Julius Stinde
Wilhelmine Buchholz' Memoiren
Julius Stinde

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Eine Aussprache.

Vom alten Stelzenkrug und den Folterknechten – Von Pranger und Preßfreiheit – Gebäudeprunk und Ruftis – Von neusteröffneten Café's und dem grau Wollenen – Die Sendung der Professorin und die Bewegung der Atome – Warum Wilhelmine von der theuren Sorte nimmt und um ihren Toast gebracht wird

Gelernte Dichter haben das Gemüth der Frau mit dem Weltmeere verglichen, und nicht mit Unrecht. Denn so war mir auch zu Muthe, das heißt wie vor dem Sturm. Wenn ich auf den Grund der Dinge ging, hatte die Philippine Schuld drang ich aber weiter, traf ich die Madame, auf deren Zeugniß ich hineinfiel. Mit dieser einen Ton über die Urkundenfälschung zu reden, hielt ich für nöthig, erstens weil durch solche Dienstbuchführung Treu und Glauben unter den Herrschaften gänzlich in die Brüche gehen und weil zweitens der Mensch ebenso gut Luft haben muß wie eine Trompete, die doch bedeutend unter ihm steht.

Da sie sich Professorin Susanne Safratka unterschrieben hatte und in der Kleiststraße wohnte, konnte sie mir nicht entgehen. Mein Feldzugsplan war als wenn der Generalstab geholfen hätte: klingeln, hinein, vorstellen, fragen wie das Mädchen gewesen? Sagt sie gut, ihr sagen »nicht wahr«, sagt sie schlecht, entgegenhalten, daß ihr Zeugniß ein nicht zu entschuldigender Betrug sei, ob sie für den Schaden haften wolle, ob sie mir meine Nerven wieder repariren ließe, ob sie glaubte, zerklüfteter Familienfriede könnte mit Syndetikon geleimt werden und was ich sonst noch für sie im Laden hatte. Die wollt ich anwärmen.

Das beste Hinkommen war Stadtbahn vom Alexanderplatz bis zum Zoologischen und dann die Kleiststraße hinterrücks vom Westen überfallen. Unseren Ausgangspunkt zu städtischen Unternehmungen bildet der Alexanderplatz, haben wir den erst zufassen, steht uns ganz Berlin offen. Früher war ja hier auch ein Thor und wo jetzt das große Hotel sich hinqueert, stand damals der Stelzenkrug, wo eine einsame Wirthin und ein armseliger Candidat wohnten, dem sie umsonst Kost und Logis aus reiner Barmherzigkeit gab, weil sie doch wohl wußte, daß sie nie etwas kriegen würde oder sehr klaterig, wenn er in Amt käme. Eines Tages aber lag die Wirtin mit einem Strick erdrosselt im Bette und die Schergen, wie die Schutzmänner derzeit hießen, schlugen den Jüngling in Bande, weil sie Sträfliches bei ihm witterten. In jenen Tagen genügte ein Verdacht, der gar keiner war, um einen Unschuldigen in den Thurm zu bringen und auf die Folter. Wen sie erst darauf hatten, der gestand, und wenn er nicht bekannte, keilte der Henker nach und hielt ihm brennende Lichter in die Achselhöhlen, bis es Blasen gab. Dann sagte er seine schwärzesten Verbrechen her. Aber die Kerzen mußten von den Priestern geweiht sein, sonst hatten sie nicht so viel Peinigungskraft.

Der arme Mensch leugnete anfangs und sprach: wie er, ein Beflissener der Gottesgelahrtheit, an seiner Wohlthäterin solche Sünde begehen könnte und rief den Herrn und die himmlischen Heerschaaren als Zeugen an und weinte, daß sie ihn aus der Noth erretteten.

Da hielten die Richter ihm vor: er sei ein Schelm, der Speis und Trank mit Teufelslohn bezahlt habe, er solle reumüthig seine Missethat gestehen. Und wieder bat er und flehte und sagte, er wisse von nichts.

