Julius Stinde
Wilhelmine Buchholz' Memoiren
Julius Stinde

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Ein stilles Fest.

Erika als Erscheinung – Von Mosaikblumen und Kaulmanns Zigarren – Die eigensinnige Pfeffernuß

So weit auch die Thüren meines Herzens geöffnet standen, die Hoffnung blieb vor der Schwelle. Sie that zwar auf Stunden als wenn sie hineinwollte, aber die Sorge, die drinnen war, scheuchte sie von dannen. Als aber der Doktor sagte: »Wir sind über den Berg, das Fernere hängt von der rechten Pflege ab,« da packte ich sie und sperrte sie ein. Pflegen war meine Sache, nun konnte es nicht fehlen.

So sprach er am Tage vor dem heiligen Abend, und am nächsten Morgen sah mein Karl wie sonst theilnehmend in seine Umgebung: er fing wieder an, mit uns zu leben. Das war mein Weihnachten.

Am Abend ging ich einen Augenblick zu Betti hinüber zur Bescheerung. Papa wollte es so.

Die Kleinen jubelten und die Eltern waren weihnachtsfroh mit ihnen. Und auch mir thaten sie wohl: Lichterglanz und Kinderjubel und der Duft von Tannen und Kuchen: sind sie doch das irdische Gewand für himmlische Güter. Die hatte ich wiederum erfahren, mein Liebstes ging nicht von mir.

Betti war mir eine unersetzlichen Stütze während der bangen Zeit, wie sie für All und Jedes ein schnelles tüchtiges Abmachen hatte und so leisecken, daß das Krankenzimmer nichts vom Hausstand merkte. – Ruhe ist eine so wichtige Arznei, doch nicht alle Kranke kriegen sie, und doch kostet sie kein Geld – nur Liebe.

Auch Emmi kam und Frieda, und viele Nahestehende, jede meinte es gut, aber sie konnten nicht mit anfassen, dazu was ihre Zeit zu bemessen und ich konnte mich ihnen nicht widmen, da meine Zeit meinem Karl gehörte. Erika kam täglich. Sie war da ohne zu schellen, Dorette mußte sie einlassen. Sie saß, wie eine Erscheinung, plötzlich neben mit an seinem Bette und deutete mir stumm zu gehen. Dann ruhte ich oder that meine häuslichen Pflichten. Sie war die Erste, die sagte, es geht zur Besserung, sie schaute das unbedeutendste Zeichen und flüsterte es mir zu. Dann wich das Zagen.

Einmal sagte mein Karl in seinen Phantasien: ein windschwebendes Blumenblatt habe sich schmerzlindernd auf seine Stirn gelegt, es war aber Erikas Hand gewesen.

Und an einem Tage, es war der böseste, selbst der Doktor wurde sorgenvoll, da sprach sie »die Liebe stirbt nicht, ewig lebt die Seele, die liebt.« – Mich überkam es: »dann sehen wir uns wieder, mein Karl und ich.« – Fanden wir uns hier, finden wir uns auch dort und lassen nie von einander. Der Trost gab mir Kraft, nun mochte kommen was sollte, ich konnte das Schwerste überstehen. Fritz hatte recht, in Gedanken liegt beseligende Macht.

Mit Clavierspielen hätte sie das nicht zu Stande gebracht und wenn sie das Gebet der Jungfrau vor- und rückwärts könnte. Wenn die Nachtigall Worte hätte, wo da wohl die Dichter blieben? Sie hat aber blos Töne. –

Mit meinem Schenken sah es diesmal ärmlich aus. Dürres Geld hat nichts Weihnachtliches, die baumwollene Weste gehört dazu; selbst Fritz sagt »aus Thalern kann man keine Himmelsleiter bauen«, aber den Gedanken hat er durch sie und der war natürlich viel poetischer, bevor er ihn umdachte.

Betti und Erika übernahmen die Einkäufe für mich, aber die Geschenkinnerlichkeit fehlte, wenn auch die respectiven Enkel sich nichts daraus machten. Eine kleine Feuerwehr mit Spritze und Plumpe unterblieb, Emmi leistete sich sogar die spitze Bemerkung, ob ich nicht einige Torpedos für geeigneter hielt, da wäre das Haus mit einmal hin statt streifenweiser Verwüstung. Blos meinetwegen, weil ich ihnen fortwährend ruinirendes Spielzeug mitbrächte, müsse der Vater die Kleinen hart behandeln, und ihm selbst thäte das am wehesten. – Emmi sagte ich: »Knaben sind Knaben; je mehr Mumm darin sticht, um so prächtiger werden sie. Welch ein Unband war mein Bruder Fritz, wogegen Weigelt schon mehr ein Kamillentheekind gewesen sein soll. Bedenklich wäre höchstens für sie, wenn Dein Mann als Tambour gedient hätte, als Arzt hat er eine sanfte Hand und kennt die Weichtheile. Und entwickeln sie sich nicht sichtlich, namentlich Fritz? Das liegt so in der Buchholzschen Art.«

