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Erwin hatte wieder einen Blick nach dem Schloß zurückgetan und abermals im Geiste durch Mauern hindurch in das Krankenzimmer der jungen Prinzessin geblickt – eine tröstliche Hoffnung, daß sie jetzt schlummere, zog durch seine Seele. Er kehrte in den Schatten des großen Baumganges zurück, um noch einmal in Ruhe alle Möglichkeiten zu überdenken, und fühlte sich nicht angenehm berührt, als er wahrnahm, daß er in der Allee nicht mehr einsam wie bisher sei. Erst wähnte er, daß Heiding vom Schlosse herabkomme, um ihn zu suchen, dann, als er die heranschreitende Gestalt zu unterscheiden vermochte, erkannte er den alten Kammerdiener, den er im Vorzimmer der Prinzessin von Grumbach gestern abend wie heute morgen gesehen hatte. Er wäre ihm wie jedem Menschen am liebsten ausgewichen und mochte sich doch die nutzlose Frage nach dem augenblicklichen Befinden der Prinzessin nicht versagen. Als er vollends entdeckte, daß jede Falte im Gesicht Jakob Frankes schwere Bekümmernis ausdrückte, ging er dem pensionierten Kammerdiener entgegen und redete ihn an, sobald jener seinen hohen Hut zur Begrüßung lüftete.

»Nichts Neues, Besorgliches drinnen – Herr Franke?«

Der Alte sah den jungen Arzt ernsthaft an, seine scharfen grauen Augen hefteten sich fest auf Buchhoffs bewegte leidvolle Mienen, dann entgegnete er leise: »Besorgliches? was kann's für Sie noch Besorglicheres geben, Herr Doktor – nachdem Sie uns das gesagt!«

»Eure junge Durchlaucht macht Professor Heiding und mir das Herz schwer!« rief Erwin. »Wahrhaftig, ich habe mich nie gerühmt, doch meinen Kopf hätte ich zum Pfande setzen wollen, daß unsere Operation Prinzeß Hildegard Gesundheit und Leben zurückgab. Sie sollte sich selbst lieber haben!«

»Das ist's! 's hat sie niemand – verstehen Sie, niemand Rechtes – je lieb gehabt – und so liegt ihr wenig an ihr selbst!« erwiderte der Alte. »Und sie ist das weichste frommste Herz. Aber eine so junge Person kann doch nicht zeitlebens mit der Anhänglichkeit von uns paar Alten aus ihres Vaters Zeiten her wirtschaften! Sie fühlt sich verlassen und nimmt ihre schwere Krankheit für eine Schickung des Himmels.«

Erwin schlug sich mit der Hand vor die Stirn: »Aber das ist ja rein zum Verzweifeln mit euch allen – was weiß eure kranke Prinzessin – was wißt ihr alle, was ihr das Leben noch bringen könnte! Helft sie überreden, daß sie sich fürs Leben erhalten läßt – mit so viel Jugend und Schönheit und Güte, wie Sie sagen, wird es ihr am Ende nicht fehlen! Bringen Sie die Prinzessin nur dazu, daß sie hört und tut, was nun einmal unvermeidlich ist!«

Jakob Franke sah, daß in den Augen des jungen Mannes wiederum Tränen standen, und hörte aus den leidenschaftlichen Worten einen Ton heraus, der ihm zu Herzen ging. Aber er machte eine abwehrende Bewegung und Miene.