Da nahmen sie ihn, rissen die Kleider von ihm und streckten ihn auf die Stachelleiter, wo das Blut nur so rann und immer mehr quälten ihn die Knechte, bis er heulte und schrie: ›ich hab's gethan!‹

»Das wußten wir vorher,« sagten die Richter und verurtheilten ihn, daß er von vier Pferden zerrissen werde. Als sei ihn wieder in den Kerker geworfen hatten auf seine elende Schütte Stroh, mit wehen Gliedern und blutenden Schrunden, gefaßt vom Wundfieber und schlaflos vor Schmerz in dem gemißhandelten Leibe, da stöhnte er: »Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Und bat: »Vergieb mir meine Sünde, die Hand der Menschen lag zu schwer auf mir, vergieb, vergieb und sei mir gnädig.«

Es kam aber kein Engel gegangen, sondern der Scharfrichter ging und sah sich einmal genau den Strick an, der um den Hals der Erdrosselten geschlungen war. Wer ihn dazu veranlaßt hatte, davon steht nichts in der Chronik. »Ei,« sagte der unehrliche Mann ganz ehrlich »den Knoten in dem Strick hat Einer gemacht, der zum Handwerk gehört, solchen Knoten versteht nur der Henker, der einen armen Sünder nach den Regeln der Kunst aufknüpft, den hat der Studente nimmer aus der Bibel schürzen gelernt.«

Und dies Wort ging von Mund zu Munde, vom Stelzenkrug bis an das Thor, vom Thor in die Gassen, von Straße zu Straße. Wer es vernommen, trug es weiter, nicht verborgen im Innern, sondern laut auf den Lippen. Er mußte es sagen, er mußte.

Und Einer, der es hörte, sprach: ich weiß einen fremden Henkersknecht, der zuzog um Arbeit zu suchen. Den faßten sie und er gestand alsbald ohne Folter, daß er die Wirthin erwürgt, um sie zu berauben.

Der Kandidat aber hatte auch zugestanden, daß er es gethan.

Da sah das Volk mit Entsetzen, wie das Gericht selber mit seiner Folter einen Unschuldigen zum Schuldigen verkehrt hatte, aber es konnte nicht ändern, was von rechtswegen seit Jahrhunderten für richtig galt, es hatte wohl die Erkenntniß des Unrechts und den Wunsch es abzuschaffen, aber keine Kraft. – Da gingen Männer hin zu Cocceji, der war Rath des Königs und Cocceji ging zum König und sagte ihm, was geschehen und der König verbot die Folter in seinem Lande von nun ab für immer. Den Verurtheilten befahl er sofort aus dem Kerker zu entlassen und seiner zu pflegen. Der sprach: der Herr hat mir geholfen durch meinen König und sprach weiter: habe ich unschuldig gelitten, daß fürder der Menschen Viele vor der Folter bewahrt bleiben, will ich Gott danken und preisen, daß er mich, der Geringsten einen zu seinem Werkzeuge auserwählte. Befiehl ihm Deine Wege, er wird es wohlmachen allezeit.«

Diese Geschichte befällt mich fast jedesmal, wenn ich über den Alexanderplatz gehe, obgleich ich nicht mehr weiß, wo ich sie las, aber wahr ist sie, denn Cocceji's Marmorbüste steht noch im Kammergericht in der Lindenstraße. Und die Daumenschrauben sind auch abgeschafft, wie überhaupt jede Tortur. Es geht jetzt alles nur mit Worten, mit Präsidenten und Staatsanwälten, so zu sagen ohne jeglichen Druck und wenn der Fortschritt so weiter zunimmt, kann man auf das Angeklagtwerden zuletzt noch eine Vergnügungssteuer legen. Selbst schon das Kriminal-Backsteinpalais am Alexanderplatz hat etwas Einladendes als Tempel der Verbrecherwelt, wie so leicht keine zweite Stadt aufzuweisen vermag. Ueberall begegnet man in dieser Hinsicht der Zivilisation und genießt mit Ergötzung den Unterschied zwischen der Zeit, in der es Foltergeräth gab und Hexen, Ketzer und Wahn und Aberglauben, und der Jetztzeit, wo Aufklärung herrscht und Anständigkeit. Der Pranger ist abgeschafft und die Preßfreiheit steht in Blüthe und selbst wenn man Einer ein Freibillet für den Armsünderkarren bezahlen wollte: diese Wagenklasse existirt nicht mehr.

