Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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XXI.

Es war zwei Uhr nachts.

Lange schon schliefen die Damen der Pension Haidenschild den Schlaf der Gerechten. Auch die Herren kamen allmählich nach Hause. Man hörte, wie sie eine Weile in ihren Räumen herumrumorten und die Stiefel vor die Tür setzten. Dann verlosch das Licht, und alles wurde wieder still.

Nur in Valeskas Zimmer brannte immer noch die Lampe, und sie selbst ging, im weiten blauen Schlafrock, gelbe Mikadopantöffelchen an den Füßen, rastlos murmelnd auf und nieder.

In der Hand hielt sie ein Blatt Papier, auf dem sie die Stichworte des ersten Aktes untereinander geschrieben hatte. Sie überhörte sich. Es ging! Nur selten mußte sie einen Blick auf das Buch werfen, das neben der Lampe aufgeklappt auf dem Tisch lag. Den Text ihrer Rolle hatte sie darin mit blauem, die Stichwörter mit rotem Stift angestrichen.

Sie machte eine kleine Pause, um von dem schwarzen Kaffee zu schlürfen, der über einem Spiritusflämmchen warm stand.

Dann griff sie nach dem Buche und nahm den zweiten Akt in Angriff.

Sie war todmüde. Aber sie konnte sich nicht setzen. Sie war nun einmal gewohnt, im Gehen zu memorieren, und hatte das schon oft, wenn sie den Tag über acht Stunden und länger während der Probe, der Vorstellung, des Kleideranprobierens usw. auf den Beinen gewesen war, des Nachts beim Rollenlernen schmerzlich empfunden.

Aber freilich nie so wie heute, bei dieser Kraftprobe, die sie sich auferlegt.

»Es muß sein!« sagte die kleine Elten mit finsterer Energie vor sich hin. Und wieder ging sie in lautlosen, langsamen Schritten durch das Zimmer hin und her, in dem das leise Summen der Spiritusmaschine die einzige Begleitung zu ihrem eintönigen Murmeln bildete.

Auch auf der Straße war es jetzt ganz still.

Ein Glück, daß der südamerikanische Attaché nebenan noch nicht zu Hause war. Der hätte sich am Ende ihr halblautes Memorieren verbeten. Aber Gott weiß, wo der jetzt herumbummeln mochte.

Und weiter und weiter lernte sie. Der Hinterkopf begann sie zu schmerzen, die Augen fielen ihr fast vor Müdigkeit zu, und immer häufiger mußte sie zu dem schwarzen Kaffee ihre Zuflucht nehmen. Aber ihr war es einerlei. Die Rolle sollte und mußte bezwungen werden.

Als der Morgen anbrach, war sie bis zur Mitte des zweiten Aktes gekommen. Die Hälfte der gröbsten Arbeit lag hinter ihr.

Aber nun konnte sie nicht weiter. Sie warf sich aufs Bett und schlief fast im selben Augenblick ein, während draußen sich das erste Leben des neuen Tages regte und der Attaché vorsichtig auf der Spitze seiner Lackstiefelchen in sein Zimmer glitt.

* * *

Am nächsten Morgen kam Zajonchek.

Sie ging mit ihm das, was sie in der Nacht gelernt hatte, durch. Fast alle ihre Stichwörter waren in seiner Rolle enthalten, so daß sie gemeinsam ihre Szenen herunterspielen konnten, er als der junge Mann aus einer guten Familie des Berliner Westens, der nach standesgemäß verbrachter Jugend selbst einsieht, wie notwendig ihm die Heirat ist, sie als sein »Verhältnis«, die kleine Konfektioneuse vom Hausvogteiplatz, die jetzt aus seinem Leben scheidet, um der legitimen Herrin Raum zu schaffen.

Er brauchte ihr nur selten die Aussprache eines Wortes, die Betonung eines Satzes zu verbessern. Den Geist der Rolle hatte sie erfaßt. Sie begriff dies kleine Mädchen, die sich dem geliebten Manne hingab, weil sie es nicht anders wußte und konnte, die nichts bereut, was sie tut, und doch dabei in ihrem tiefsten Innern zerknirscht von der Sündhaftigkeit ihres Tuns überzeugt ist.

So probten sie die erste Hälfte des Stückes zu Ende. Dann begann Valeska, während ihr Freund zum Mittagessen ging, für sich weiterzulernen.

Die Ruhe des Sonntags unterstützte sie. Selbst die Schottinnen hatten, um nicht einen Sabbatbruch auf ihr Gewissen zu laden, das Klaviergehämmer eingestellt. Die Haidenschild war auswärts zu Tische, sämtliche Herren ebenfalls fortgegangen. So konnte sie ungestört lernen und lernen.