»Unsere arme Prinzeß denkt doch, daß sie das Rechte wählt. Und Sie, Herr Doktor, sind jung, können nicht wissen, was hier alles vorgegangen ist und was in der Luft hängt, hätten viel früher kommen müssen – früher auch als der Herr Professor, dann wäre vielleicht manches gut gegangen, was heute bös läuft.«

Der junge Arzt verstand nur halb, was der ehemalige Kammerdiener erwiderte; abermals traf er auf den Wahn, der hier alle ergriffen und von dem er auch seinen geliebten Paten und Lehrer befangen gesehen hatte. Im Gesicht des Alten aber las Doktor Erwin etwas, das wie ein Hoffnungslicht zu ihm hinüberblinke, und als Jakob Franke bedächtig hinzusetzte: »Ich meine, Herr Doktor, wenn unser armes Prinzeßchen zuerst Sie gesehen und gehört hätte – und –« da fiel er ihm ungestüm ins Wort:

»Macht, daß sie mich noch hört, Herr Franke. Mich allein hört – vielleicht – nein, gewiß! gewiß! retten wir das junge blühende Leben doch noch!« »Sie allein?« fragte der Kammerdiener gedehnt zurück. »Wahr ist's: Morgenstunde hat Gold im Munde, und das mag wohl auch anderweit gelten. Aber, Herr Doktor, wenn Durchlaucht selbst einwilligt, Sie noch einmal zu sehen und zu hören, und Ihnen dann doch den gleichen Bescheid wie vorhin gibt – so tragen Sie ein Leid mehr mit von hier hinweg – und mich dünkt, Sie haben schon genug, junger Herr?«

Erwin Buchhoff und sein Begleiter standen eben an einer Kreuzung der Allee, und indem volles Licht auf sie fiel, mußte der alte Mann wohl wahrnehmen, wie bleich und angegriffen der Arzt aussah. Doktor Erwin aber faßte die Hand des Hilfswilligen und sagte eindringlicher:

»Gleichviel – ich fühle, daß ich es muß! Tun Sie das Ihre, daß Durchlaucht mich empfängt.«

»Sachte – sachte,« flüsterte Jakob Franke. »Jetzt schläft das Prinzeßchen, und in einer kleinen Weile« – er zog dabei die prachtvolle goldene Uhr, ein Vermächtnis des alten Landgrafen – »ist's halb zwölf Uhr und Zeit zum Dejeuner. Gehen Sie hinein, damit Sie nicht gesucht werden. Zwischen Dejeuner und Diner wäre die rechte Zeit – um zwei Uhr bin ich wieder bei der Kranken, da ist sie in der Regel wach und da kann ich mein Wort anbringen. Halten Sie sich in Ihrem Zimmer, wenn's gelingt, werde ich Sie rufen und holen, Herr Doktor. Aber machen Sie sich nicht zu viele Hoffnung – wenn noch Wunder geschähen, hätte es um Prinzeß Hildegard längst eins gegeben.«

Er hatte die letzten Worte warnend und lauter gesprochen, als er sah, wie Doktor Erwins Gesicht jäh erglühte; Erwin verstand selbst nicht mehr, was in seiner Seele geschah, er mußte dem Alten ja recht geben, und doch war's ihm, als ginge ihn die Mahnung nichts an, und mit der bereitwillig dargebotenen Hand Jakob Frankes sei nicht nur Hoffnung, sondern lichte Gewißheit in ihn übergeströmt. Er sah dem alten Manne, der durch die Rüsternallee dem Ausgang des Parkes und seinem kleinen Hause zuwandelte, mit gerührtem Blick nach: warum hatte er vorhin bei seinem Sehnen nach rettenden Auswegen nicht einmal an diesen Helfer gedacht?

In gehobenerer Stimmung, äußerlich besser gefaßt als vorhin, kehrte Doktor Erwin in das Schloß zurück. Seiner neuen Hoffnung war ein Stück verschlossenen Trotzes beigemischt – er setzte sich vor, sein Heil allein zu versuchen und seinem Meister nicht eher ein Wort zu gönnen, als bis er Gewißheit habe. Er traf, noch ehe er sein Zimmer erreichte, den Diener, der ihn zum Frühstück rufen sollte, und erteilte kurzen Bescheid, daß er zur angegebenen Stunde sich einfinden werde. Wenige Minuten später pochte Heiding an seine Tür; Erwin gewann es über sich, ihm eine ruhige Miene zu zeigen und seine besorgten Fragen mit halb gleichgültigen Worten zu erwidern. Er merkte wohl, daß der Professor die plötzliche Wandlung seines Schülers mit Kopfschütteln wahrnahm – auch fiel es ihm schwer, dem Paten und Lehrer etwas zu verschweigen, aber der Gedanke, daß er allein glücklicher sein könne als mit Heiding zusammen, wich nicht aus seiner Seele und stählte ihm die trotzige Verschlossenheit.