Wir fahren stets nur Dritter auf der Stadtbahn; die Pferdebahn hat ja auch nur einen Rang. Ich kann jedoch nicht sagen, daß ich es glücklich traf, denn es stürmten noch soviel junge Menschen in das schon ziemlich gefüllte Abtheil, worin ich mich niedergelassen hatte, daß mehrere nur Stehsitz fanden und sich gerade vor mir aufpflanzten. Wenn ich auch zugebe, daß die Stadtbahn nicht zur Betrachtung von Naturschönheiten gebaut worden ist, muß ich doch sagen, daß der mir hier gebotenen Ansicht selbst eine Fahrt durch einen Tunnel vorzuziehen war. Verbittet man sich das... danke für die Antworten, denn auch jetzt unterhielten sich die Bengel so zuchtlos, daß man nicht wußte, wo man mit den Blicken bleiben sollte, die an den dargebotenen Rückansichten durchaus nicht haften wollten.

Ich hatte bis jetzt noch nicht die Gelegenheit, mit einer Schaar solcher angehender Ruftis zu fahren und nahm mir vor: von jetzt an nur Zweiter. Es dürfen sich Leute nicht wundern, wenn man sich von ihnen zurückzieht. Nicht Hochmuth und Ueberhebung unserseits ist Schuld daran, sondern die Unmanier und Rüdigkeit ihrerseits.

Diese Berührung mit einem recht unsauberen Theile des Volkes trug nicht zur Erhöhung meiner Stimmung bei und selbst der Gebäudeprunk der Kleiststraße prahlte vergebens. Was nützen vergoldete Balkone und die aufgeputztesten Vorderseiten des Hauses, wenn die Gemeinheit der Gesinnung in Stadtbahnwagen über harmlose Fahrende ausgespieen wird, die sich nicht wehren, ja nicht mal beschweren können? Da ist der Gegensatz zu groß zwischen Wohnpalast und Rederoheit. Und auch aufrichtig gesagt: Mir war manches Haus doch zu sehr verarchitekt und vom Gipskonditor verklackst. Etwas Ornament schmückt, aber blos Besatz hat keinen sittlichen Hintergrund.

Beim Hausnummernsuchen wird das Urtheil über den Baustil unwillkürlich geweckt; das Resultat ist: was steht, steht und man muß es sich gefallen lassen.

Endlich fand ich das Schild: S. Safratka, Professor der mathematischen Elektrizität. – »Das wird auch so ein Mondscheinlichtmacher oder Leitungsdrahtdirektor sein,« dachte ich, »oder er reist mit Nebelbildern, denn das Mathematische ist weniger zum Verdienen, als mehr in Schulen und ziemlich brotlos.« – Ich machte mich auf mindestens vier Treppen gefaßt.

Als jedoch die Thürwartin, wie die Portiers jetzt gereinigt heißen, mir den Bescheid giebt, der Herr Professor Wohnten Hochparterre links, stutzte ich natürlich, und wie ich den rothplüschenen Treppenläufer sehe, und das rothseidensammtgepolsterte Treppengeländer und die polirten Stuckwände und das Glasgemäldefenster mit einer in Obst und Blumen schwebenden Badegöttin, und überall vergoldete Tippeln und Streifen, und Nägel und Leisten, überkommt mich das Gefühl, ob Umkehren nicht das Beste sei, da doch in diese Umgebung die von mir ausgearbeitete Ansprache nicht paßte. Hier mußte mehr in Rococco geredet werden und nicht Alexanderplatzisch.

Während ich mich langsam hinaufzögerte, besann ich mich. Es war doch höchst interessant, die innere Einrichtung zu sehen, wo schon draußen ein Fürst mit verlorenem Etagenschlüssel, ohne Entwürdigung, übernachten konnte. Und wegen der Philippine mußte ich ein Lippchen riskiren; zum zwecklosen Spazierengehen ist die Zeit zu kostbar.

Ich klingelte. Eine Art Zofe machte auf.

