Julius Stinde
Wilhelmine Buchholz' Memoiren
Julius Stinde

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Das Kind der Haide.

Vom Mühlendamm als Phönix und dem wehklagenden Holz – Vom kleinen Ferdinand und dem rothen F. – Wer Herr Sieber ist und von Hemden mit gründurchzogenen Kanten – Warum das Individuum aufhören soll und Wilhelmine Tonart redet – Warum Naue kein Verräther wird und die Stufen Zuwachs kriegen

Liefe das menschliche Leben auf Schienen, wäre es leicht, nicht nur glatt, sondern auch zur rechten Zeit seine Ziele zu erreichen. Da aber das Bahnwesen verhältnißmäßig spät nach der Erschaffung der Welt erfunden wurde, muß man mit Hindernissen kämpfen, so oft man vorwärts will.

Diese Idee kam mir, als ich, um nach der Skalitzerstraße zu fahren, in den entgegengesetzten Pferdebahnwagen gestiegen war, wodurch ein Groschen, reichlich zwanzig Minuten und meinerseitige Lobpreisungen der modernsten Errungenschaften verloren gingen. Pferdebahnen sind eben Errungenschaften, wenn sie auch nicht überall durchdürfen, aber es sind ihrer so verschiedene, daß man sie nicht genau merken kann, wenn eine Sondertour unternommen wird und selbst der Geübte sich versieht. Der Fehler großer Städte ist eben die Zuvielheit.

Emmi hatte mir allerlei ältere Ober- und Unterkleidungsstücke von Fritz und Franz gegeben, die dem kleinen Knaben passen mochten, den ich in der Hasenhaide mit dem Thor spielen sah. Auch Betti gab von ihrem Aeltesten her, wo er herausgewachsen ist, so daß ich ein handliches Bündelchen hatte, und wer mich nicht kannte, in mir eine reisende Theilhaberin eines Mühlendammer Geschäfts vermuthen konnte. Aber der Mühlendamm ist nicht mehr. Spätere Geschlechter werden nicht verstehen, wie man bei einem nicht gut mehr gehenden Paletot zum Beispiel scherzend fragen konnte: »der ist wohl neu vom Mühlendamm?« Denn aus den alten Kleiderläden hat er sich wie ein Phönix hervorgeschwungen: Alles frisch lackiert und gepflastert und dem Brückenoffizier eine Burg hingebaut, daß er sich in weihevollen Stunden für einen Seeraubritter halten kann.

Die Skalitzer-Straße ist durchweg mehr nutzbringend für Hauswirthe als zum Vergnügen der Bewohner, wenn man die aufgethürmten Stockwerke betrachtet, so egal und so lang, lang weg. Und die vielen Kinder, die aus den Thorwegen auf die Straße krabbeln. Jedes Gebäude ist wie ein Bienenstock, da schwärmen sie ein und aus, mit und ohne Fußzeug. Die Baarbeinigkeit herrschte ziemlich vor als ich den Bürgersteig längs schritt.

Sie spielten, und lärmten und flitzten mit den Spatzen um die Wette, sie rannten über den Fahrdamm, dicht an den Pferdebahnwagen vorbei. Klingelt der Kutscher, laufen sie erst recht, droht er mit der Peitsche, lachen sie ihn aus, und schlagen darf er nicht. Denn auf Mißhandlung steht Untersuchung.

Wo sollen die Kleinen auch anders hin als auf die Straße? Ein wahres Wunder, daß nicht mehr von Schlächter- und Bierwagen übergefahren werden als geschieht; sie sind aber auch flink wie die Wanzen.

Die Kinder thaten mir nichts, weil sie wohl annahmen, ich ginge mit meinem Pack hausiren; als ich jedoch in den Thorweg einbiegen wollte und sie mich neugierig umringten, ward mir allerdings etwas sonderbar. Ich begab mich ganz allein unter wildfremde Menschen und der Mann, der aus dem Wurstfettkeller zusah, machte auch ein Gesicht: »was will denn die Person?« Und ich mußte auf den dritten Hof, ganz hinten hin, durch die Quergebäude, die in ihren grauen, rahmstreifigen Wänden eine Menge kleiner Löcher hatten. Das waren die Fenster, aus denen die Armuth heraussah – und eine größere Oeffnung, das war die Einfahrt, durch die die Armuth zu den Fenstern hingelangt und der Müllwagen fährt und der Leichenwagen. Andere Karossen kommen dort nicht vor, es sei denn, daß Hochzeit gemacht wird. Dann müssen sie eine Kutsche haben und alle Nachbarn sehen aus den Fensterlöchern zu.

