Rudolph Stratz
Die kleine Elten
Rudolph Stratz

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V.

Valeska hatte einsam auf ihrem Zimmer zu Mittag gegessen, sich über das schale Patzenhoferbier geärgert, das Frau von Haidenschild als Tafelgetränk eingeführt hatte, und sehnte, des Alleinseins ungewohnt, die fünfte Stunde herbei, wo sie die neue Freundin zum Spaziergang abholen sollte.

Sie fand sie zu ihrem Erstaunen schon in dem Torflur ihrer wartend, einfach, aber mit harmloser Koketterie gekleidet und offenbar sehr erfreut über ihre Pünktlichkeit.

»Ich möchte Ihnen vorschlagen,« sagte Thilda Thorbeck schnell und etwas erregt, »daß wir in die Kunstausstellung gehen. Es sind da wundervolle Bilder und ein schattiger Park und Militärmusik und . . .«

Und »Er«, dachte die Elten. Sie merkte schon, daß die Sache auf ein Stelldichein hinauslief, bei dem sie die Rolle des »Elefanten« spielen sollte. Laut aber erwiderte sie:

»Wie Sie wollen, Fräulein! Ich bin zu jeglicher Schandtat bereit.«

Sie stellten sich also auf den Vorderperron eines Pferdebahnwagens, auf dem ein kalkbespritzter Arbeiter sie müßig anstierte, und fuhren längs des Tiergartens, an der Siegessäule und dem Generalstabsgebäude vorbei, über die Alsenbrücke.

»Da ist die Kunstausstellung!« sagte Thilda und deutete vor sich hin.

»Da? Das große rote Gebäude links?« fragte die Elten, in der Sonnenglut unter Schirm und Schleier blinzelnd.

»Nein, das ist ja ein Zuchthaus oder sowas!«

»Ach so! Da hinten das stattliche weiße Ding mit den Türmchen?«

»Das ist die Garde-Ulanen-Kaserne!« erwiderte Thilda lachend.

»Also der Riesenkasten rechts . . . aber der sieht ja aus wie ein Bahnhof . . . oder gar wie zwei Bahnhöfe.«

»Es ist auch der Lehrter Bahnhof,« sagte die Thorbeck, »aber das, was zwischen dem Bahnhof, dem Zuchthaus und der Kaserne liegt . . . ja . . . da . . . das bunt herausgeputzte Eisen- und Glasgerippe, das ist das Preußische Landes-Ausstellungs-Gebäude.«

»Das könnte auch schöner sein!« meinte die Elten despektierlich. »Der Staat kümmert sich doch viel zu wenig um die Kunst!«

»Viel zu viel noch,« sagte Thilda, »alle Augenblicke wird uns in Berlin ein Stück verboten, bis es das Oberverwaltungsgericht wieder freigibt. Die Polizei in der Kunst, das ist wie die Kuh im Porzellanladen! Es kommt nichts Gescheites dabei heraus!«

»Gehen Sie in die ›Freie Volksbühne‹, Fräulein,« sagte plötzlich der Arbeiter vor ihnen, griff an die Mütze und stieg ab, »an die kann der Staatsanwalt nich tippen!«

Die Elten sah ihm erstaunt nach.

»Haben denn die Arbeiter hier ihre eigene Bühne?« fragte sie.

»Zwei!« Thilda lachte. »Die ›Freie‹ und die ›Neue Freie‹! Ich hab' selbst mal in den ›Webern‹ mitgespielt. So ein dankbares Publikum findet man gar nicht wieder.«

»Also das ist die berühmte ›Freie Bühne‹?«

»Nein, die ›Freie Bühne‹ war wieder etwas anderes. Daneben gab es auch noch eine ›Freie Deutsche Bühne‹ und eine ›Fresko-Bühne‹.«

»Ehe ich das alles begreife, werde ich hundert Jahre alt!« seufzte die Elten und stieg mit der Freundin die Treppe zu dem Ausstellungsplatz hinunter.

Am Eingang zu der Glashalle wollte sie sich gewissenhaft von einer der Verkäuferinnen einen Katalog erstehen, Aber Thilda wehrte ihr.

»Wenn Sie sich jedes einzelne Bild nach der Nummer ansehen wollen, brauchen Sie zwei Tage. Das meiste sind doch Schmieralien. Wir schlendern am besten so durch, und ich zeige Ihnen das Hauptsächlichste.«

Das Hauptsächlichste wird wohl ein Leutnant sein, dachte die Elten. Aber sie muß ihrer Sache sehr sicher sein, daß sie gerade mich als Gardedame mitnimmt. Denn ich bin doch viel hübscher!