Als sie gegen Abend mit Zajonchek abermals die Rolle durchging, war nur noch der Schlußakt übrig. Aber den wollte sie allein vornehmen. Helfen konnte er ihr da nicht. Wie die Kleine sich ruhig von dem Geliebten trennt, wie sie mit müdem Lächeln in ihrem Dachstübchen das Gift ins Glas schüttet und trinkt, wie sie in seinen Armen stirbt, das konnte er ihr nicht lehren und zeigen. Sie mußte es empfinden. Und sie empfand es. Sie ging auf in dieser Rolle. Sie brauchte nach keinem Tone, nach keiner Stimmfärbung zu suchen. Das alles kam ihr zwanglos, wie wenn sie sich selbst spielte, und sie fühlte es deutlich: diese Rolle war ihr Prüfstein. Wurde sie der nicht gerecht, so war es am besten, das Bündel zu schnüren und, je eher, je besser, in die Vergessenheit der Provinz hinabzutauchen.

Aber das fürchtete sie nicht. Eine frohe Siegeszuversicht erfüllte sie, während sie in der Nacht zum Montag mit dem dritten Akt kämpfte. Und endlich, in früher Morgenstunde, war auch der bewältigt, und sie sank in tiefen, traumlosen Schlaf.

* * *

Am Vormittag, als sie, blaß und übernächtig, in unfreundlichem Herbstwetter dem Theater zuschritt, faßte sie die Ernüchterung.

Wozu am Ende die ganze Mühe? Wenn sie auf die Bühne trat, stand wahrscheinlich die Dobschütz schon wie gewöhnlich da, vielleicht mit einem noch verächtlicheren Gesichtsausdruck als sonst, und alles war beim alten . . . Und selbst wenn nicht . . . wer stand ihr dafür, daß sie gerade die Rolle bekam, daß das Stück nicht überhaupt abgesetzt wurde?

Sie fühlte sich tief entmutigt.

Da kam ihr die Mizi entgegen, wie gewöhnlich schlecht frisiert, verschlafen und trippelnd wie ein nasses Kätzchen.

»Es ist keine Probe, Elten,« rief sie schon von weitem, »die Dobschütz ist krank!«

»Oh!« sagte Valeska und blieb in freudigem Schrecken stehen. »Ist es arg?«

»Weiß nicht!« erwiderte die Kleine phlegmatisch. »Wollen Sie doch noch in die Bude gehen? Na, dann kommen Sie nur dem Alten nicht zu nahe, der ist fuchsteufelswild!«

Die Elten hörte ihre letzten Worte gar nicht mehr. Mit elastischen Schritten eilte sie dem Westend-Theater zu und stieg pochenden Herzens die Treppe hinauf zum Direktionsbureau.

Im Vorraum stand Hochmann mit verstörtem Gesicht, um ihn herum die Regisseure, der Sekretär und sein sonstiger Stab. Der Theaterarzt nahm eben von ihm Abschied.

»Es ist gar nichts zu machen,« sagte Dr. Mans trocken . . . ». . . ich sah's kommen. Gefahr ist vorderhand nicht dabei, aber an ein Wiederauftreten vor Jahresfrist gar nicht zu denken, wenn es überhaupt je dazu kommt . . .«

»Und wo bleibe ich?« fragte Hochmann erbittert und wischte sich den Schweiß von der Stirne . . . ». . . Das Stück muß heraus . . . Es ist der Schlager der Saison . . . und nun habe ich niemanden, der mir die Lilith spielt . . . wenigstens nicht auf der Stelle. Ich muß die Premiere auf mindestens vier Wochen verschieben . . .«

»Ja . . . das ist Ihre Sache . . .«, sagte der joviale Sanitätsrat und reichte ihm die Hand, ». . . ich bin Gott sei Dank nicht Theaterdirektor und möcht's auch nicht werden . . . Morgen, Direktor . . .!«

Während er sich zum Gehen wandte, trat Valeska entschlossen vor Hochmann hin.

»Die Premiere braucht nicht verschoben zu werden, Herr Direktor!« sagte sie so ruhig wie möglich, ». . . ich kann die Rolle der Lilith auswendig.«

Hochmann sah sie ebenso wie die andern verblüfft an. »Wie kommen Sie denn dazu?« fragte er langsam . . . »Sie hatten sie ja gar nicht in der Hand.«

»Ich hab' sie aus dem Buch gelernt, weil sie mir so sehr gefiel. Und ich weiß, ich würde ganz ausgezeichnet darin sein!«

Die Herren lachten laut auf. Selbst Hochmann schmunzelte ein wenig.

