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Indem er in Gedanken seine junge Erfahrung durchlief und sich der kühnsten Wagnisse seiner Wissenschaft zu seiner Kräftigung zu erinnern suchte, mischte sich eine wunderlich Phantastische Stimmung, der Nachklang eines Knabenentzückens in die ernsten Bilder. Wie lange Jahre war es her, daß er das Märchen vom Paten des Todes begierig gelesen hatte, der ein hilfreicher gefeierter Arzt geworden war, weil er helfen durfte, so oft der ernste Pate unsichtbar zu Füßen des Bettes stand. Und als man ihn zu einer schönen, schwer erkrankten Prinzessin berief und der Tod zum Zeichen, daß hier nicht zu helfen sei, warnend zu Häupten der Kranken stand, da war das Herz des Jünglings in Liebe aufgewallt – um der schönen Leidenden zu helfen, hatte er den Tod überlistet und plötzlich das Bett, auf dem die Prinzessin lag, so herumwenden lassen, daß der Tod sich am Fußende fand und besiegt wurde. Wie kam ihm, dem ernst prüfenden, ruhig Blickenden, der Gedanke an diese Kindergeschichte? War er, der Schüler von Heiding und Willovius, ein Märchenarzt, war er in die Prinzessin von Grumbach verliebt? Er mußte mitten in seinen Sorgen, mitten im gespannten Nachdenken über alle Möglichkeiten des ernsten Falles lächeln und strich mit der Hand über die Stirn, um die wirren Traumbilder zu scheuchen. Nein – nein – das gütige klare Gesicht seines Paten und väterlichen Meisters war nicht das drohende Antlitz des Todes – die Zeit der Wundertränke lag in grauer Sagenferne, Heute ließen sich Krankheit und drohende Verhängnisse nur mit scharfem Blick, mit sicherer Hand besiegen – vielleicht siegten sie auch hier!

Erwin Buchhoff blickte noch einmal über den lautlosen Gartenraum nach den halbverhüllten Fenstern hinüber – er faßte den Vorsatz, das Äußerste zu tun, damit er niemals zugleich an seinen Freund und Lehrer und an einen Tod denken müsse, den ärztliche Wissenschaft und Kunst nach seiner heiligsten Überzeugung abwenden konnten.

*

Als Doktor Erwin Buchhoff am nächsten Morgen die Augen aufschlug, belehrte ihn der erste Blick in die dämmernde Helle des Zimmers und auf die Uhr, daß er nach seiner Gewohnheit fest, aber kurze Stunden – ja kürzer als sonst – geschlafen habe. Ob auch ruhig und traumlos wie sonst, hätte er nicht zu sagen gewußt, er spürte bloß, daß alle Vorstellungen, die ihn, bevor er sein Lager suchte, mächtig bewegt hatten, jetzt mit ihm zugleich erwachten. Der junge Mann erhob sich und kleidete sich rasch an. Wieder war es sein erstes, ein Fenster nach dem Garten zu öffnen – er klirrte recht absichtlich damit, in der Hoffnung, daß es der nebenan schlafende Professor hören werde – und durch das Morgengrau, das noch über den geradlinigen Laubwänden und Baumkronen des Gartens lag, nach dem Teile des Schlosses hinüberzublicken, wo er die Gemächer der kranken Prinzessin von Grumbach vermutete. Wahrnehmen konnte er freilich nichts als Reihen von Spiegelscheiben, herabgelassene Rouleaux und Vorhänge – aber seine Phantasie war nur allzu geschäftig, sich Leiden und Leid der jungen Kranken auszumalen. Er versuchte wohl, sich in Heidings Empfindung und Anschauung zu versetzen, fand es aber auch in der klaren Stimmung der Frühe so unmöglich als am Abend zuvor. Aus allem Zwiespalt mit der Auffassung seines Lehrers – aus dem tiefen Mitleid für das junge Leben da drüben, das von den Fittichen des Todes überschattet war – rang sich ein trotziger Entschluß empor: jede Rücksicht beiseite zu setzen, seine Zuversicht auf ihre Rettung frei zu bekennen und auf die Operation zu dringen. Über den Grund so ungewöhnlicher Erregung, so leidenschaftlicher Teilnahme sann der junge Mann nicht nach – jeder, der das erlebte, was ihm ans Herz gegriffen hatte, mußte denken und handeln wie er. Da das Geschick einmal gewollt hatte, daß er mit dem älteren Freunde nicht eines Sinnes war, so sollte der traurige Zwiespalt wenigstens der kranken Prinzessin zugute kommen.