Daran war kein Zweifel. Die Thorbeck war gerade noch passabel zu nennen und dabei äußerst mager.

Übrigens schien diese sehr ungeduldig, daß sie Valeska gar nicht aus dem vordersten, dem Ehrensaal, wegbringen konnte, wo die zahlreichen, mit minutiöser Genauigkeit abgepinselten Uniformen und Paraden deren höchstes Interesse erweckten.

»Das ist alles so reell gemalt«, meinte sie naiv. »Zum Beispiel hier . . . auf dem Orden kann man ganz deutlich die Inschrift lesen . . . und ebenso der Helm hier . . . von dem Kürassiermajor . . . der ist ganz genau nach der Vorschrift.«

Aber Thilda zog sie mit sich fort und ließ ihr kaum Zeit, ab und zu eines der Genrebildchen zu bewundern, die namentlich im Düsseldorfer Saal ihr Entzücken erregten. Den Großvater mit dem Enkel auf den Knien, das mit der Katze spielende Mädchen, die Heimkehr des Reservisten, alle die schönen Bilder, die sie so oft in den Familienblättern gesehen, hingen da in Reih' und Glied, und sie zürnte wirklich der Thorbeck, die sie immer weiter drängte, weil die wirklich guten Bilder, namentlich das Gemälde »Größenwahn«, im letzten Saale hingen.

Also denn man zu! Nur einmal blieb Valeska noch stehen und warf einen erstaunten Blick in den Nebensaal. Es schien, als sei da zwischen den bunten Leinwandrahmen ein Loch in die Wand gebrochen, durch das das Tageslicht hereinströmte. Jenseits des Loches sah man eine Sanddüne, auf der eine alte Frau zwei Ziegen hinter sich herzerrte. Weiter nichts.

»Ein Werk Max Liebermanns«, sagte Thilda. »Gefällt es Ihnen?«

Das wußte Valeska nicht. »Es ist so ganz anders«, sagte sie beklommen und folgte Thilda zu dem Bilde »Größenwahn«. Schon von weitem leuchtete ihr die virtuos gemalte Gestalt des irrsinnigen Mimen entgegen, der, die Pappkrone auf dem Haupt, in eine zerlumpte Decke gewickelt, majestätisch inmitten seiner verhungernden Familie in der Dachkammer stand.

»So was zu malen! Schrecklich!« sagte sie. »Es gibt doch so viele nette Sachen, Blumen und Landschaften und Soldatenbilder und hübsche Mädchen, warum denn nun ausgerechnet gerade . . .«

Aber Thilda hörte nicht mehr auf sie. Sie blickte aufgeregt und, wie es schien, etwas erschrocken auf die beiden Herren, die kopfschüttelnd vor dem Gemälde standen.

Zwei kann sie sich doch nicht bestellt haben, dachte Valeska. Also hat »Er« zur Vorsorge sich auch einen Heldenvater mitgebracht – wirklich reizend!

In der Tat war der eine der Herren schon anfangs der Vierzig. Ein stattlicher, hochgewachsener Mann, in dessen dunklem Vollbart und Haupthaar bereits die ersten Silberfäden schimmerten. Zahlreiche kleine Fältchen spielten in dem wettergebräunten, durchgeistigten Gesicht, über dessen ernst, beinahe müde blickenden Augen blendendweiß der obere Teil der Stirn glänzte.

Also ein Landwirt oder ein Offizier. Eher ein Offizier, nach dem tadellosen Sitz des grauen Sommerzivils und der straffen Haltung zu schließen.

Sein Begleiter, ein kleiner, etwas hinkender Herr zu Ende der Zwanzig, der eben höflich grüßend auf Thilda zutrat, war offenbar nicht militärisch, sondern akademisch gebildet. Beweis: der mächtige »Durchzieher«, dessen rosige Narbe ihm vom linken Ohr quer über die Backe bis in den Mundwinkel lief. Dies tadellose Exemplar konnte nur in der Heidelberger Hirschgasse oder der Göttinger Landwehr entstanden sein. Anderswo, zumal auf Universitäten mit Glockenschlägern statt der Korbklinge, wäre es niemals gediehen.

Thilda war ihm einige Schritte entgegengegangen. Sie sprachen leise miteinander. Dann machte sie eine Bewegung, als wollte sie sagen:

»Ich habe sie nun einmal mitgebracht! Wie konnte ich denn wissen . . .!«

Am besten ist, ich ziehe mich zurück, dachte Valeska.

Aber schon traten die beiden auf sie zu, und die Thorbeck stellte ihr den Regierungsassessor von Rönne vor.

