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VI.

Mit dem andern Morgen war aber ein schöner Tag angebrochen und dieser war ein Tag des Herrn. Die Rosi kam spät herunter, ging nicht in die Kirche und sah sehr verkümmert aus und sehr verweint. Dieses fiel selbst ihrem Vater auf, der sonst ihr Aussehen nicht so ängstlich studierte.

Da aber der alte Thomas Hechenplaickner, ein guter Sechziger an Jahren, in unserer Geschichte nunmehr eine täglich wachsende Bedeutung entfalten wird, so ist es jetzt wohl an der Zeit, auch über ihn hier einige Worte niederzulegen.

Der liebe Gott oder die gütige Natur hatten dem Wirte von der Sewi zu ansehnlicher Größe zwar ein mächtiges Haupt, breite Schultern und breiten Brustkasten verliehen, aber nach unten hin ging er immer schmäler zu, so daß er der Gestalt nach mehr einem alten, jedoch rüstigen Helden glich, als jenen tonnenförmigen Samaritanern mit ihrem grünen Samtbarett, welche man zu damaliger Zeit als die ständigen Wahrzeichen bajuvarischer Wirtshäuser betrachten konnte.

Die Maler, welche damals die stille Sewi mit gastlichem Besuche beehrten, verglichen daher ihren Wirt sehr gerne mit einem Hünen oder Recken aus dem Lied der Nibelungen. Wäre der Ausdruck seines Gesichtes nicht so bieder und so friedfertig gewesen, so hätten sie in ihm mit Vorliebe eine zweite, allerdings sehr verspätete Auflage oder Inkarnation des grimmigen Hagen gesehen, allein eben wegen seines gutmütigen Wesens erschien er gleichwohl dem edlen Rüdeger ähnlicher, dem Markgrafen von Bechelaren, dessen vortrefflicher Charakter und trauriges Ende uns ja neuerlich wieder Felix Dahn in seinem Trauerspiele gleichen Namens so großartig geschildert hat. (Als die Maler einmal so weit gegangen, lag es ihnen nicht mehr ferne, in der Frau Anastasia Hechenplaickner Rüdegers Gattin, Frau Gotelind, und in der schönen Rosi gar deren Tochter, die schöne Dietlind, wiederzufinden. Letzterer Vergleich mag sogar sehr treffend gewesen sein, nur daß die schöne Dietlind zuletzt sehr unglücklich, die schöne Rosi aber sehr glücklich geworden ist.)

Über des Wirtes Lebensgang ist wenig bekannt. In seiner Jugend mag er viel gekegelt, etwas gerauft und etwas gewildert, aber Schillers »Räuber« oder Goethes »Tasso« schwerlich gelesen haben. Tatsache ist, daß er sich sehr früh einem beschaulichen Leben ergab. An der Sewi, d. h. an seiner Wirtschaft hatte er auch nichts zu treiben – die ging von selbst. Die einsame, aber deswegen so günstige Lage des Hauses, das den Fuhrmann und den Wanderer nicht vorbei ließ, ohne ihn etwas aufzuhalten und zu erquicken, die sehr ehrenwerten Traditionen, die über Küche und Keller walteten und gewissenhaft bewahrt wurden, die guten Erträgnisse, welche Viehzucht und Ackerbau boten, in früheren Jahren das freundliche Gesicht seiner Frau und in späteren die mächtige Anziehung der jungen Rosi, dies alles half zusammen, um seinem Geschäfte einen Schwung zu verleihen, der ihn weit über irdische Sorgen hinaushob. Nicht daß er sich deshalb der überirdischen Sphäre mit besonderem Drange zugewendet und in ihrem Bereiche neue Fragen entdeckt und aufgestellt hätte, denn sein Instinkt ließ ihn fühlen, daß schon genug rätselhafte Probleme auf die Menschheit drücken und daß es nicht an ihm sei, sie noch zu vermehren. Er philosophierte wenig, aber, was auch andern zu empfehlen wäre, immer verständig. Ein gesunder Realismus ging durch alle Worte, die er während seines reifern Lebens sprach, nur daß man deren mit den Jahren immer weniger und weniger zählte. Wenn er über seine wachsende Schweigsamkeit beredet wurde, berief er sich gerne auf die Heilige Schrift, laut deren wir ja von jedem unnützen Worte jenseits Rechenschaft zu geben haben, ein Satz, den in unsern parlamentarischen Zeiten auch sehr fromme Christen fast zu oft vergessen. Nur gut, daß sich jener Spruch, wie man annimmt, nicht auf gedruckte Worte bezieht, denn sonst würde die Lage unserer gelesensten Schriftsteller jenseits wahrhaft schauerlich werden.