»Unsinn, Kind!« meinte er . . . »Sie sind ja überhaupt noch in keiner Rolle von Bedeutung hier aufgetreten.«

»Eben!« erwiderte die kleine Elten. Sie spielte va banque und war entschlossen, sich durch nichts einschüchtern zu lassen. »Einmal muß ein jeder seine erste große Rolle bekommen, und die ist wie für mich gemacht. Sie haben ja selbst davon gesprochen, sie mir später einmal zu geben . . .«

»Allerdings . . .«, erwiderte Hochmann nachdenklich, ». . . oder vielmehr . . . ich habe nichts gesagt . . . durchaus nichts . . . aber vor allem . . . das ist doch blasse Renommage, Kind . . . Sie kennen ja die Rolle gar nicht . . . Sie rechnen darauf, daß Sie sie in der Eile notdürftig bis morgen ein wenig überlesen . . .«

Darauf antwortete Valeska nicht viel. Sie zog aus der Tasche ihr Buch der »Lilith« heraus, reichte es dem Direktor und sagte höflich: »Bitte!«

Hochmann schüttelte erstaunt den Kopf und gab ihr die Stichwörter zu ihren ersten längeren Sätzen im ersten Akt.

Die konnte sie gerade am besten. Sie wußte sie nicht nur auswendig, sondern auch schon zu betonen und mit Gebärden zu begleiten.

Hochmann sah sie über das Buch hin mit forschendem Ausdruck an. Dann gab er ihr andere Stichwörter. Sie brachte die Antworten des ersten Aktes ganz fest, die weiter zum Schlusse hin etwas unsicher. Aber das Ergebnis war doch unzweifelhaft.

Ihr Brotherr ließ das Buch sinken. »Wahrhaftig . . . sie kann die Rolle!« sagte er erstaunt zu den Umstehenden.

Die Elten nutzte ihren Vorteil aus.

»Wenn wir ordentlich proben . . .«, rief sie aufgeregt, ». . . es sind noch sechs Tage . . . ich spiel' es am Sonnabend mit Leichtigkeit. In Bergheim hab' ich einmal . . .«

Hochmann unterbrach sie.

»Daß Sie die Rolle können, beweist nichts,« sagte er, ». . . aber Sie scheinen mir auch wirklich dafür . . . na . . . kommen Sie einmal mit in mein Schreibzimmer . . . und Sie, lieber Grillon!«

In dem Allerheiligsten gingen sie die ganze Partie miteinander durch, Bogen um Bogen. Ab und zu sahen sich, wenn Valeska mit besonderer Leidenschaft einen Satz gesprochen hatte, Grillon und der Direktor schweigend an.

Die Sterbeszene, die sie noch nicht ganz dem Wortlaut nach beherrschte, bat sie lesen zu dürfen. Da konnte sie die ganze Empfindung, mit der die Rolle sie erfüllte, die müden, kindlich-klagenden Töne, das traurige Lächeln des Abschiedes hineinlegen.

Als sie geendet, sah Hochmann sie prüfend an.

»Haben Sie das alles von sich allein, Elten?« fragte er kurz.

»Ja«, erwiderte Valeska.

»Na . . . das sind ja merkwürdige Dinge, die wir hier erleben . . .« Der Direktor öffnete mit raschem Entschlusse die Tür zum Nebenzimmer . . . ». . . Herr Reichau . . . bitte . . . entwerfen Sie eine Notiz für die Blätter, daß an Stelle des plötzlich erkrankten Fräulein Dobschütz am Sonnabend Fräulein Elten die Titelrolle in ›Lilith‹ spielt.«

»Gott sei Dank!« Valeska atmete aus tiefster Brust auf. ». . . Aber wer bekommt denn nun meine Astild?«

Richtig . . . die Astild!

»Vielleicht Fräulein Neumann?« wagte Valeska hoffnungsvoll zu bemerken. Der schnippischen Blondine hätte sie die Schundrolle am ersten gegönnt.

Und wirklich . . . ehe noch Grillon zugunsten seiner Freundin intervenieren konnte, sagte Hochmann zu Valeskas inniger Genugtuung in gleichgültigem Tone: »Meinetwegen die Neumann . . . ich habe schon damals zwischen ihr und Ihnen geschwankt.«

»Und nun, liebe Elten,« wandte er sich dann ernst an sie, »halten Sie diese Woche die Ohren steif! Am nächsten Sonnabend geht's für Sie um Kopf und Kragen . . .«

* * *

Vor dem Theater hatte Zajonchek ungeduldig auf Valeska gewartet. Nun ging sie an seiner Seite durch das Brausen und Fluten der Potsdamer Straße dahin.

Sie hatte ihn gebeten, sie spazieren zu führen. Sie könne es jetzt nicht zu Hause aushalten. Es dränge sie nach einem Orte, wo recht viel Lärm und Getümmel sei. Ihr war es, als müsse sie Berlin in seinem gewaltigsten, mitleidlosen Getriebe aufsuchen, dies Berlin, mit dem sie sich in wenigen Tagen zum Kampf um Sein oder Nichtsein messen sollte.

»Sag' . . . Maus . . . hast' denn gar keine Angst?« fragte Zajonchek sie erstaunt.

Sie schüttelte träumerisch lächelnd den Kopf.

»Wovor sollte ich mich denn fürchten? Du bist ja bei mir . . . heute und am Sonnabend . . .«

 


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