Eine kurze Pause entstand. Offenbar handelte es sich darum, wie der andere Herr, der sich ihnen näherte, die Begegnung auffassen würde.

Valeska hatte den Eindruck, als sei es die Absicht des Assessors gewesen, seinen Begleiter gewissermaßen mit Thilda zu überrumpeln, und als sei sie, Valeska, beiden nun sehr im Wege.

Aber der Fremde machte gute Miene zum bösen Spiel. Als wohlerzogener Mann mußte er sich den Damen vorstellen lassen.

»Nun, Max,« wendete er sich gelassen zu dem anderen, »ich sehe, du triffst Bekannte.«

»Ja, gestatte, lieber Albrecht!« stotterte der Assessor aufgeregt. »Mein Stiefbruder, Major von Rönne – Fräulein Thorbeck vom Westend-Theater!«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, mein Fräulein!« sagte der Major, sich verbeugend, mit halbem Lächeln.

Thilda wurde blutrot, erwiderte aber nichts.

»Und hier . . .« Natürlich wußte der Assessor den Namen nicht.

»Fräulein Elten, meine Kollegin«, sagte Thilda rasch. »Sie war so freundlich, mich heute zu begleiten. Frau Haupt, unsere alte Wirtschafterin, ist unwohl.«

»Doch hoffentlich nichts Ernstliches?«

»Nein. Ein bißchen Influenza.«

Man verstummte wieder. Valeska begriff jetzt so ziemlich den Zusammenhang.

Offenbar war der ältere Herr gegen die Verlobung seines Bruders mit einer Schauspielerin. Und gerade heute, wo dieser ihn glücklich in die Falle gelockt und gezwungen hatte, Thilda kennenzulernen, brachte sich das Unglücksgeschöpf auch noch eine Kollegin mit!

Und noch dazu eine so abschreckend hübsche! Eine nette Situation. –

»Ja, wie wäre es . . .«, meinte der Asessor stockend – er wußte, daß er eine besondere Dummheit sagte –, »wollen wir uns nicht die Bilder ansehen?«

Also sah man sich die Bilder an.

Thilda ging mit ihrem Auserkorenen voran. Der Major trat an Valeskas linke Seite.

Der wünschte sie jetzt auch ins Pfefferland! Valeska empfand das und schwieg. Sie konnte doch das Gespräch nicht eröffnen.

Aber da hörte sie schon neben sich eine wohlklingende Stimme.

»Verzeihen Sie, mein Fräulein!« sagte der Major halb lächelnd und sah sie von der Seite an. Valeska, dachte blitzschnell daran, daß sie im Profil eigentlich am wenigsten hübsch sei. »Ich komme so gut wie nie ins Theater, wahrscheinlich habe ich die Ehre, neben einer unserer berühmtesten Schauspielerinnen zu gehen?«

»Ich? Ach du lieber Gott!« die kleine Elten sagte das, stehenbleibend, mit dem Brustton so ehrlicher Überzeugung, daß beide hell auflachten.

»Nein, wahrhaftig, Herr Major,« fuhr sie dann fort, »ich bin froh, wenn ich's Leben hab' hier in Berlin!«

»Sind Sie denn schon länger in Berlin, mein Fräulein?« fragte Herr von Rönne.

»Erst seit vorgestern, und ich komme mir hier so klein vor, aber so klein . . .« Valeska deutete, mit der Hand auf den Boden zeigend, das winzige Maß ihrer hiesigen Bedeutung an. »Ich habe die Empfindung, als wäre ich eine ganz, ganz kleine uralte Frau . . . hier in Berlin!«

Der Major lachte.

»Also kommen Sie aus der Provinz, mein Fräulein?«

»Ja, aus Bergheim!« Valeska atmete erleichtert auf. Sie empfand es dankbar, daß der so geistvoll und überarbeitet aussehende Mann sich zu einem Gespräch mit ihr zwang, das sie ohne Schwierigkeit führen konnte. »Dort hat es mir viel besser gefallen. Aber schließlich . . . man muß doch nach Berlin . . .«

»Ist das so nötig?«

»Ja gewiß!« sagte Valeska ernsthaft. »Hier macht man Karriere – oder auch nicht! Ich für meinen Teil wähle das letztere!«

»Das glauben Sie ja selbst nicht, mein Fräulein!« Der Major sah sie mit höflichem Lächeln an. »Ich werde in nächster Zeit die Theaternachrichten in den Blättern verfolgen, um rechtzeitig von Ihren Triumphen zu erfahren.«

»Wie soll ich denn ohne Rollen triumphieren?« rief Valeska verzweifelnd aus. »Man gibt mir ja keine! Das ist gerade, wie wenn Sie ohne Ihr Bataillon den Feind schlagen sollten!«

»Das heißt . . . verzeihen Sie den Vergleich . . .«, fügte sie nach einer Weile kleinlaut hinzu. »Unser Komödienspiel darf man natürlich nicht mit so ernsten Dingen zusammen nennen!«

Aber Herr von Rönne schien nichts dabei zu finden – im Gegenteil!