»Mama, einer ist wie der andere.« – »Na ja, die unglückselige Zwillingszucht; keiner soll etwas voraus haben. Und doch ist Fritz der intelligentere.«

Für Erika hatte ich glücklich die ersehnte Photographie. Ich fand einen gediegenen Anknüpfungspunkt, indem Frieda Schanz sich auch hatte breitschlagen lassen, ein Gedicht für den römischen Handtuchkalender zu arbeiten und so setzte ich ihr denn als Kollegin die Pistole auf die Brust. Das Bildniß ließ ich in Mosaik-Feldblumen einrahmen, die sind das Lieblichste der Heimath.

Für meinen Karl und mich wurden viele Gaben gebracht. Die Thür stand vor, damit das Geklingel nicht störte und Dorette saß auf dem Flur, die Boten zu empfangen.

Herr Kaulmann kam selber. Er hatte ein Kistchen Zigarren, wie er sagte: voll, leicht und kräftig, sie meinem Karl zu verehren. – »Wenn er schon soweit wäre«. – »Wenn ihm rauchert, die erste geben Sie ihm bitte, von dieser Sorte, das sollte mich ganz besonders freuen.« – Das gute Kaulemännchen.

Mir hatte Betti ein Buch aufgebaut, groß und schön mit vielen Bildern, das »Hamburger Weihnachtsbuch«, in dem Jahre herausgegeben, das der alten Hansestadt so schwere Wunden schlug, als der asiatische Tod wüthete und würgte. Es war ein Weihnachtsbuch in doppeltem Sinn, denn von dem Reinertrage wurde den Waisen ein heiliger Abend bereitet und das konnte geschehen, da es über siebentausend Mark gebracht hatte. Dies erfuhr Betti von Otto Meißner, dem Verleger, und es ging sie um so mehr an, als sie einen Beitrag darin hatte, allerdings unter anderem Namen, wie es in der schreibenden Welt oft geschieht, besonders, wenn Hochstehende in die Druckerschwärze hinabsteigen. Betti wollte mein Urteil haben, aber ich sagte, Wohlthätigkeitsgaben sind immer gut und hochwillkommen, bis auf Schuhe und Stiefel, wenn sie nicht passen. –

Ich mußte wieder hinüber. Karl verlangte zu essen; ein leichtes Süpplein von Huhn schmeckte ihm herrlich. Nun schickte Betti Karpfen mit viel Rogen, der sollte Glück bringen, noch mehr Glück! Sie denken doch an Alles, die Kinder.

Als mein Karl schlief, nahm ich das Buch.

Wir waren beide allein, kein Wort, kein liebes Du. Und doch ein Fest, wenn auch stilles Fest, das Fest der Genesung.

Dies dachte ich und dann las ich:

 
Die eigensinnige Pfeffernuß.

Es war einmal eine Pfeffernuß, die wollte mehr sein als die anderen, mit denen sie aus dem Backofen in die Welt gekommen war, eine ganze Platte voll, zwanzig Reihen und in jeder Reihe zehn einzelne.

Der Bäcker wußte ganz genau wie viele das waren, er wußte auch, wieviel Honig und Zucker, Mehl und Gewürz dazugehörte und was er verdienen würde, wenn er sie alle verkaufte. So klug war der Bäcker.

Als er die Platte in den Ofen schob, kam die linke Ecke zuerst hinein. »So ist es recht,« dachte die Pfeffernuß, die dort auf der Ecke lag. »Nun bin und die Erste,« und die Hitze des Ofens buck diesen Gedanken so fest in sie hinein, daß sie ihn nie wieder los ward.

Es war sehr heiß in dem Ofen, aber sie wühlten, wie sie äußerlich und innerlich besser wurden. Innerlich wurden sie gar, – sie waren ganz roh vorher – und äußerlich braun und blank, während sie vorher voll Mehlstaub saßen und hübsch glatt und rundlich, genug, sie waren kaum wiederzuerkennen, als der Bäcker sie herauszog.

»Die werden schmecken,« sagte er.

»Was das wohl ist?« dachten die Pfeffernüsse und freuten sich darauf, daß sie schmecken würden. Nur die eine Pfeffernuß oben in der linken Ecke brummte: »Ich will nicht schmecken, das überlasse ich den anderen. Ich bin die Erste«.