»Ist die Frau Professorin zu sprechen?« – »Ich weiß nicht.« – »Also ist sie zu Hause.« – »Wen darf ich der gnädigen Frau melden?« – »Hier ist meine Karte und sagen Sie: in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

Die Elvira ging hinter und ich durfte mir den Flur betrachten, der jedoch nicht zum Umfallen war, sondern nur einfach. »Aha,« dachte ich, »hier sie die Baugelder alle geworden.«

Neugierig war ich aber auf die gnädige Frau. Früher besagte dieser Titel noch etwas, heute kriegt Jede ihn im Fünfzigpfennigbazar zu, die keine Pantinen hat. Sonntags, wenn die Käse-Lehmannen in das neusteröffnete Café geht, um zu sehen, ob es ihren Beifall als Verschönerung der Residenz in Anspruch nehmen darf, wird sie von den Kellnern mit gnädige Frau bedient und das schmeckt ihr, daß sie ordentlich ausleckt und dickes Trinkgeld giebt. Darüber hat sogar die Bergfeldten sich aufgehalten, als sie es erlebte. Aber wenn die andeutet: es wären Andere, denen die gnädige Frau zukäme und auch wie angegossen säße und sich damit meint, ist sie gründlichst in der Rangliste verbiestert. Dazu gehören eben ganz Andere.

»Die gnädige Frau ließen bitten.«

Ich wollte doch, ich hätte mein schwarz Ripsenes angehabt, als ich eintrat, denn mein grau Wollenes, das bei schlechtem Wetter zur Markthalle gut genug ist und es für simple Professoren ebenfalls gethan hätte, fiel in dieser Umgebung ab. Das war Alles wie frisch aus dem Gewerbemuseum: geschnitzte Stühle, jeder verschieden, riesenhafte Vasen mit unheimischen Gewächsen, Teppiche auf dem Fußboden, Teppiche an der Wand, Teppiche auf dem Tisch in zaubervollen Farbenmustern, dazu große Oelgemälde und Broncefiguren. Das sah man: die Leute hatten was und neuesten Geschmack dazu.

Ich machte eine Verbeugung und wollte beginnen, aber meine Beredsamkeit war wie angebackt. Das Amöblemang hatte mich überwältigt.

Was nun die Professorin war, kam auf mich zugegangen und sagte mit sanfter Stimme:

»Sie sind Frau Wilhelmine Buchholz, nicht wahr? Mir sehr willkommen. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Während sie so sprach, geleitete sie mich an das Sopha: rothbrauner Damaststoff, mit orientalischen Goldarabesken gestickt, förmlich zu schade zum Daraufsitzen und ein Abstand zu meiner eigens ausgesuchten zweiten Garnitur, daß ich nicht an mir selber herabsehen mochte, als ich saß. Und die theuren feinen Sachen hingen unverwendet zu Hause im Spinde. Aber woran lag das? Weil die Lene von ihrer letzten Herrschaft immer blos als plundriger Gesellschaft erzählte, so lange wir anfangs noch harmonirten.

»Frau Professorin hatte ein Mädchen,« begann ich, »eine Magdalene...«

»Ich mußte sie entlassen,« nahm die gnädige Frau mir das Wort ab, »sie hatte mehr Fehler, als ich ertragen konnte.«

»Eben deshalb,« sagte ich und kriegte Oberwasser, »gerade deshalb erlaube ich mir, hier zu erscheinen. Ich miethete die Person im Vertrauen auf das gute Zeugniß, das Frau Professorin ihr ausgestellt haben, muß aber ehrlich gestehen, daß es der Wirklichkeit sehr wenig entspricht...«

»O doch,« unterbrach sie mich milde, »ich habe nur die guten Seiten des Mädchens betont. Die schwachen anzuführen widerspricht dem Gebote der allgemeinen Menschenliebe. Ich bin auch überzeugt, daß sie ihre Fehler ablegen wird...«

»Ich nicht,« redete ich dazwischen, »in der sticht es drin und kommt nie und nimmer heraus. Das ist wie mit den Gurken, bei einer durch und durch bittern hilft kein Schälen und kein Kürzerschneiden.«

»Der Mensch aber ist der Liebe zugänglich. Man muß den Strauchelnden gelinde zureden, sie kräftigen im Guten. Man muß Toleranz üben, sie leiten und lehren, ihnen die rechten Wege zeigen.«