Wählend der nächsten Stunden erfuhr Erwin, daß es Kraft fordere, mit einer brennenden Erwartung, einem entscheidenden Vorsatz in Hirn und Herzen, völlige Selbstbeherrschung und ruhige Teilnahme an anderen Dingen zu zeigen. Von der heimlichen Sorge, wie er wohl, wenn Jakob Frankes Vermittlung glückte – sie mußte ja glücken, er konnte das Gegenteil schon nicht mehr denken! – allein nach dem Krankenzimmer gelangen werde, befreite ihn bei Tafel der Landgraf selbst. Er lud beide Ärzte zu einer Ausfahrt nach einer nahegelegenen Waldhöhe ein. Professor Heiding, der erklärte, daß er Prinzeß Hildegard vorhin besucht habe und sie gegen abend wieder besuchen wolle, nahm die Einladung seines erlauchten Wirtes sogleich an – Erwin aber schützte Übermüdung und Abspannung vor und bat, in seinem Zimmer bleiben zu dürfen. Der Professor, der ihm zur Seite saß, blickte ihn aufmerksam an, das Aussehen des jungen Freundes strafte seine Worte nicht Lügen.

Erwins Herz schlug hörbar, als eine halbe Stünde später der Wagen an der Freitreppe von Schloß Bergfeld hielt und Landgraf Heinrich, Professor Heiding und ein belgischer Oberstleutnant, der seinen Besuch gemacht hatte und zum Frühstück geblieben war, davonfuhren. Er kehrte in sein Zimmer zurück, in dem er Jakob Frankes, er wußte nicht wie lange, zu harren hatte. Er versuchte in einem Buche, das er auf dem Tische fand, zu lesen – gab es jedoch alsbald als unmöglich auf. Jetzt, wo ihn schon sein Alleinsein ein Unterpfand des Gelingens dünkte und er mit Bangen jede Viertelstunde zählte, die verstrich, ohne daß der alte Kammerdiener erschien, durfte er nichts bedenken, als was er der kranken Prinzessin sagen könne und müsse.

Nie zuvor hatte er empfunden, wieviel stumme Qual sich in eine Stunde zusammendrängen könne.

Als endlich – es war drei Uhr nachmittags vorüber – Jakob Franke leisen Schrittes über die Schwelle trat, war das erste, was Erwin wahrnahm, der finstere sorgenvolle Ausdruck in dem Gesicht des alten Herrn. »Prinzeß Hildegard will mich nicht sehen, nicht hören?« rief er ihm tonlos entgegen, indem er vom Sitz am Fenster emporschnellte.

»Doch, Herr Doktor, doch!« antwortete der Kammerdiener. »Aber ich weiß nicht, ob ich recht getan habe, ihr so zuzusprechen! Denn mir ist's, als würden Sie nichts erreichen – und dem armen Kinde, die überwunden hatte, neue Unruhe, neues Leid bereiten. Sie hat zuletzt wahrhaftig mehr aus Mitleid mit Ihnen als mit sich selbst eingewilligt.«

»Lassen Sie uns keine Zeit verlieren!« sagte Erwin sich bezwingend. »Ich denke nicht, daß sie mich wiederum hinwegweisen wird, wie diesen Morgen – und wenn – so nehme ich's doch mit mir, daß ich's noch einmal, daß ich mehr versucht habe, als ich sollte!«

»So kommen Sie mit Gott!« versetzte Jakob Franke. »Das Hoffen für unsere arme kleine Durchlaucht habe ich verlernt – aber ein junger Narr macht alte, heißt's bei uns in der Ruhl!«


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