Ich fragte eines der größeren Mädchen: »Kannst Du mir sagen, wo Frau Naue wohnt?« – Nee, antwortete es.

»Sie wohnt aber hier, dritter Hof gerade aus, fünf Treppen links.« – »Ach so, de Nauen soll et sind. Ja, die weeß ick, kommen Selbst man mit. Selbst nennen selbst immer de Arganisten, indem ihr Mann Strike studiren thut und der Schlafbursche bei de Arganisten jejangen is.«

Ob ich umkehrte? Wo doch. Ein Kund schnabbert sich was zusammen. Die Frau war zwar nicht freundlich, aber doch ordentlich. Nur munter.

Im ersten Quergebäude war eine Maschinentischlerei, wir hörten die Bretter kreischen, wie die Sägen sich durchfraßen; die Thüren standen offen und Sägespäne wehten auf den Hof. Den ganzen Tag wehklagt das Holz von früh bis spät, so lange die Dampfmaschine geht, die in einem weg buff, buff macht, als bliese sie oben aus dem Rohr jedesmal ein Stück von der Arbeitszeit gegen den Himmel und von dem Arbeitseinerlei, bis von dem Tag nichts übrig geblieben ist als der Abend.

Auf dem zweiten Hofe war zu ebener Erde ringsum allerlei Betrieb, wie es schien meistens gröbere Arbeit, wegen des knappen Lichtes, das bei Bewölkung wie heute, sich nur als Dämmerung zu erkennen gab. Es war ja alles ziemlich sauber gehalten und aufgeräumt, so daß man auf einen klobigen Vicewirth schließen konnte, aber damit war die trübselige Nothdürftigkeit nicht beseitigt, die als elende Farbe an Fenstern und Thüren saß, die billigen Treppen abgetreten hatte und an allen Ecken und Kanten nach Reparatur japste. Und kein grünes Blatt für das Auge, nur Hof und Wohnung.

»Ihre Puste is de Treppen wol nich jewohne?« fragte das Mädchen, beim Hinaufklimmen im dritten Hof-Quergebäude, als ich so ungefähr beim achten Absatz mich an dem knackenden Geländer festhielt und Luft schöpfte. Es that mir jedoch weniger das Steigen an als der Armeleute-Dunst, der sich von allen Stockwerken hier oben eine Zusammenkunft gab, so eine gebrauchte Luft, wie zu Atmosphäre gewordenes Aufwaschwasser.

»Wir müssen noch weiter ruf,« trieb die Kleine an.

Je höher wir kamen, um so heller wurde es, weil wir uns dem Dachfenster näherten. Endlich warnen wir oben.

»Hier links den Jang lang,« sagte das Mädchen und deutete in einen dunklen Seitenflur hinein: »De fünfte Dhire rechts, da kloppen Se man.«

»Ich danke dir, mein Kind.«

»Nich mehr wie jerne jeschehen,« rief sie und sprang die Treppen hinunter. Ein liebes kleines Wesen.

Ich tappte mich an den Thüren entlang. Die fünfte war die letzte. Auf mein Klopfen keine Antwort. Ich pochte noch einmal. Stärker, noch stärker. Da hörte ich drinnen sich's regen.

»Ich bin es!« rief ich. »Machen Sie nur auf, Frau Naue. Ich bringe Ihnen etwas.«

Nach einer Weile wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Thür vorsichtig geöffnet. Es war die Frau aus der Hasenhaide.

»Ach Sie sinn't?« sagte sie verlegen, als sie meiner ansichtig ward. »Bitte, kommen Se rin.«

»Wo ist denn der Junge?« fragte ich. »Da ist er ja. Wie heißt er denn?« – »Fernand.« – »Ein hübscher Name.« – »Wir ham'n so nach Lassall'n jenannt.« – »Hm,« sagte ich vor mich hin.

»Liebe Frau Naue,« fing ich an, da sie es vorzog, sich unterhalten zu lassen, »ich habe so Verschiedenes für den Kleinen. Ich hoffe, es paßt ihm. Wenn nicht, legen wir es ein, denn es ist eher zu völlig als zu eng.« Dabei schnürte ich das Bündel auf und packte die Sachen auf dem Tisch aus.