Obgleich die neben mir Sitzende in dem kremfarbenen seidenen Morgenrocke, auf dem ich zu meiner Beruhigung ein ganz Theil älterer und neuerer Kaffeeflecke entdeckte, eine gnädige Frau Professorin war, konnte ich doch nicht umhin, mir die Gegenbemerkung zu gestatten: »Warum haben Frau Professorin denn die Lene nicht behalten und zu einem Musterexemplar zurechtmodellirt? An der war massenweis auszubessern.«

Sie sah mich gütig an. »Mit den Details gebe ich mich nicht ab, mein Streben ist auf das Ganze gerichtet, und damit ich ungehindert wirken kann, müssen hemmende Einflüsse mir fern bleiben. So fasse ich meine Sendung auf und den Beweis dafür sehe ich darin, daß mir Glücksgüter ausreichend zu Theil wurden und keine materielle Sorgen die Schwingen des Geistes beschweren.«

»Ihr Herr Gemahl verdient wohl sehr bedeutend?« fragte ich und warf einen Rundblick auf die Sehenswürdigkeiten des Zimmers.

»Meinem Mann fehlt der Sinn für das Praktische, aber hat ein Gelehrter, wenn er Doktor ist, nicht Anspruch auf eine reiche Frau? Das Geld erleichtert ihm die Carriere, er kann seine ganze Kraft zur Erreichung seiner Ziele einsetzen, während ungünstig Situirte erst für das Materielle sorgen müssen, ehe sie an die Lösung wissenschaftlicher Probleme gehen können. Mein Mann wurde Professor, weil er geradezu Hervorragendes leistet.«

»Dann wird das elektrische Licht nächstens wohl billiger?«

»Mein Mann arbeitet nur theoretisch; die streng mathematische Behandlung der elektrischen Erscheinungen ist sein Fach. Er berechnet die Wellenlängen der Aetherschwingungen und die Bewegung der Atome.«

»Sie haben Bewegung?« fragte ich ungläubig.

»Sowohl im Einzelnen, wie im Universellen,« belehrte sie mich eingehend. »Das ganze Weltall besteht aus Atomen, ohne sie ist nichts Seiendes, ohne sie nichts Festes, Flüssiges, Kaltes und Warmes, ohne sie das Urnichts. Und mein Mann berechnet sie.«

»Sonderbar,« entgegnete ich. »Man sagt wohl mal Atom, aber man denkt sich doch nichts dabei.«

»Das ist das Unglück der Menschheit, sie denkt nicht. Sobald wir nachdenken, treten uns alle großen Fragen entgegen, die Fragen der Zeit. Die Atome sind unleugbar, mein Mann ist ja eben durch sie Professor geworden und sie werden seinen Ruhm ungeahnt erhöhen, was aber noch Niemand gewiß weiß, das ist das geistige Prinzip, das Seelische. Selbst mein Mann sagt ignoramus. Und mir sagt mein Gefühl, wo Atome sind, ist auch geistige Kraft, also ist sie.«

»Gerne möglich,« stimmte ich ihr zu.

»Wir dürfen sie nicht verneinen, ohne sie verfällt die menschliche Gesellschaft dem Materialismus, alle Bande frommer Scheu werden zerrissen, entsetzliche Leidenschaften äußern sich ohne Halt, der Unterschied der Stände hört auf, der Haß wird geschürt, wer ist sicher gegen zügellose Gewalt? Was haben wir nicht schon erlebt? Was kann noch Alles kommen?«

»Roher werden die Menschen,« pflichtete ich bei, aber aus Schicklichkeitsgründen verschwieg ich meine kurz vorher gemachten Stadtbahnkupee-Erfahrungen dritter Klasse. »Viel liegt mit an der Erziehung.«