Gestählt von seinem Vorsatz, pochte er eine halbe Stunde später an die Tür des Professors, fand Heiding in der Tat wach und ward, wie in besseren Tagen, mit einem so herzlichen Gutenmorgen empfangen, daß der trotzige Ernst, mit dem er aus seinem Zimmer gegangen war, schon hieran Schiffbruch litt.

»Sei willkommen, Erwin! Ich hoffe, du hast dich von der starken Anstrengung, die ich dir gestern zugemutet, gebührend erholt? Ich habe unser Frühstück hier im Nebenzimmer bestellt, wo wir ruhig und ungestört miteinander sprechen können. Wir haben ein paar Stunden vor uns – der Landgraf hat mir den Wunsch ausdrücken lassen, daß wir uns zur Konsultation gegen acht Uhr im Salon der Prinzessin einfinden möchten. Ich habe natürlich zuerst Jakob Franke zu mir beschieden und gefragt, ob Prinzeß Hildegard uns oder einen von uns schon früher bedarf – doch erfuhr ich, daß sie eine leidliche Nacht gehabt hat und vor kurzem zum zweitenmal eingeschlafen ist. Wir können also Seiner Durchlaucht den Willen tun!«

Erwin fühlte kleinlaut, daß die Zügel, die er so fest ergreifen wollte, doch noch in der Hand seines Paten ruhten. Er konnte zunächst nichts tun, als sich den Anordnungen des Professors fügen und diesem in das Frühstückszimmer folgen; er war entschlossen unnötige Dienerschaft wegzuscheuchen, um ruhig und dennoch eindringlich mit seinem Lehrer sprechen zu können. Aber der Kaffeetisch zeigte sich einladend hergerichtet – kein Diener war in dem kleinen Gemach – es schien, daß der Professor wiederum die geheimen Wünsche seines Schülers erraten habe. Heiding sagte lächelnd: »Ich muß wohl in diesem verwunschenen Schlosse den Wirt spielen!« – schenkte dem jungen Freunde und sich selbst ein und drängte Erwin, sich niederzulassen, da dieser mit großen Schritten den engen Raum durchmaß. Schweigend setzte sich der junge Mann Heiding gegenüber – er war entschlossen, jedes andere Gespräch abzubrechen, um zur Hauptsache zu kommen. Der Professor aber schlürfte schweigsam seine Tasse und hub an:

»Da wir allein sind, Erwin, wollen wir uns über das, was zunächst zu geschehen hat, verständigen. Ich nehme an, daß alles, was ich dir gestern vertraute, dich über die Grenzen unserer Pflicht und unseres ärztlichen Rechtes nachdenken ließ. Auch ich habe mich in deine Empfindung zu versetzen gesucht und sehe ein, daß du dich nicht schlechthin bei meiner trüben Resignation beruhigen kannst. Du hast mich möglicherweise im Verdacht, da ich die Operation für schwer bedenklich und selbst bei glücklichem Gelingen das Leben, das wir der Prinzessin erhalten, für ein zweifelhaftes Geschenk erachte, den Entschluß der armen jungen Dame ungünstig beeinflußt zu haben. Das nehme ich dir nicht übel, mein Junge; ich habe gestern abend zu wenig daran gedacht, daß du seit drei Jahren nicht mehr Tag für Tag an meiner Seite gelebt hast, daß du inzwischen ein Mann geworden bist! Ein ganzer Mann, zu meiner Freude! Ich meine nun, wir besiegen jeden Zwiespalt, ersticken jedes Mißgefühl zwischen uns, daß, wenn wir heute, nach nochmaliger genauester Untersuchung, der Prinzessin ihre Lage klar vorstellen und die Rätlichkeit und die Dringlichkeit einer Operation betonen, du das Wort führst; du wirst selbst fühlen, wie weit du gehen darfst, ohne grausam zu werden, und du wirst dich gleich mir bescheiden, wenn Prinzeß Hildegard unseren Rat dennoch zurückweist.«

