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Das Trinkgeld, das ihm Doktor Erwin darbot, hatte der lange Kutscher mit einer entschiedenen Kopf- und Handbewegung verschmäht. »Tun Sie Ihr Bestes, Herr Doktor! und gute Nacht, Herr!« rief er nach oben, als der junge Mann schon von braun und silbernen Livreen umgeben war, Doktor Erwin hatte im Emporsteigen nichts weiter vom Schloß wahrgenommen als einen kräftig vorspringenden, hohen Mittelbau und zurückliegende Flügel mit zahlreichen lichthellen Fenstern, – Der Portier begrüßte ihn mit Namen und Titel und fragte, ob der Herr Doktor zuerst seine Zimmer sehen oder sogleich Herrn Professor Heiding aufsuchen wolle, der ihn in der Bibliothek erwarte. »Lassen Sie mein Gepäck in das Zimmer bringen, das Sie mir bestimmt haben, und führen Sie mich sofort zum Professor, vielleicht ist's dringend!«

Er war ins Haus, in die mit bunten Steinfliesen ausgelegte Vorhalle getreten, ein Diener schritt ihm auf den Wink des Portiers mit dem Leuchter voran. Ein breiter Gang mit zahlreichen Türen, in welchem dicke Teppichstreifen den Schall der Tritte dämpften, mußte zum rechten Schloßflügel führen. Indem der Diener die Hand auf die Klinke einer Tür legte, öffnete sich der Türflügel von innen, und von der Schwelle schaute ein hochgewachsener bärtiger Mann den Kommenden entgegen. Sein Gesicht, auf das der Schein der hochgetragenen Lichter fiel, drückte Freude und Betroffenheit zugleich aus, er streckte dem jungen Arzt beide Hände und Arme entgegen und sagte zugleich: »Guten Abend, Erwin! bist du dennoch gekommen? Hast also mein zweites Telegramm nicht erhalten?«

»Nein – wenn Sie telegraphierten, daß Sie mich nicht oder nicht mehr bedürfen,« entgegnete Erwin Buchhoff, die Rechte des Professors ergreifend. »Ist es – wäre es – schon zu spät?«

»Nein, Erwin – ich wollte nur nach reiferer Überlegung nicht ohne Not deine kurze Erholung unterbrechen. Ich sage dir gleich das Nähere, tritt hier ein, und da du denn da bist, sei tausendmal willkommen!«

Sie hatten noch immer auf der Schwelle und vor der geöffneten Tür gestanden – der Professor Heiding gab dem Diener ein Zeichen, daß er gehen könnte, und zog den jungen Freund in das große Bibliothekzimmer und nach der Ecke mit den Polsterbänken und der mächtigen Bronzelampe auf dem mit Büchern und Heften bedeckten Tisch, an dem er lesend gesessen hatte. Doktor Erwin empfing den Eindruck eines großen, mit hohen geschnitzten Schränken, Büchergestellen, mit Bildern, Büsten und Bronzen erfüllten Raumes, aber blickte nicht um sich, sondern sah nur auf den väterlichen Freund, der ihn jetzt, wo sie allein waren, noch einmal in die Arme schloß. Er sah mit bekümmerter Überraschung, daß der Professor nicht nur gealtert war, seit er ihn in Würzburg zuletzt erblickt hatte, sondern daß auch sein Gesicht einen Zug des Leidens – oder war es Leid? – aufwies, der ihn erschreckte. Heiding ließ ihm weder Zeit zum Nachsinnen noch zum Reden, sondern sagte:

»Es war ein dummer Einfall von mir, dich hierher zu sprengen! Nur weil ich dich gern sehen wollte – und gestern wirklich glaubte, du könntest mir bei einer schwierigen Operation Beistand leisten! Das ist nun nichts – ich habe mich überzeugt, daß wir nichts tun können – daß es grausam wäre, etwas zu tun! Armes – armes Kind! Du aber, Erwin, siehst aus, wie ich dich in allen guten Stunden geträumt habe. Das ist denn eine wahrhafte Freude, auch wenn uns keine andere hier blüht! Und dein Buch ist fertig und wird mir eine größere Genugtuung sein als dir selbst! Wunderlicher Ort, an dem wir uns wiedersehen, nicht wahr, mein Junge?«

Dabei leuchtete der Professor in dem Raume umher und zu dem Deckengemälde hinauf, einer Nachahmung des Parnaß von Raphael Mengs, die noch in frischen bunten Farben prangte, während die gleichalterigen, schwerseidenen Vorhänge der drei großen Fenster und die seidenen Überzüge der Polster sich verschossen zeigten. Er setzte die erhobene Lampe wieder auf den Tisch nieder, daß ihr Licht auf eine kleine zur Seite stehende Marmorbüste fiel, und sagte: »Das ist ein Bild meiner armen Kranken, zu der sie mich gerufen haben!«

»Prinzeß Hildegard?« fragte Erwin zurück und blickte fest auf das kleine Kunstwerk, das den Kopf eines etwa fünfzehnjährigen Mädchens mit reinen, kindlichen Zügen und etwas herb geschlossenen Lippen liebevoll wiedergab.