Der Tisch stand an dem einzigen Fenster, davor ein Stuhl und noch ein Stuhl zur Seite; das dritte Sitzmöbel war ein hölzerner Schemel, worauf gerade einige umgestülpte Teller und Kochtöpfe ausleckten. In er Ecke ein kleiner Kastenofen diente gleichzeitig als Heerd und war zu diesem Zwecke mit Ringen eingerichtet; das eiserne Knierohr ging hoch oben durch die Wand, an der eine Sechsertapete theilweise in Lappen herunterhing, weil in dem Kochbrasen der Kleister wohl aufgeweicht war, falls sie jemals welchen gesehen hatte. Ueber dem Herd war die Decke schwarz geblaakt, nach dem Fenster zu tönte sie mehr ins Gelbliche, wie mit einem Besen gestrichelt. An der einen Seite stand eine kieferne Holzbettstelle, an der anderen eine schmale eiserne, ordentlich aufgemacht beide, aber fast ohne Weißzeug, mit bunten Ueberzügen, denen nicht so leicht anzusehen ist, ob sie eine oder mehrere Wäschen überschlagen haben.

Da die Frau durchaus keine Anstalten machte, nahm ich den Jungen auf den Schooß und pellte ihn aus: ein dünnes Röckchen und ein Hemdchen, das war Alles, was er anhatte, wenn man die Löcher in den Strümpfen nicht mitrechnete.

Das Mitgebrachte saß wie nach Maaß und im Handumdrehen sah der Kleine reizend aus in dem marineblauen, mit weißer Litze besetzten Knabenkleidchen, dazu schwarz und weiße Ringelstrümpfchen und eine Matrosenmütze mit langen Wehbändern. Vorne dran war für Franz mit Seide ein rothes F gestickt zum Unterschied zum Fritz der grün hat. Das eignete sich für Ferdinand wie bestellt, da er sich auch mit einem F anfängt und roth hier ihre Gesinnungsfarbe ist.

Frau Naue war stumm; sie sah nur immer ihren Jungen an, als wenn er es gar nicht wäre; ihre Augen glänzten, ihr Busen hob und senkte sich in Erregung, ihre Lippen öffneten sich, als wollte Freude hinaus, aber sie sprach kein Wort.

Der Kleine lief auf sie zu mit erhobenen Aermchen; sie nahm ihn und küßte ihn und küßte ihn. Sie gab ihm der ärmsten Mutter reichste Gabe, alle ihre Liebe im seligsten Kusse.

»Das Uebrige hier ist für den Zuwachs,« sagte ich, auf die größeren Kleidungsstücke deutend. »Verwarten Sie's ihm. Sie sollen sehen, was das erst für ein Kerlchen in Hosen ist.«

Das Bischen Sonnenschein verschwand aus dem Gesicht der Frau, es ward wieder so kummereingefroren wie vorher.

»De Hosen kricht er nich an,« sagte sie, »und det Röckchen ooch nich. Und dies Zeich behält er ooch nich. Ziehn' Se't ihn man widder aus und nehmen Se't an sich.«

»Aber, Frau!«

»Ziehn Se't ihn aus. Ick kann't nich.«

»Sehen Sie doch, wie der Junge sich freut.«

»Sie hätten't ihn nich anziehn soll'n.«

»Ich verstehe Sie nicht...«

»Nu wird'n 't Herz jroß, nu er't widder herjeben muß,« sagte sie bitter.

»Muß? Unsinn, was ihm geschenkt ist, behält er.«

»Er dürf nich.«

»Wer will ihm das verbieten?«

»Sein Vater.«

»Der eigene Vater? Mich dünkt, wenn der Vater seinem Jungen nicht mal ein Unterjäckchen anschafft, soll er froh sein, wenn Jemand ihn von Kopf zu Fuß kleidet, daß er aussieht wie ein kleiner Prinz.«

Die Mutter blickte den Knaben zärtlich an. »Et läßt ihn reizend schön... Aber er dürf donnich.«

»Sein Vater wird's schon zugeben, wenn er ihn so sieht.«

Die Frau seufzte. »Möglich sein könnt' et sind, dett er't dhäte, aber Herr Sieber leid't nich. Ne, der leid't nich.«