Obgleich der Wirt von der Sewi bald des Vieh- und Getreidehandels wegen die benachbarten Märkte, bald der Oberaufsicht halber seine Almen im Kaisergebirge oder hinten am Jochberg besuchte und obgleich er alle Jahre einmal am Tage der Kreuzerhöhung (14. September) zur heiligen Notburga auf Eben wallfahrten ging, weil nach seiner Meinung sie es war, die sein Haus, seine Kinder, und seine Rinder immerdar vor Unglück schützte, so hatte er doch den Trieb, die große Welt zu sehen nie empfunden und deshalb seinen Wanderstab über Innsbruck, Rosenheim, Kitzbühel und den Jochberg auch nie hinaus getragen.

Da es nun damals in den Landwirtshäusern von Tirol noch weniger Landkarten gab als jetzt und die Zeit für die allgemeine Erdkunde dort überhaupt noch nicht gekommen war, so mag unser Wirt in seinem geographischen Wissen gegen unsern Heinrich Kiepert, der soeben wieder ein vortreffliches »Lehrbuch der alten Geographie« ans Licht gestellt, nur ein Pygmäe, vielleicht nicht einmal so viel gewesen sein. Auch in den übrigen Wissenschaften war er schwerlich weiter gekommen, aber als er später die Rosi so eifrig über den Büchern sah, da fragte er doch einmal, ob es denn für ihn nicht auch etwas zu lesen gebe, worauf ihm der Schulmeister von Niederndorf die Geschichten vom Verfasser der »Ostereier« brachte, mit deren Lektüre er manche müßige Stunde genußreich ausfüllte. Nach diesen Vorstudien gewann ihn der Lehrer sogar sehr leicht für den Plan, sich mit ihm und dem Vikar von Ebbs die neueste Lieferung von J. J. Stafflers »Tirol und Vorarlberg« auf gemeinschaftliche Kosten kommen zu lassen. Als das Heft, welches gerade das Landgericht Kufstein enthielt, im Turnus endlich an ihn gelangt war, fand er auf Seite 855 auch die Sewi aufgeführt, was ihn sehr angenehm überraschte, denn er hätte nie geglaubt, daß dieser noch eine solche Ehre aufgehoben sei. Nachdem er aber die allerdings kurze Erwähnung seiner Heimat in sich aufgenommen, ging er auch auf andere, auf geschichtliche Notizen über, schlürfte sie lüstern ein, eignete sich manche derselben an und fand sich danach wissenschaftlich so gefestet, daß er mit ihnen am nämlichen Abend sogar die Maler unterhielt und zu unterrichten suchte, was diese für ein »Ereignis« erklärten.

Im ganzen war der alte Hechenplaickner zu seiner Zeit ein braver und ehrengeachteter Mann, ohne gewinnende Feinheit, aber auch wenn er nicht gereizt worden, ohne verletzende Derbheit, fast immer gesetzt und ruhig, aber wenn er für irgendeine Sache, namentlich in der Gemeinde auftrat, ein Kämpe von großem Gewicht – ein ernster, aber guter Vater seiner Kinder und ein sehr erträglicher Gatte seiner Frau, welche durch ihre freundliche Gesprächigkeit sein wortkarges Wesen trefflich ergänzte.

Der alle Hechenplaickner also fragte an jenem Sonntag, da er seine Tochter so niedergeschlagen sah, die Mutter um Bescheid, und diese gab gerne zu, daß das Mädchen schon längere Zeit und heute besonders so traurig sei, aber was sie bekümmere, wisse sie auch nicht.

»So viel dauern tut mich das Mädel,« sagte der ernste Vater; »möcht' ihr so gern helfen. Aber heut spielen sie zum erstenmal wieder die Passion in Erl – das Leiden Christi; das ist recht unterhaltlich; vielleicht daß sie das ein wenig aufheitert.«

»Ist schon möglich,« sagte die Wirtin, obgleich sie innerlich daran zweifelte.

»Ja, ja, die Passion,« fuhr jener fort, »das ist etwas Schönes für junge Leut' und für alte. Das gefallt ihr gewiß. Ich hab' sie jetzt schon lang' nicht mehr gesehen, die Passion, und sie noch gar nie. Wird sie recht freuen. Sag's ihr nur gleich!«

Die Mutter ging zu der Tochter, die damals einsam in dem Garten saß, und brachte ihr die Kunde.

»O nein, Mutter,« sagte da die Rosi; »ich kann nicht gehen. Ich geh' jetzt nicht unter die Leut'.«

»O geh! er meint's so gut – verdirb ihm doch die Freud' nicht. Ich möcht' es ihm nicht sagen. Wenn du nicht gehen willst, so sag's ihm lieber selber.«

Die Rosi besann sich einen Augenblick, hatte sich aber bald entschlossen und sagte nachgiebig:

»Ach, ich mag ihm auch nicht weh tun! so geh' ich halt zum bittern Leiden Jesu Christi. Ich werd' ja selbst ans Kreuz geschlagen.«

Beim Mittagessen wurde die Fahrt noch näher besprochen und erörtert, wobei man übereinkam, daß die Mutter und die Marie, die älteste Tochter nach der Rosi, der Wirtschaft halber zu Hause bleiben sollten. Nachdem die Familientafel aufgehoben war, legten alle, die zur Fahrt bestimmt waren, ihr feiertägliches Gewand an, und gegen drei Uhr bestiegen sie des Wirtes zweispännigen Wagen, der sehr gut gehalten war. Auf der einen Seite saßen der breite, hochansehnliche Vater und die schöne Rosi, auf der andern zwei jüngere Töchter, die Petronella von sechzehn und die Apollonia von vierzehn Jahren, hübsche Kinder alle beide. Auf dem Bocke waltete als Wagenlenker der neunzehnjährige Lorenz, ein stattlicher, gewandter Bursche.