Der junge Arzt ward bei diesen milden Worten seines Paten von widerstreitenden Empfindungen bewegt. Heiding erriet seine geheimsten inneren Wünsche und kam ihnen entgegen; er hätte dankbar sein sollen und fühlte gleichwohl ein dunkles Mißtrauen, einen unerklärlichen Schmerz, als der Professor auf die verhängnisvolle Vorstellung zurückkam, daß die Kranke selbst nicht gerettet sein wolle. So entschlüpfte ihm die Frage:

»Was nennen Sie grausam, Herr Professor? Soll ich der Prinzessin verhehlen, daß es um sie geschehen ist, sobald sie die Operation versagt?«

»Ich würde es ihr weder verhehlen noch sagen, sie errät es ohnehin!« entgegnete Heiding. »Laß es bei dem, was ich gesagt – im Augenblick wird dir das rechte Wort nicht fehlen. Und da wir jetzt noch ein paar Stunden vor uns haben – erzähle mir zusammenhängend von deinen Berliner Erlebnissen und Aussichten. Wenn man dich und mich hier nicht bedarf, ist's genug, daß ich zurückbleibe, und ich bin der Meinung, daß du deine unterbrochene Fußreise sofort wieder antrittst. Umgekehrt werden wir auch wenig Zeit für uns behalten und unsere ganze Aufmerksamkeit auf die schwierige Operation lenken müssen – jetzt erzähle also, laß hören, was dir in Aussicht steht – laß sehen, von wo noch ein Hindernis kommen kann. Und in breitem, epischem Stil, mein Junge, wir sind in Würzburg nicht so gehetzt und knapp, wie ihr in der Millionenstadt.«

Ein wahrhaft heiteres und dabei gütiges Lächeln, aus dem Erwin wie in alter Zeit die ganze Seele seines Meisters herausschauen sah, begleitete diese Aufforderung – der Professor hatte nichts gesagt, bei dem ihm sein Schüler an jedem anderen Tage und jeder anderen Stelle nicht unbedingt recht gegeben hätte – und dennoch fiel es dem jungen Arzte schwer wie nie, gerecht und verständig zu sein. Der dunkle Drang, allein einzugreifen, allein helfen zu wollen, den er seit gestern abend verspürte, schwand auch jetzt nicht – Heidings ruhige Fassung dünkte ihm schier unheimlich, und er mußte seine ganze Willenskraft anstrengen, um den Widerwillen zu besiegen, den er vor jedem anderen Gespräch empfand. Er sagte nur noch:

»Wir sollten vielleicht noch ein wenig darüber nachdenken, lieber Meister, wie wir unserer armen Kranken die gewisse Rettung – mich dünkt sie gewiß, ich weiß selbst nicht, woher mir das Vertrauen kommt! – annehmbar und wünschbar machen. Wenn Sie indes meinen, daß wir dem Augenblick sein Recht lassen müssen, so wünsche ich, daß jener bald komme. Mir ist, als vermöchte ich bis dahin gar keinen anderen Gedanken zu fassen.«

»Versuch's doch und wär's auch mir zulieb, mein Junge,« antwortete Heiding, seine Zigarre in Brand setzend. Dem Klang in seiner Stimme, dem Blick, den er über den Tisch sandte, widerstanden auch die innere Erregung und das Mißtrauen Erwins nicht länger. Der junge Arzt holte tief Atem, beinahe klang es wie ein Seufzer, dann hub er an von seinen wissenschaftlichen Erlebnissen, seinen Arbeiten, Hoffnungen und Plänen zu berichten. Es ward ihm selbst freier und wohler zumut, mit der Morgenluft des Sommertags, die ins Zimmer strömte, schien ihn zugleich ein Hauch aus der alten Zeit anzuwehen – es kamen Minuten, Viertelstunden, in denen er vergaß, wo er sei und warum er hier sei. Und selbst wenn er an die arme kranke Prinzessin drüben im andern Schloßflügel dachte, mischte sich der Spannung seiner Seele eine lösende tröstliche Hoffnung hinzu – die Hoffnung, wenigstens im entscheidenden Augenblick den väterlichen Freund und Lehrer, der auch jetzt mit jeder Frage, jedem Ausruf die treueste Teilnahme bewährte, zu sich und dem, was er sann, herüberzuziehen.


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