen?«

»Ich komme«, sagte die kleine Elten mit trauriger Stimme . . .

 


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