»Sagtest Du was?« fragte die nächste Pfeffernuß aus der zweiten Reihe. Die Pfeffernuß in der Ecke antwortete garnicht. War die andere auch eine Erste, war sie doch eine Reihe unter ihr und der Abstand zu groß; sie hielt sich zu gut, mit einer Niedergeborenen zu sprechen.

Nach einer Weile löste der Bäcker die Pfeffernüsse ab und that sie in eine spiegelblanke Trommel. Alle sprangen sie willig von dem Blech ab, bis auf die eine – die war eigensinnig und wollte nicht. Der Bäcker betrachtete sie und sprach: »Du hast mehr Hitze als die andern in Deiner Ecke gekriegt, aber es ist nicht zu viel geworden, es geht noch.« Dann nahm er ein Messer und schnitt sie mit einem Ruck los, so schwer sie sich auch machte. »Nun ist sie auch noch etwas ausgebröckelt,« sagte der Bäcker, »ich muß sie wohl obendrein geben.« Dann warf er sie zu den übrigen und klappte den Trommeldeckel zu.

Es war freilich stockdunkle Nacht in der Blechtrommel, aber die Pfeffernüsse unterhielten sich recht gut miteinander und waren zufrieden. Sie kannten es ja nicht anders.

»Wenn es nur erst soweit wäre, daß wir schmecken,« sagten sie, das war ihr Wunsch.

»Warum stimmst Du nicht mit ein?« fragten sie die Nuß von der Plattenecke.

»Weil ich mich nicht mit euch gemein machen will.«

»Oho, Du bist doch auch nur was wir sind.«

»Wie dumm ihr seid. Erstens war ich die erste im Ofen, zweitens habe ich mehr Hitze gekriegt, als ihr...«

»Du bist beinah verbrannt,« rief eine mutige Pfeffernuß, die sich von solchen Vorzügen nicht blenden ließ.

»Und dann werde ich »obendrein« gegeben, und das werdet ihr nicht.«

Da schwieg auch die mutige Pfeffernuß; die anderen waren längst mäuschenstill. Soweit würde es doch keine von ihnen bringen.

Nach einiger Zeit wurde die Trommel geöffnet. Der Bäcker schüttete eine ganze Menge Pfeffernüsse auf die Wagschale.

»Nur nicht so knapp,« sagte eine Frau vor dem Ladentische. »Die Nüsse sollen an den Tannenbaum, und wir haben vier Kinder.«

»Ich habe schon reichlich gewogen,« erwiderte der Bäcker, »aber eine geb ich Ihnen noch obendrein.« Da legte er noch die Eck-Pfeffernuß auf die Wage.

»Ach die ist ja angesengert und ausgebröckelt dazu.«

»Hängen Sie sie am allerhöchsten, da sieht es keiner. Und schmecken thut sie ebenso wie die andern.«

»Habt ihr's gehört?« fragte die Pfeffernuß, als der Bäcker sie in die Düte schüttete. »Ich werde die aller-allerhöchste! Ihr seid doch ganz gewöhnliches Volk, nicht einmal angesengert und ausgebröckelt seid ihr. Pfui über euch.«

Die Pfeffernüsse blieben still und stumm, keine wagte die Anmaßende zurückzuweisen. Sie hatten ja auch weiter keine Bildung genossen, als die im Backofen und waren nicht oben links in der Plattenecke die Erste gewesen. Diese Thatsache konnte niemand bestreiten. Aber sie hofften doch unbeirrt, daß sie schmecken würden, das glaubten sie, das hatte der Bäcker gesagt und der hatte sie ja auch aus Teig gemacht.

Die Frau, die sie gekauft hatte, nahm eines Abends eine große Nadel und zog damit durch jede Pfeffernuß einen weißen Faden. Der Mann dieser Frau knotete den Faden zusammen und dann kamen beide und hingen die Pfeffernüsse an einen grünen Tannenbaum.

»Die werden den Kindern schmecken,« sagten sie.

»Endlich,« sagten die Pfeffernüsse. »Wenn doch die Kinder nur kämen.« – Die vier aber lagen in ihrem Bettchen und schliefen. »Morgen ist Weihnacht,« sagten sie beim Zubettgehen, »einmal müssen wir noch ausschlafen. Einmal!« Und das thaten sie jetzt.