»Das ganze Leben ist ein Kampf, mein Fräulein,« sagte er ruhig, »und in der ganzen Welt spielt man Komödie. Das geschieht nicht nur auf den Schlachtfeldern und nicht nur im Theater des Abends von sieben bis zehn.«

»Gott sei Dank!« Thilda hatte sich flüchtig umgedreht, um nach Valeska zu schauen, und wandte sich wieder zu ihrem Begleiter. »Die freunden sich miteinander an!«

Der Assessor lächelte überlegen.

»Mein Bruder ist ein vollendeter Weltmann und als preußischer Stabsoffizier jeder Situation gewachsen. Er unterhält sich mit dem kleinen Mädchen so gut, wie er es ebenso notgedrungen mit irgendeiner törichten Durchlaucht oder einem bissigen Vorgesetzten tun würde. Das ist Sache der Form. Sein Geist weilt weit von hier bei seinen Aktenstücken und Kriegsplänen!«

»Aber wir wollen ihm zu Hilfe kommen!« Und sich mit Thilda zu den andern gesellend, begann er den Cicerone zu spielen und die Gemälde zu erklären.

»Ist das ein gutes Bild?« hatte Valeska gerade vor einem Münchener Impressionistenwerke vertrauensvoll den Major gefragt, und der hatte ihr lachend geantwortet: »Zu viel Ehre, mein Fräulein! Ich verstehe gar nichts davon, aber ich finde es scheußlich!«

Der Assessor übernahm nun also die Führung. Man wanderte durch die farbenglühenden Räume Italiens, man besuchte die blutrünstigen, riesigen Spanier, bei denen die Mädchen vergebens nach einem Bilde ohne Mord und Leichen suchten, man sah die belgischen Armeleutmaler, die stillosen Engländer, man studierte zahllose deutsche Bilder, trotzig hingestrichene Impressionistenstücke neben sorgsam von Frauenhand für den Verkauf zurechtgepinselten Stilleben, zum Kasinoschmuck angefertigte Fürstenporträts, Landschaften im alten Stil mit riesigen, unwahrscheinlich tintenschwarzen Schatten und lichtgraue moderne Luftstudien.

»Warum scheint denn auf den neuen Bildern nie die Sonne?« fragte Valeska.

Aber niemand wußte eine Antwort.

Bald wurde man müde vom vielen Schauen. Bunte Farbenflecke tanzten vor den Augen, und dem Major erschien, wie er behauptete, die ganze Ausstellung nur noch als eine ungeheure Masse durch Ölflecke verdorbener Leinwand, aus der man weit besser Hemden für die Waisenkinder hätte machen sollen.

Der Assessor führte also die Gesellschaft ins Freie und, als ob es sich von selbst verstände, auf das große halboffene Rundell zu, worin sich das Weinrestaurant der Ausstellung befand. Gegenüber spielte die Kapelle des 2. Garderegiments gerade den »Feuerzauber«, ein dichter Menschenstrom flutete langsam dazwischen hin, und rechts und links erstreckten sich unten auf dem Kiesboden die schwarzwimmelnden Biertische. Auch in dem Rundell war alles schon von der besseren Welt der weintrinkenden Kreise erfüllt, allein ein Kellner hatte, gegen das Versprechen reichlichen Trinkgelds, einen Tisch an der offenen Balustrade reserviert.

Valeska schien jetzt die Zeit gekommen, sich zu empfehlen.

»Also auf wiedersehen morgen früh,« sagte sie zu Thilda und reichte ihr die Hand, »ich danke Ihnen auch schön!«

Thilda wußte nicht recht, was sie machen sollte.

Da wandte sich der Major an Valeska.