»Wer ist der Herr Sieber?«

»Unser Schlafbursche.«

»Wo haben Sie denn den zu logiren?«

»Da.«

»Wo?«

Die Frau nickte mit dem Kopfe nach der Wandseite hin, wo die eiserne Bettstelle stand. Ich versuchte dort eine Thür zu entdecken, allein es gelang mit mir angestrengtester Sehschärfe nichts weiter vorzufinden, als die Bildnisse von Bebel, Liebknecht und Singer, eingerahmt an der Wand und mit rothen Schleifen umstochen. Für die waren Groschen vorhanden, fünf Pfennig Stopfwolle zu Nanteken seinen Strümpfen konnten jedoch nicht herabgerückt werden. Mich übergrauste eine Ahnung, aber der Unglaublichkeit wegen fragte ich noch einmal: »Da neben an?«

»Wir haben man blos diese Stube.«

»Weiter nichts? – Keine Küche? – Keine Kammer?«

Die Frau schüttelte mit dem Kopfe, so oft ich fragte.

»Und Ihr Schlafbursche wohnt da in dem Bett?«

Sie nickte zustimmend.

»Und sie und Ihr Mann?«

Sie nickkopfte nach der andern Bettstelle hin.

»Und Nante?«

»Uf de Erde.«

In dem Winkel neben dem Bette stand eine Ruine von einem Korbe mit einem Kissen darin und halb mit einem verschossenen, schwarz und lilla karrirten Umschlagetuch bedeckt. Mit einiger Phantasie konnte man die Gesammtzusammenstellung für ein Kinderbett halten.

«Das geht doch nicht. Sie müssen eine andere Wohnung haben.«

»Wir jeben hier schonst Miethe jenug. Ohne de Schlafstelle wüßte ick nu mal jarnich, wie wir't machen sollten. Wir müssen ebend vermiethen, sonst schmeißt der Wirth uns raus. Vor den haben se Alle Bange.«

»Verdient Ihr Mann denn nicht soviel, daß Sie eine Stube für sich allein haben? Scheniren Sie sich denn vor dem Fremden nicht?«

»Weil ick so jar nischt anders an- und auszuziehn hab' als jeden Dag dieselben Lappen, muß ick mir ja mit mein Zeig schämen. Aber't kommen andere Zeiten; so jeht' et nich länger. Denn wohnen wir vorne raus un ick hab' eben so jut ne Frisöse, wie de Vicen, un Hemden, de Kanten jrien durchjezogen. Denn brauch ick mir nich mehr scheniren. Wat ick mir jetzt quäle is blos'n Uebergang; wir halten't aus. Det Schlimmste is bald überstanden.«

»Haben Sie denn stets in solcher Entbehrung gelebt? Haben Sie nie bessere Tage gesehen?«

»O ja, vor den ersten Strike, da kamen wir janz jut weiter, da wohnten wir in die Köpenickerstraße, Stube, Kammer und Küche freundlich jelegen, mit Aussicht in'n Jarten. Da legten selbst de Arbeet nieder un't Wochenjeld wurde knapp, bis et nischt mehr aus de Kasse jab. Da mußten wir bei Peten dragen, wat nich jrade zun druf sitzen war oder druf zu liejen, un da is mein jutet Kleid noch, wenn überhaupt de Motten 'n Fussel ibrig jelassen haben, indem't schon lange her is. Von die Zeit an sinn wir ejal weg in'n Rückstand. Un kommen ooch nich raus.«

»Das sollte doch möglich sein.«

»Nee. Wenn der Verdienst mal in'n Jange is, un bein Budiker is et ziemlich jlatt: jleich machen selbst widder Strike.«

»Reden Sie Ihrem Mann doch zur Vernunft.«

»Strike muß sind; je mehr Strike, um so eher kommt der Umsturz, sagt Herr Sieber.«

»Wie viel besser könnten Sie leben, wenn Ihr Mann regulär arbeitete. Er hat doch genügend erfahren, daß das Arbeitniederlegen ihm keinen Nutzen bringt. Warum streikt er denn immer wieder?«

»Er muß. Sieber hat sonne Kräfte. Wer den Strike bricht, den mischen se wat uf. Wat jlooben Sie, wat Sieber sich dafor kooft, Eenen lebenslänglich zu'n Krippel zu verhauen? Un davor bedankt sich mein Mann, da strikt er lieber.«

»Das ist ja Tyrannei,« rief ich.