Während sie schliefen, zog der heilige Tag daher aus fernem Osten, aus weitvergangener Zeit. Ihm voran flogen Engel mit Flügeln so weiß wie der Schnee, vor denen versteckte sich böses Nachtgethier, Unholde und Gespenster. Dann folgten kleine Englein mit brennenden Kerzen in den Händen, sie auf die Weihnachtsbäume zu stecken und dann kamen Engel in Morgenrot und Lilienglanz, die sangen »Friede auf Erden« so schön, so schön! Und dann kam der heilige Tag, der war so herrlich, daß Alle die Augen schlossen und sich vor ihm beugten. Der aber senkte sich in der Menschen Herzen und machte sie selig. –

Als nun der Weihnachtsbaum brannte und sein Goldputz flimmerte, riefen die Eltern die Kinder herein. Da jubelten sie und sprangen über die Schwelle. Als sie den Tannenbaum sahen, sein Licht und seine Pracht, und die Geschenke darunter ausgebreitet, blieben sie stehen und ihre Augen öffneten sich weit und strahlend. Die Eltern hielten sie umschlungen und blickten herab auf die Kinder, in ihren Herzen war Weihnachtsseligkeit.

Die Pfeffernüsse an dem Baume hingen ganz still an ihrem Faden. Das Flittergold zitterte vor innerer Aufregung, sie aber schauten auf die Kinder. Denen also sollten sie schmecken.

»O,« sagte eine Pfeffernuß, »wenn ich dem kleinen Lockenköpfchen schmeckte, das da eben seine neue Puppe küßt, dann wäre ich glücklich.« – »Und was meinst Du, wenn der Knabe, der jetzt sein Steckenpferd einreitet, mich wählte? Er hat so niedliche weißt Zähne.«

Ein Tannenzweiglein knisterte in einer Lichtflamme. Das hieß: »Wollt ihr wohl stille sein.« Die Pfeffernüsse erschraken und schwiegen. Sie sahen nach, ob auch die erste Pfeffernuß den Verweis gehört hätte; sie konnten sie aber nicht entdecken; sie hing wohl zu hoch oben.

Aber nicht die Pfeffernüsse allein sahen sie nicht, auch vor den spähenden Augen der Kinder war sie versteckt. Als der Vater die Mutter fragte: »Wo bleiben wir mit der angesengten Abgebröckelten?« antwortete sie: »Oben im Baum, meinte der Bäcker.« Die Nuß aber wollte ganz hoch hinaus und glitt wieder von dem Aestlein ab, über das der Vater sie hängte. Da rutschte sie in das Dickicht der Zweige und hielt sich fest. »So,« sagte sie, »hier bin ich verborgen, niemand sieht mich und ich habe es besser als die andern. Ich will nicht geschmeckt werden, wie die.« Und so kam es auch; sie behielt ihren eigensinnigen Willen.

Als der Baum geplündert wurde, wie schmeckten da die anderen Pfeffernüsse, es war ein Vergnügen. Die Kinder freuten sich, die Eltern freuten sich, der Bäcker hatte sich schon gefreut. Der wußte ja im voraus, wie es kommen würde; am meisten aber freuten sich die Pfeffernüsse, denn es war ihre Bestimmung, daß sie zu Weihnachten schmecken sollten und ihre Pflicht. Und dies Bewußtsein erfüllte sie mit berechtigtem Stolz, mit so viel Stolz, als in eine Pfeffernuß hineingeht, und das war mehr als man ihnen zugetraut hätte. So endeten sie zufrieden wie Weltweise und die Kinder sagten: »Sie schmeckten wunderschön!« Das war ihr Nachruf.

Als der Tannenbaum abgeschmückt war, wurde er in einen Winkel des Hofes geworfen. Der Schnee hatte Mitleid mit ihm. Der sagte: »Hast Du kein Gold- und Silberpapier mehr an, will ich Dir wenigstens eine reine Decke geben.« Da deckte er ihn mit weichen Flocken zu und die Pfeffernuß auch, die keines von den Kindern gefunden hatte. Da war sie nun, verworfen, verschneit.

Als Tauwetter ward, zertropfte der Schnee und leckte auf die Pfeffernuß. Wie ihr das unangenehm war, da sie doch in der Hitze erzogen wurde und es immer trocken gehabt hatte. Sie ward weich, und verlor ihre Form und so schwer ward sie, daß sie zuletzt von dem Faden abriß und auf die Erde fiel. Die Sperlinge kamen und pickten davon, schalten aber und sprachen: »Pfui über das Zeug. So schlecht wie das schmeckt, giebt es nichts auf der Welt. Ein Haferkorn auf dem Düngerhaufen ist zehnmal besser.«

Da ward die Pfeffernuß sehr traurig und es that ihr leid, daß sie immer so eigensinnig und hochmüthig gewesen war. Alle andern hatten einen so schönen Nachruf gekriegt und ihr schimpften die Spatzen auf das Grab.

Es waren aber noch Weihnachtsengel am Himmel zurückgeblieben, um Nachschau zu halten, ob auch wo ein Menschenkind den heiligen Tag verschlafen habe. Die drückten eine Regenwolke aus und der Regen nahm die Pfeffernuß mit all ihrer Traurigkeit hinweg. Da war auch sie zufrieden.

 


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