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Nun war er an diesem Ziele angelangt, und es gewann den Anschein, als ob der sonnige Tag auf dem einsamen Rennsteig, der hinter ihm lag, der letzte beglückende Reisetag bleiben sollte. Immer wieder blickte er auf Professor Heidings inhaltschwere Zeilen und erinnerte sich, wieviel er gerade am heutigen Tage dieses Paten, seines ersten Lehrers und Wohltäters, gedacht habe. Seit Jahren hatte er heute, auf der stundenlangen, traumstillen Wanderung, hoch über grünen Waldwegen und blauen Hügelzügen, wieder einmal seinen Erinnerungen leben dürfen. Arbeitend, forschend, Tag für Tag und ungezählte Nächte hindurch tätig, in seinen wenigen Erholungsstunden im Kreise von Fachgenossen und Freunden weilend, hatte Erwin Buchhoff selten Augenblicke gehabt, in denen er sich selbst gehörte und rückwärts schauen konnte. Heute aber hatte sich aus dem Gedanken, den Rennsteig nur bis zur Schmücke zu verfolgen und dann seinen Paten und väterlichen Freund, den Würzburger Professor Heiding, zu besuchen, der die Sommer auf einem ihm gehörigen waldeinsamen Gute in der Nähe von Suhl verbrachte, ein buntes Gewebe von vergangenen Tagen und weit zurückliegenden Erlebnissen hervorgesponnen. So oft sich Erwin auch emporrichtete und sich sagte, daß es der träumerischen zwecklosen Erinnerungen genug sei, so waren doch die Bilder der alten Tage mit dem Harzduft der Tannen, unter denen er hinging, und mit den flirrenden Sonnenstrahlen, die den letzten Morgentau von Zweigen und Halmen sogen, auf ihn eingedrungen. Ob er wollte oder nicht, mit jedem Gedanken an Heiding verband sich das dankbare Gefühl, daß er dem ausgezeichneten Manne im Grunde alles schulde und nur durch dessen aufopfernde Hilfe allen seinen Lebenszielen näher gekommen sei. Wenn er sich heute darauf gefreut hatte, Heiding viel Neues zu berichten: ein paar schwierige Operationen, die ihm glücklich gelungen waren, die Vollendung einer wissenschaftlichen Arbeit, zu der ihm sein alter Lehrer vorzeiten die erste Anregung gegeben hatte, die gewisse Aussicht auf die außerordentliche Professur nach drei Dozentenjahren – so mußte er eben auch der Vergangenheit bis in die Knabenzeit zurück gedenken. Und so hatte er heute sich selbst, den armen Weingärtnersbuben vom Würzburger Frauenberg, wieder erblickt, der mit scheuer Ehrfurcht zu seinem Taufpaten, dem Professor Erwin Heiding, emporschaute und sich erst nach und nach bewußt ward, daß der Universitätslehrer Wohlgefallen an seinem aufgeweckten Wesen fand. Er hatte den Ton wieder gehört, in dem ihm Heiding eines Tages ankündigte, daß er die Lateinschule besuchen solle, und sein eigenes weithinschallendes Jauchzen bei dieser Freudenkunde war in seiner Seele neu erwacht. Er hatte, während er über den Heidekrautteppich des Rennsteigs hinschritt, auf viele Jahre zurückschauen müssen, in denen der Schüler, der Student, der junge Arzt immer und überall die Hilfe, die Lehre, den Rat und die nie ermüdende Teilnahme seines Paten gefunden hatte. Was er wußte und war, blieb Heidings Werk, und Erwin Buchhoff würde nie daran gedacht haben, sein Leben von dem des Meisters zu trennen, wenn nicht der Professor selbst, mit der großartigen Selbstlosigkeit, die ihn durchdrang, seinen Paten auf neue Wege gewiesen, ihn von sich hinweg nach Berlin gesendet hätte. Der Erfahrene hatte recht gehabt – recht wie immer! sagte Doktor Buchhoff mitten im stummen Selbstgespräch laut vor sich hin. Aber selbst heute noch empfand der junge Mann, wie schwer ihm doch seinerzeit die Trennung von dem väterlichen und treuen Freunde gefallen war. Mit dem ersten Gedanken an eine notwendige Erholungsreise hatte sich der Wunsch verknüpft, Heiding wiederzusehen, und nur die Gewißheit der Begegnung mit ihm, auch bei der kürzeren Ausfahrt, hatte Erwin ohne allzu schweren inneren Kampf auf die Alpen Verzicht leisten lassen.