Die harten Züge der Frau überflog ein Lächeln hämischer Verachtung. »Die Buschoa's sinn de Tyrannen« entgegnete sie. »Die mästen sich vom Schweiß der Proletarier. Aber der Kampf ums Dasein jeht machtvoll vorwärts, und et siegt unser Panier.« – Immer lauter wurde ihre Stimme, immer harscher, und ihre Augen begannen stechend zu leuchten. »Uf unsere Seite is de Wissenschaft, uns jehört de Zukunft. Nieder mit die Pfaffen, nieder mit die Kirchen, nieder mit'n Staat, nieder mit de Hauswirthe. Das Individuum muß ufhören. Wir wollen ooch mal rejieren, denn haben wir so ville Jeld, dett wir't nich ausjeben können. So muß et kommen.«

Ich schwieg. Was sollte ich darauf antworten? Die Redensarten, die sie vorbrachte, waren mir nicht neu, ich kannte sie aus den Berichten unserer Zeitung über Versammlungen. Die Frau hatte sie behalten wie ein Löschblatt auch nur die Tinte von den dicksten Strichen. Es waren lauter Kleckse ohne Sinn drin.

Der kleine Ferdinand sah mit den hellen blauen Augen zu seiner Mutter auf, als verstände er, was sie predigte. Jetzt verstand er es noch nicht, aber er wird es ihr nachlallen als ein Gebet des Hasses, nicht wie das Gebet der Liebe, das ich noch weiß von meiner Mutter her. – Arm Kindlein!

Die Frau eines Besseren überzeugen konnte ich nicht, der Umsturz saß bei ihr schon zu fest, und da sie sich in Hitze geredet hatte, sah ich nicht die Erforderlichkeit ein, sie durch Gegenbeweise noch mehr anzuschüren. Wer Petroleum in den Herd gießt, explodiert selber mit. Um sie von den Krawallreden abzubringen fragte ich: »Wo ist denn dem Kleinen sein Wägelchen, daß er damit spielt? Für Politik hat er wohl noch nicht den nöthigen Grips.«

»Den Wagen?« stotterte sie und ward verlegen. »Den Wagen hat er nich mehr.«

»Schon kaput? Da müssen wir wohl für einen fester gebauten sorgen?«

»Nee, nich,« rief die Frau rasch. »Sieber leid't nich. Sieber nimmt'n un knallt'n anzwee mit'n Fuß. Een Tritt un Jrus war er.«

»Das dulden Sie?«

»Wir nehmen nischt von die Burschoa's, wir ham'n keene Almosen nich neethig. Wenn't Kind jroß is, holt et sich sein Recht, denn holt et sich sein Eigenthum, wat de Burschoa's ihn jestohlen haben, denn hat et Allens, was et nur jiebt. Die Jeschenke von die Burschoas, dett selbst aus Angst man nischt nich jeschieht, die weisen wir zurück, wir wollen det Janze.«

Ich war empört, und länger hielt ich nicht an mich. Der mußte ich in einer verständlichen Tonart kommen.

»Wat Sie da reden ist Kaff,« sagte ich und stand auf. »Das Kund hat seine Freude an dem Wägelchen, das ich ihm schenke aus lauter Gutherzigkeit, weil es nischt zu spielen hatte, als das eiserne Thor und Sie sagen, ich hätt's aus Furcht gethan? Nee Frau, da kennen Sie die Buchholzen schlecht. Aus Mitleid war's mit dem Würmeken, das nischt auf sich und nischt in sich hatte, wo alle Leute dem Kleinen Platz machten, daß sie sein bißchen Vergnügen nicht störten. Und unter all den Leuten ist Einer in Berlin, der nimmt dem Kinde seine Lust und tritt sie entzwei, und Sie leiden das! Sie, die Mutter! Hat's Kind denn nicht geweint? Sagen Sie, hat es? – Sehen Sie, Sie schweigen. – Wenns groß wird, sagen Sie. Ja, wer verbürgt Ihnen, daß es groß wird, da Sie es darben lassen, es nichts anzuziehen hat, auf der Erde schlafen muß und ihm sein kleines Spielzeug in Rüdigkeit zertreten wird? Wenn es dann vor Gottes Thron klagt: »Ich hatte auf Erden keine Freude, meine Mutter ließ sie mir nehmen,« wie wollen Sie sich da verantworten? Und wächst es heran, haben Sie es zum wilden Thier erzogen, wer weiß, ob sein Dank dafür nicht ein Fluch ist?«

Sie hörte nicht mehr. Sei war zu Boden gestürzt und hatte das Kund unter sich gezogen, es mit dem eigenen Leibe zu schützen und blickte angstlauernd um sich, als drohte wo ein Unsichtbares, es zu ergreifen.