»Weißt du schon ihren Namen?« fragte Professor Heiding zurück. »Sie ist jetzt wohl ein Lustrum älter und die Krankheit hat das Gesicht nicht unberührt gelassen. Aber das Beste in diesem Gesicht: die liebliche Stille und der vertrauende, offene Blick sind ihr geblieben. Hat man dir unterwegs viel von ihr und ihrer Krankheit erzählt?«

»Von der Krankheit so gut wie nichts!« entgegnete der junge Arzt. »Ich mochte nicht fragen und wollte das Wichtigste von Ihnen zuerst erfahren. Bitte, lieber Pate, setzen Sie sich, denn Sie sehen, um die Wahrheit zu sagen, selbst ein wenig erschöpft aus, und dann machen Sie mir klar, was es hier gibt und warum Sie die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang aufgegeben haben?«

Doktor Erwin hatte den Professor in die Polsterecke zurückgedrückt, die dieser vorhin eingenommen hatte, und sich selbst gegenübergesetzt. Er schien nur Auge und Ohr für den Bericht seines Lehrers und Freundes, während er mit stärkerer Teilnahme und plötzlicher heimlicher Sorge die ihm fremden Furchen in Heidings Gesicht zu deuten suchte. Ihm blieb kein Zweifel – etwas in diesem Gesicht war verändert, er hatte mit dem ersten Blick auf Schlimmeres als die Wirkung der wenigen Jahre geraten, in denen er seinen Paten nicht erblickt hatte. Und auch das war ihm fremd, war vielleicht ein Zeichen verborgenen Leidens, daß der Professor nicht scharf, kurz und kräftig, wie sonst seine Art gewesen, sondern zögernd und sich mehrfach besinnend sprach:

»Es ist eben nichts zu tun, und ich hätte dich nicht rufen sollen, Erwin. Die arme, junge Prinzessin siecht an einem rätselhaften, inneren Übel hin, ihr Arzt hat sie kurzweg auf sogenannte Verzehrung behandelt und der tieferliegenden Ursache ihres Zustandes nicht weiter nachgeforscht. Ich war, sowie ich kam, überzeugt, daß es sich um ein Leiden handle, das auf Leber und Lunge und alle inneren Teile wirkte. Bei näherer Untersuchung glaubte ich zu erkennen, daß die junge Dame am Leberechinokokkus leidet, der hochgefährlich geworden ist. Bei dieser Diagnose dachte ich an eine schleunige Operation, die die Kranke möglicherweise retten könnte. Seitdem sind mir doch Zweifel – sehr erhebliche Zweifel – an der Sache gekommen, die Geschwulst kann leicht eine andere sein, scheint mir eine solche, bei der ein operativer Eingriff nutzlos, eine Grausamkeit wäre! Du wirst, wenn du die Kranke gesehen hast und alles in Betracht ziehst, meiner Meinung sein – oder werden!«

Erwin Buchhoff blieb auf diese Auseinandersetzung einige Minuten stumm – er erkannte seinen Lehrer, dessen Blick und Urteil kühn und immer so sicher waren, kaum wieder. Soweit der junge Mann zurückdenken konnte, erinnerte er sich nicht, daß Erwin Heiding eine Operation für notwendig und möglich erachtet, die Vorbereitung zu derselben getroffen hätte und dann wieder schwankend geworden wäre. Er konnte nicht umhin, auch die unschlüssigen Zweifel des Professors auf einen krankhaften Zustand zurückzuführen – und wahrlich, dieser Gedanke bekümmerte ihn stärker als die Todeskrankheit der Prinzessin von Grumbach. Heiding hatte sich von seinem jungen Freunde weggekehrt, der endlich sagte:

»So wird es wohl das beste sein, ich sehe die kranke Prinzessin selbst und Sie gestatten mir eine Untersuchung. Wir haben in Willovius' Klinik eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle gehabt, lieber Professor, und vielleicht kann ich etwas zur Stütze Ihrer ersten Diagnose beitragen, vielleicht ist die Operation dennoch möglich.«


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