»Sie Ärmste haben wohl noch eine große Rolle zu lernen?«

»Ach nein!«

»Ja, was machen Sie denn dann, wenn Sie jetzt nach Hause kommen?«

»Nichts. Ich gehe in meinem Zimmer herum, rauche eine Zigarette und hadere mit meinem Schicksal!«

»Ja, das verstehe ich nicht!« sagte Herr von Rönne und sah sie an. »Dann bleiben Sie doch bei uns, mein Fräulein!«

»Aber natürlich!« pflichtete der Assessor bei. »Bitte ganz gehorsamst!«

»Ja, wenn es Sie nicht stört«, sagte die Elten und stieg neben dem Major die Treppe hinauf. »Ich bin so froh, wieder einmal unter Menschen zu sein – ich fühle mich so schrecklich verlassen in Berlin . . .«

»Seltsam . . .«. Der Major nahm ihr den kleinen Sonnenschirm ab und stellte ihn gegen einen leeren Stuhl. »Ich dachte immer, gerade den Damen vom Theater fehlte es an Abwechslung nicht!«

»Manchen freilich nicht,« erwiderte Valeska, tugendhaft seufzend, »und dann die berühmten Schauspielerinnen, die freilich, um die dreht sich ja alles. Über die schreibt man Romane und Theaterstücke, sogar Orden kriegen sie; aber wer kümmert sich um uns arme kleine Würmer?«

»Da haben Sie recht!« sagte Thilda, während sie sich setzten. »Aber ich glaube, es geht überall so; die große Menge sieht immer nur die Ausnahmen, und uns andere verurteilt sie nur so in Bausch und Bogen und denkt, daß wir alle ohne Perlenkolliers und eigene Equipagen nicht existieren können und dafür des Abends so ein Viertelstündchen Komödie spielen!«

Valeska schwieg sittsam. In ihr aber regte sich der verbrecherische Gedanke: »Wenn die von meinem kleinen Husaren wüßte, die würde sich wundern!«

Thilda aber ahnte nichts dergleichen. »Da geht Mizi!« sagte sie zu Valeska und deutete auf die kleine Stadinger, die eben hüstelnd und in schläfriger Respektabilität unten am Arme eines hübschen bartlosen Menschen vorbeischritt.

»Ist das der Prinz?« fragte die Elten.

Nein, der Prinz von Dunn speiste eben ahnungslos in seinem Kasino. Dies war nur der Naturbursche des Spree-Theaters.

»Ormes Vater . . .«, sagte Valeska bedauernd im Mikosch-Dialekt und sah den beiden nach, »wie host du dir verändert!«

Die andern lachten, und der Major fragte scherzend: »Haben Sie das auch in Bergheim gelernt, mein Fräulein?«

»Ach nein,« sagte die Elten leicht errötend, »dort gibt's keine Ungarn . . .«

»Aber Husarenoffiziere!« rief der Assessor. »Der berühmte Harwitz stand auch eine Zeitlang bei dem Regiment . . . erinnern Sie sich, Fräulein Thilda?«

»Gewiß!« sagte Thilda. »Ihm schrieben sie ja hier schon in der Reitstunde das große Wort zu: ›Kerl lümmelt sich da auf dem Gaul herum wie die Ariadne auf dem Naxos!‹«

Die kleine Elten konnte sich nicht mehr halten: »Donnerwätter!« sagte sie zu Thilda und kopierte täuschend den näselnden Kavalleristenton. »Önneroffizier, jebrauchen Sie jefälligst nich immer Jleichnisse aus biblische Jeschichte!«

Darüber entstand erneute Heiterkeit. Valeska aber wandte sich zu dem Major und sagte ernsthaft: »Das ist nun wirklich eine Errungenschaft aus Bergheim, oder vielmehr aus unserer Sommersaison im Bade Holl. Da kamen die Herren immer des Abends in Zivil herüber und gingen einfach hinter die Kulissen . . .«

»Und wurden nicht weggewiesen?«

»Aber ich bitte Sie, sie nahmen ja immer eine ganze Proszeniumsloge, und in den Knopflöchern hatten sie kleine Sträußchen stecken, die warfen sie uns dann auf die Bühne . . . ach, das waren zu reizende Menschen!«

Thilda machte ein etwas bedenkliches Gesicht. »Ich bin froh, daß ich kein Sommerengagement mehr anzunehmen brauche,« sagte sie, »diese trostlose Schmierenwirtschaft . . .«

»Da liegt Poesie drin!« widersprach die Elten lebhaft. »Und zu drollig ist's manchmal! Früher«, wandte sie sich zu dem Assessor, »soll in dem Badetheater eine furchtbar geizige Direktorin gewesen sein. Die machte im ›Freischütz‹ den Wolfsschluchtzauber selbst mit und galoppierte als Wildschwein auf allen vieren über die dunkle Bühne. Eines Abends aber leuchtete ihr Max mit seinem Kohlenpfännchen ins Gesicht und fragte höflich: ›Guten Abend, Frau Direktor! Wo wollen Sie denn so spät noch hin?‹«

»Das rechte Auge eines Wiedehopfs,« deklamierte Thilda, »das linke eines Luchses . . .«