Sie fuhren in raschem Trabe an den grünen Höhen, wo der lange schöne Buchenwald steht, dahin und kamen durch das anmutige Niederndorf, an dem Zollhaus und dem löblichen Gasthof zum Mühlgraben vorbei, worauf sie bald die Erler Flur erreichten und am Griese, wo das Schauspielhaus steht, wohlbehalten abstiegen.

Die trübselige Rosi hatte sich, nachdem sie ihrem Vater einmal zugesagt, immerhin, soviel es ging, zusammengenommen. – Aber der schöne Tag, der heute leuchtete, und der schöne Putz, den ihr die Mutter angelegt, die freundlichen Gesichter und die freundlichen Grüße, die ihr allenthalben entgegenkamen, sie taten doch auch das ihrige und hatten die schmerzenreiche Dulderin bald soweit aufgeheitert, daß sie mit ihrem Vater und den Schwestern hin und wieder ein harmloses Wort zu wechseln vermochte. Nichtsdestoweniger lag der Duft eines tiefen Leids gar sichtlich über ihren feinen Zügen. Diese Melancholie verlieh dem Mädchen zu allen übrigen noch den Reiz und den Zauber des Geheimnisvollen, denn niemand mochte erraten, was die Rose der Sewi so traurig stimmen konnte.

 

Um dieselbe Zeit war auch zu Langkampfen bekannt geworden, daß am Sonntag, am einundzwanzigsten Juli, zu Erl, in dem Dorfe, die Passion oder das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi gespielt werden solle, und schon hatten einige würdige Männer den Entschluß gefaßt, sich am andern Tag dorthin zu begeben, um das hohe Schauspiel zu betrachten.

Als der Florian damals von Kufstein heimgekommen war und beim Abendtrunk von diesem Vorhaben hörte, erklärte er sich gerne bereit, an der Ausfahrt teilzunehmen, denn auch er hatte vorher noch nie eine Passion gesehen. Es wurde ferner verabredet, daß er als Wirt wie gewöhnlich das Gefährte stellen solle, was er auch ohne Widerspruch übernahm. Er fügte nur noch bei, daß er wahrscheinlich in Nußdorf oder Flinsbach über Nacht bleiben werde, da er am Montag in Rosenheim zu tun und mit dem Posthalter Seraphin Greiderer etwas Wichtiges zu besprechen habe. Sollten sie sich also im »Gspiel« verlieren und sich nicht wieder finden und er nach dem Ende nicht ins Erler Wirtshaus kommen, so dürften sie allein und ohne weiter nach ihm zu fragen, wieder nach Hause fahren. Er sei dann schon in Bayern draußen und würde sich jedenfalls fortzuhelfen wissen.

Dieses einfache Programm teilte der Florian alsbald auch der Mutter mit, welche nicht die mindeste Einwendung erhob. Vielmehr schien sie darin einen besonderen Reiz zu finden und sprach mit schalkhaften Worten:

»Nun, das ist recht, daß du auch einmal das bittere Leiden Christi anschaust. Vielleicht schaust auch gleich die berühmte Rosi an – die wäre schon etwas süßer!«

»Ja, sehen möcht' ich sie gern einmal, die schöne Rosi, wenn's der Zufall gäbe.«

»Ist leicht möglich, daß sie kommt. Tragen dich so alleweil umeinand' mit ihr. Kannst dich gleich fangen lassen auch!«

Die letzten Worte begleitete sie mit schelmischem Lächeln, als wenn sie ihren Florian schon wirklich im Liebeskäfig gefangen sähe und eine gewisse Schadenfreude darüber nicht unterdrücken könnte.

»Nein, fangen lass ich mich nicht!« entgegnete aber der Sohn und lachte heiter über seine Mutter. »Wie ich fortgeh', komm' ich wieder heim!«

»Nun, das wollen wir sehen,« sagte diese, ebenso heiter. »Bei einem Mädel kommt gar viel darauf an, wie es aussieht.«

Die biedern Männer von Langkampfen fuhren also am andern Mittag ab, versuchten in der blauen Traube zu Kufstein den Weißen, im gastlichen Mühlgraben den Roten und trafen so gerade noch recht, nämlich ganz kurze Zeit vor Anfang des Spiels, in Erl ein.

Sie kamen bald auseinander, denn jeder hatte da oder dort »im Hause« einen guten Bekannten oder alten Freund erschaut, mit dem er heute zusammen zu sein wünschte, weil er ihn so lange nicht mehr gesehen. So war der Florian bald allein.


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