»Und wenn er stirbt,« rief sie heiser, »denn kenn ick mir nich mehr. Denn sollen die et büßen die Schuld an Noth und Armuth sinn, die sollen't büßen, die sollen't büßen!«

Der Kleine schrie, das Ungestüm der Mutter hatte ihn erschreckt. Sie umschlang ihn und beruhigte ihn mit Schmeichelworten und sanftem Kosen. »Du verklagst mir nich,« flüsterte sie, »Du nich, mein Nante, mein Nante, mein Nante!«

Plötzlich richtete sie den Kopf horchend auf.

»Die Tischler machen Schicht,« sagte sie, »der Dampf jeht nich mehr. Wenn Se nu zu Hause jingen, wär't besser, als wenn Sieber Se hier treffen dhäte. Ihnen bin ick nich beese, Sie sind'n ooch jut, den Fernand. Ick wer't Zeig verstechen vor Sieberten.«

»Kündigen Sie'n doch!«

»Et jeht nich, um de Miethe.«

»Wozu haben Sie denn Ihren Mann?«

»Der wird nich zum Verräther an de Sache. Der is in de Destille un macht Strike.«

»Es thut mir leid, liebe Frau, daß ich Ihnen so gar nicht helfen kann,« sagte ich. »Für den Kleinen hätte ich gern gesorgt. Aber Sie wollen ja nicht.«

»Wir helfen uns schonst selber. Alle für Eenen, Eener für Alle. Unsere Stunde schlägt.«

»Adje, Nante.«

Er gab mir die Hand, als ich ihm die meine bot, und sah mich fragend mit den blauen Augen an, in die ich forschend blickte, ob ich wohl auf den Grund seiner Seele sehen könnte. Dann lächelte er, als ich ihm wehmüthig zulächelte. Wer weiß, ob ich diese Augen je wieder sehe, und wenn – was dann aus ihnen spricht?

Oben, dicht vor der Treppe, sagte die Frau leise: »Bemühen Madame sich hier nich widder ruff. Et war sehr ehrenwerth, un Nante wird Sie't jedenken, aber Se sinn nu doch mal 'ne Buschoa.«

»Ich werde Sie nicht wieder in die Verlegenheit bringen,« sagte ich kurz und stieg abwärts in das feuchtmuffige Düster der Treppe hinein; mir war, als hätten die Stufen mittlerweile Zuwachs gekriegt, so sehnte ich mich hinaus.

In dem Thorweg begegnete ich einem jungen Menschen, dem die spielenden Kinder aus dem Wege wichen. Er sah mich an; ich fürchtete mich vor ihm. Die Ballonmütze, das rothe Halstuch ohne Wäsche, waren nicht das Schreckhafte, auch nicht die fein gefetteten Haare, die flach an den Schläfen lagen, aber die dünnen Lippen, die vortretenden Backenknochen und die grauen Augen unter der bösgefalteten Stirn, die waren schlimm. Er war noch jung, noch bartlos, aber schon der Welt so gram. Das begriff ich: so Einer läßt nicht mit sich reden, der haut und sticht.

Als ich Athem schöpfend auf dem Bürgersteig stand und mir die freie Straße mit Menschen, mit Wagen und Pferdebahn, wie überirdisches Gefilde vorkam, machte sich die kleine Führerin an mich heran und sagte vertraulich: »Det war die Nauen ihr Arganist.«

»Das ist er,« entgegnete ich ohne weiteres Nachdenken. Allerdings wußte ich, daß er es war, nur wußte ich es unbewußt.

Ich gab dem Mädchen einen Nickel. »Kauf Dir was dafür, mein Kind.«

»Den jeb' ick meine Mutter,« rief sie fröhlich. »Se sagt immer, jeder Jroschen hilft zu de Miethe.«

Und nun drangen alle die Arbeiter aus der Tischlerei, und ich mußte nach der richtigen Pferdebahn sehen.

 


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