»Das linke ist Luxus!« bestätigte die kleine Elten ernsthaft und fuhr dann eifrig fort: »Einmal – das hab' ich von diesem Sommertheater doch selbst gehört – da versprach sich die Amalie in den ›Räubern‹, und der Direktor zog ihr dafür anderthalb Mark ab. Einen Taler sollte sie für den ganzen Abend bekommen. Da ging sie in ihre Garderobe und zog sich aus. Daraufhin streikten auch Franz Moor, der Pfarrer und alle Räuber, bloß der Kosinski nicht, ein strebsamer polnischer Anfänger. Mit dem spielte Karl Moor allein das Stück zu Ende. Sowie der Kosinski auftrat, fragte er ihn: ›Wo sind meine Räuber?‹ – ›Tott, großer Hauptmann!‹ – ›Und mein Bruder?‹ – ›Auch tott!‹ – ›Und Amalie und . . .?‹ – ›Tott . . . alles tott!‹ Daraufhin sagte Karl Moor: ›Dem Manne kann geholfen werden!‹ und ging ab. Und erst als der Vorhang fiel, schrie eine Stimme von der Galerie: ›Der alte Moor sitzt ja noch im Hungerturm!‹«

»Immer noch besser als hier im Parodie-Theater«, bemerkte, sein Monokel festklemmend, der Assessor. »Da sperrten sie den alten Moor in den Durstturm und stellten eine große Weiße davor!«

Die beiden Mädchen schüttelten sich vor Lachen, und Thilda rief: »Das ist doch dort, wo in den Ritterstücken zum Schluß der Lampenputzer kommt und alles auf der Bühne totschlägt?«

»Gewiß!« bestätigte der Assessor. »Früher gab man da schöne Stücke: ›Die Ehre oder die Jöhre, oder wenn ick so wat höre!‹ und die ›Haubenlerche‹, oder ›Lerche, Liebe, Leichtsinn und Lumpenmatz‹, Schauspiel in zwei Hauben und einer Lerche! Jetzt aber muß man in das American-Theater gehen. Das ›Kind in der Kommode‹ ist einfach groß!«

»Det Kind is 'n Affe!« murmelte die Elten, die dies kleine Meisterwerk des Berliner Verismus aus der Reklamschen Bibliothek kannte. »Und ick bin sein Vater . . . jloobt et mir!«

Abermals schrien die drei vor Entzücken. Valeska aber wandte sich mit vor Lachen feuchten Augen zu dem Major, der ihr das Weinglas füllte. »Wir sind zu kindisch!« sagte sie. »Sie müssen sich wirklich bei uns langweilen.«

»Ich beneide Sie, mein Fräulein,« sagte Herr von Rönne, und es zuckte seltsam über sein müdes, geistvolles Gesicht, »und es tut mir wohl. Ich weiß kaum, wieviel Jahre vergangen sind, seitdem ich kein so frisches, helles Lachen mehr um mich hörte.«

»Sprechen Sie, bitte, vor ihm nicht von Kindern!« flüsterte der Assessor rasch Valeska zu, während sein Bruder sich eben zu einem vorübergehenden Kellner wandte. »Er hat vor fünf Jahren seine beiden einzigen Knaben an der Diphtheritis verloren.«

»Der Ärmste!« Valeska empfand ein tiefes Mitleid mit dem freundlichen, vornehmen Manne. »Ist er denn auch Witwer?«

»Nein. Die Frau lebt noch!«

Thilda hatte nichts von dem Gespräch gehört.

»Was machen Sie denn für ein Gesicht?« rief sie über den Tisch herüber zu Valeska. »Sie sehen ja wieder aus wie drei Tage Regenwetter. Und dabei hat sie eine Bombenrolle in unserem neuen Stück!« erklärte sie, zu den beiden Herren gewandt.

Die kleine Elten, die schon ein paar Gläser Rheinwein getrunken hatte, wurde traurig.

»Spotten Sie nur!« sagte sie kläglich. »Jetzt, wo ich ein bißchen vergnügt bin . . . ich komme mir ohnedies schon vor wie ein gescheuchter Hase . . . hier in Berlin!«

»Scheint Ihnen aber gut zu bekommen, gnädiges Fräulein!« bemerkte der Assessor.

Allein Valeska ließ sich nicht überzeugen.

»Ich bin ein armes Häsulein!« trällerte sie und schlug mit den Fingern den Takt auf den Tisch. »Sie auch, Fräulein Thilda . . . die Dobschütz bringt uns um.«

»Wer ist denn die Dobschütz?« fragte der Major.