»Es mangelt der Menschheit an Ethik,« rief sie lebhaft, und sprang auf. »Wir Alle, Alle müssen daran arbeiten, daß Jeder, auch der Aermste, von den Prinzipien der Ethik durchdrungen werde. Dann beginnt das Zeitalter der Toleranz, der Humanität, dann bricht der allgemeine Weltfriede herein und jeder trägt sein Loos ohne zu murren. Ach wird das schön werden.« Sie sah recht niedlich aus in ihrem Eifer, mit blanken braunen Augen und üppigem, kastanienfarbigem Haar, wie sie sich im Voraus auf eine gänzlich zum Guten umgekrempelte Menschheit freute. So leid es mir that, mußte ich doch ihre Illusionen abkürzen, indem ich der Wahrheit gemäß einwarf:

»Es giebt nur zu viel Pöbel.«

»Man muß bessern. Auch sie, liebe Frau Buchholz, könnten unendlich fördern, aber leider... leider fehlt es Ihren Schriften an Ethik.«

»Ich habe wohl von Ethik gehört, aber gehabt noch nicht. Können Sie mir schlankweg sagen, was es ist?«

»Nein, wie wäre das möglich? Dazu bedarf es des Studiums, der ganzen Hingabe, der Hauptzweck ist jedoch eine höhere Auffassung des Lebens, des Daseins, der ganzen Welt zu erstreben. Treten Sie unserm Bunde bei, dem »Verein zur Verbreitung ethischer Prinzipien«, wir besuchen die Vorlesungen gemeinschaftlich, Sie erhalten sämmtliche Druckschriften des Vereins, der Beitrag ist ja so gering zur Großartigkeit der Sache, nur acht Mark das ganze Jahr zu vier Quartalen gerechnet und zwei Mark Eintrittsgeld, und fünfzig Pfennig für die himmelblaue Vereinsschleife, links am Halskragen zu tragen.«

Sie ging an den Schreibtisch, kramte herum und kam mit einer Karte und einer blauen Schleife zu mir. »So,« sagte sie, »hier schreiben Sie Ihren Namen hin und wenn Sie die zehn Mark fünfzig erlegt haben, sind Sie Mitglied unsers Vereins mit seinen hochedlen Zwecken. Oder sind Ihnen zehn Mark fünfzig zu viel? Wir haben auch außerordentliche Mitglieder zu drei Mark das Jahr, aber ohne Schleife. Dazu würde ich Ihnen jedoch nicht rathen.« Bei diesen Worten taxierte sie meinen Anzug mit eingehenden Blicken, als ob ich mich wohl sehr nach den allgemeinen Geschäftszeiten kleiden müßte. Das verdroß mich. Zum Glück hatte ich kein mageres Portmonnai bei mir und sagte, indem ich es auf den Tisch legte und breit aufmachte:

»Geben Sie mir nur von der theureren Sorte. Knickern hat die Buchholz nicht gelernt.«

Als ich unterschrieben und bezahlt hatte, war die Professorin seelenvergnügt. »Die Vorlesungen sind auf der Rückseite der Karte verzeichnet, Sie dürfen keine versäumen. Und noch eins, ehe Sie gehen. Werben Sie fleißig Mitglieder für den Verein, von jeder Mark, die Sie einliefern, werden Ihnen fünfundzwanzig Pfennig baar zurückgezahlt.«

»Der Verein gefällt mir,« antwortete ich, »bei dem ist ja etwas zu verdienen. Das gehe ich mir mal mit anhören.«

»Wie gerne plauderte ich noch mit Ihnen, allein ich muß in eine Comiteesitzung,« sagte die Professorin. »Auf Wiedersehen, meine liebe Frau Buchholz, auf Wiedersehen, wenn nicht anders, dann in der nächsten Vorlesung. Adieu, meine liebe Vereinsgenossin, Adieu!« –

Ich war außerhalb der Wohnung verfügt, ich wußte nicht wie? Um den Toast, den ich halten wollte, war ich herumgekommen, statt dessen stand ich in der Kleiststraße und war für zehn Mark fünfzig Vereinsmitglied geworden. Und wie viel hatte ich zu sagen gehabt. Aber die besten Sätze fallen einem erst ein, wenn man die Thür von draußen zugemacht hat.

Auf die Ethik war ich sehr gespannt. Jedoch so viel steht fest, wenn sie eben so ist wie das Gesabber der Professorin, dann lieber einen ganzen Tag vor Johanni Carussel fahren. Viel düsiger kann man dabei auch nicht werden.

 


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