»Kennen Sie die Dobschütz nicht?« Valeska schien sehr verwundert. »Dann seien Sie froh. Das ist eine Ausgeburt der Hölle, nicht wahr?«

»Jawohl!« Thilda konnte das mit gutem Gewissen bestätigen. Wer die Dobschütz umbrachte, tat ein gutes Werk.

»Sie haben leicht lachen,« sagte sie zu den Herren, »aber wir Ärmsten . . . wir . . .«

»Wir sind zwei arme Häsulein!« trällerte die Elten wieder und leerte seelenvergnügt ihr Glas. »Besonders ich! Alle piesacken sie mich hier in Berlin . . . und ich hab' doch keinem was getan! Es ist ein Elend!«

»Ach, Kinder,« sagte sie dann träumerisch, »hier ist es doch zu nett! Die Musik und die bunten Bilder und die vielen Menschen . . . und . . . und so alles . . . Gestern um die Zeit war ich beinahe verzweifelt! Ich habe heute die halbe Nacht geweint«, wandte sie sich zu dem Major und sah ihn aus ihren großen, seelenvollen Augen an.

»Und kamen sich als armes Häschen vor!« lachte der Assessor.

Thilda goß ihr Wein ein:

»Ich glaube, das Häschen hat es faustdick hinter den Löffeln!«

»Ich?« Valeska bemühte sich, ihre unschuldigste Kindermiene aufzusetzen, während ihr der Schalk um die Mundwinkel zuckte. »Ich hab's schon vorhin dem Herrn Major gesagt . . . ich bin froh, wenn ich nur das Leben hab' . . .«

»Und die Rolle der Rieke!« lachte Thilda.

Valeska schlug zornig mit der kleinen, geballten Faust auf den Tisch.

»Diese Rieke!« rief sie empört. »Diese Rieke, dieses Scheusal . . . morgen schick' ich dem Alten die Rolle zurück! Die kann er sich sauer kochen lassen! Ich spiele sie nicht! Diese Rieke . . .!«

Dabei sah sie sich doch aber etwas ängstlich um, ob jemand ihre despektierliche Musterung gehört habe.

»Sie werden die Rolle spielen,« sagte inzwischen Thilda kaltblütig, »und wenn das Stück was macht, werden Sie sie hundertmal spielen und, wie Sie eben treffend bemerken, froh sein, daß Sie das Leben haben.«

»Natürlich werde ich das!« Valeska war schon wieder ganz kleinlaut. »Aber sagen Sie alle: ist es nicht eine Erbärmlichkeit, solche Rollen zu schreiben? Zu was haben wir denn die Theaterzensur? Die sollte solche Rollen verbieten, statt der Stücke!«

Der Major hatte die ganze Zeit schweigend dagesessen.

»Um was handelt es sich denn eigentlich, mein Fräulein?« fragte er jetzt.

»Um unsere Novität . . . Ellinor heißt sie. Ganz habe ich sie heute noch nicht kapiert. Aber es ist eine bösartige Ehebruchsgeschichte!«

»Zum Schluß nimmt die Dobschütz Gift!« rief Thilda dazwischen.

»Wenn sie's nur in Wirklichkeit täte!« Valeska faltete fromm nach Kinderart die Hände. »Ich wollte es ihr ja gerne aus der Apotheke holen!«

»Und ich zahl's!« setzte Thilda schwermütig hinzu. »Der Gedanke ist kindisch, aber göttlich schön!«

»Aber, meine Damen!« Der Major schien ehrlich erschrocken.

»Ja, Sie kennen das Theater nicht!« sagte die kleine Elten. »Da wird man so!«

Nein, der Major kannte wirklich das Theater nicht.

»Sie haben mir heute eine ganz neue Welt eröffnet, meine Damen!« sagte er lachend. »Ich war wirklich nahe daran, zu vergessen, daß es überhaupt noch vergnügte Kinder dieser Welt gibt, und bin meinem Bruder jetzt wirklich dankbar, daß er mich auf ein paar Stunden meinem finsteren Aktenloch entrissen hat.«

Thilda warf ihrem Verehrer einen strahlenden Blick zu.

»Nun, sehen Sie!« Valeska schaute Herrn von Rönne ernsthaft ins Gesicht. »Die Welt geht also nicht unter, auch wenn Sie einmal nachmittags keine Schlachtenpläne machen.«

Sie fühlte sich außerordentlich wohl und schwatzte und lachte in einem fort! Sie erzählte von dem dicken bayerischen Rittmeister, der in ihrem berühmten Bade Holl gesagt haben sollte: »Im Dienscht bin i a Viech!« und nach einer Weile nachdenklich hinzugesetzt: »Und i bin immer im Dienscht!« Und von dem Mimen, der eigentlich stotterte, sich aber des Abends ver . . s . . s . . stellte. Sie warf das scharfsinnige Rätsel auf, wie man seiner eigenen Zigarre begegnen könne – wenn man nämlich gerade nach Hause käme, während die Zigarre ausgeht –, und riß in dem strahlenden Übermut, mit dem sie ihren Unsinn vorbrachte, die Herren mit sich hin.

Auch Thilda war zufrieden. Anfangs hatte sie mit gelindem Bangen bemerkt, wie Fräulein Elten anfing, aus sich herauszugehen. Bald aber merkte sie, daß diese sehr sicher die Grenzen des Erlaubten innezuhalten wußte und bei aller Lustigkeit in Sprache und Benehmen sich nichts vergab. Eine sechsjährige Erziehung durch die preußische Kavallerie hatte da Wunder gewirkt.

So schlenderte man vergnügt durch den Park, in dem das blaue Licht der Bogenlampen seinen Schein auf die wimmelnden Massen warf; man besuchte den Pergamontempel und die Osteria mit ihren verrückten Wandgemälden, man zeigte Valeska das »Nasse Dreieck«, wo Tausende von Menschen gleichzeitig Drehersches Bier tranken, und war im Begriff, die »Klause« aufzusuchen, als der Assessor etwas zögernd auf die Uhr sah.

»Lieber Albrecht,« sagte er, »entschuldige, daß ich dich erinnere. Wir sind heute abend zu Westrows eingeladen!«

»Ja, aber doch erst auf acht Uhr!«

»Ja – halb acht ist es!«

Darüber entstand allgemeine Aufregung. Niemand hatte geglaubt, daß die Zeit so rasch verstrichen sei.

»Schade!« sagte Valeska offenherzig, während sie mit Thilda in einen Wagen stieg, und schüttelte den Herren herzlich die Hand. »Daß Sie gerade heute eingeladen sein müssen; es war so nett . . . das heißt . . . wenigstens für mich. Sie, Herr Major, haben natürlich das Recht und die Pflicht, uns zu grollen, daß wir Sie in Ihren Kriegsplänen ge . . .«

Aber da zog der Gaul schon an, die Herren lüfteten ihre Hüte, und der Wagen rollte davon.

Unterwegs schüttete Thilda der neuen Freundin ihr Herz aus: Sie sei mit dem Assessor so gut wie verlobt. Dieser wolle dann seinen Abschied nehmen und ein Gut kaufen. Dazu aber gehöre die Einwilligung seines Stiefbruders, des Majors, der schon seit zehn oder zwölf Jahren infolge einer Erbschaft über ein bedeutendes Vermögen verfüge. Viel habe er selbst davon nicht, denn er lebe eingezogen nur seinem Dienste.

»Glauben Sie, daß ich ihm gefallen habe?« fragte sie ängstlich.

»Aber natürlich!« sagte Valeska mit imponierender Bestimmtheit. »Er ist ja selbst rasend in Sie verschossen!«

Thilda lachte hell auf. »Der . . .! Aber ein Glück war es, daß Sie mitkamen! Gott weiß, wie es ohne Ihr Geschwabbel geworden wäre!«

»Vermutlich sehr langweilig«, meinte Valeska und schlug dann vor, an der Jostyschen Konditorei auszusteigen und zur Abkühlung nach all den aufregenden Ereignissen Schokolade zu trinken.

Das taten sie also.

Dann gingen sie zu Fuß nach Hause in Thildas Wohnung und aßen dort auf dem Balkon zu Abend. Ihren Tee schlürfend, hörte Valeska geduldig die Geständnisse ihrer Freundin an, wonach ihr »Er«, nämlich der Assessor, schon seit Jahren als die Krone und Perle aller Männer erschienen sei.

Unwillkürlich kamen sie dabei in das Bühnen-»Du« hinein, während sie, Zigaretten rauchend und dicht aneinandergeschmiegt, in die dunkle, warme Augustnacht hinausblickten.

Gegen zehn Uhr erinnerte sich Valeska, daß sie keinen Hausschlüssel mithatte.

»Gute Nacht, du süßer Hammel!« sagte sie aufstehend und küßte die Freundin. »Schlaf gut und träum' von ›ihm‹!«

»Von wem träumst denn du?« fragte Thilda, ihren Kuß erwidernd.

Aber Valeska war durchaus nicht zu Geständnissen geneigt.

»Ich träume jede Nacht von meiner Urgroßtante«, sagte sie vergnügt, lief nach Hause und schlief, sich immer noch vor Lachen schüttelnd, ein.

 


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