Jetzt war ihm das ersehnte Wiedersehen noch an diesem Abend gewiß, aber anders und an anderer Stelle, als er es auf dem einsamen Pfad und im Schatten breitästiger Buchen geträumt hatte. Sein Mittagessen erschien; er nahm es ohne Hast, doch nicht mit dem Behagen wirklicher Ruhe ein und würzte sich die wenigen leichten Speisen, indem er nochmals Professor Heidings Brief durchlas. Dem mit der Rechnung herzutretenden Wirt sagte er, noch in den Brief blickend:

»Sie können also dem Bergfelder Kutscher wissen lassen, daß ich gefunden bin und daß er anspannen mag, wenn's denn einmal sein muß. Sind Sie im Bergfelder Schloß bekannt? Wer ist die kranke Dame dort – die Prinzessin von Grumbach?«

»Eine jüngere Schwester des Landgrafen Heinrich Durchlaucht! Der alte Landgraf Philipp war dreimal verheiratet, zuletzt mit einer Gräfin Ostheim, von der sie die Tochter ist. Sie soll lebensgefährlich krank sein!«

»Es scheint so,« erwiderte der junge Arzt kurz. »Lassen Sie mir noch eine Tasse Kaffee geben und erinnern Sie das Mädchen an meine paar Sachen. Sobald der Kutscher fertig ist, will ich abfahren.«

Er hatte die harmlose Redseligkeit des Wirtes unterbrechen wollen und erfuhr alsbald, daß er wohlgetan haben würde, mit diesem bis zu seiner Abfahrt zu plaudern. Denn der Wirt erfüllte zwar auf der Stelle die Wünsche und Aufträge seines jungen Gastes, trat aber dann zu anderen Tischen und erzählte, immer den Blick fest auf den Berliner Arzt heftend und die Blicke anderer Reisender auf ihn lenkend. Bald schlugen die Namen der Landgrafen Philipp und Heinrich, der Prinzessin von Grumbach, die er selbst zum erstenmal vernommen, aus dem rücksichtslosen Geplauder verschiedener Gruppen an sein Ohr. Ein älterer Herr – sichtlich ein kleinstaatlicher Beamter, der in allem Hofklatsch der Welt zu Hause schien – ließ, die umsitzenden Gäste belehrend, Doktor Erwin mehr von dem Hause erfahren, in das er gerufen war, als er vorderhand zu wissen begehrte. Wenn er noch zehn Minuten dort hinüber hörte, würde er in Schloß Bergfeld beinahe so gut Bescheid wissen, als in Geheimrat Willovius' Villa am Berliner Tiergarten – es war Zeit, daß er aufbrach. Zum Glück brachte man ihm den Kaffee und gleich darauf stellte sich auch der Kutscher vor, ein baumlanger Gesell, der gewohnheitsmäßig unter jeder Tür den Kopf in die Schultern zog. Er trug braune Livree mit Silber und grüßte militärisch, der Wirt hatte auf den jungen Arzt gewiesen, aber Martin Vollborn hätte des Fingerzeiges nicht bedurft. Er erkannte den rechten Mann sofort, meldete kurz, daß eingespannt sei und daß, wenn der Herr Doktor sich beeile, man noch vor nacht an Ort und Stelle sein könne.

»Und mich dünkt, Herr Doktor, der alte Herr Professor, den ich vor drei Tagen aus Suhl geholt, wird froh sein, wenn er Sie zur Seite hat,« fügte der Thüringer hinzu. Der Ausdruck seiner Augen, seines Mundes ließen dem jungen Arzt keinen Zweifel, daß ihm eine wohlwollende Anerkennung gewidmet werden sollte.

Er lächelte und sagte kurz: »Professor Heiding ist der Mann, ohne jeden Beistand zu helfen, wenn geholfen werden kann.«

»Ich sehe, was ich sehe,« meinte Martin Vollborn hartnäckig. »Festes Auge und feste Hand schaden niemalen, das muß ein alter Soldat wissen!«

Erwin Buchhoff fand für gut, nichts mehr zu erwidern, er trat von dem Kutscher und dem Wirt begleitet vor das Haus, an dessen Stufen der hochsitzige, leichte Jagdwagen, mit einem Paar stattlicher Rappen bespannt, hielt. Das kleine Gepäck des Fußwanderers lag auf dem Rücksitz, dessen linke Hälfte für ihn frei geblieben war. Der junge Arzt stieg auf, der Kutscher hatte die Zügel ergriffen, und die ungeduldig gewordenen Pferde zogen an, ehe sich Martin in den Bock zu schwingen vermochte. Aber mit mehr Gewandtheit, als man der langen, steifen Gestalt zutrauen mochte, kam er zurecht, während der Wagen schon die Straße abwärts rasselte und Doktor Erwin, noch einmal nach dem Gasthof zurücksehend, wahrnahm, daß ihm aus Tür und Fenstern teilnehmend neugierige Blicke genug folgten. Er schlug, der plötzlichen Unterbrechung seiner Reise nachsinnend, die schützende Decke um sich. Hier oben auf der Höhe lag noch immer Abendsonnenschein, die Baumwipfel schimmerten in Gold und Glut, aber aus den tiefer liegenden Talschluchten quoll es kühl empor. Der junge Mann atmete mit Behagen noch einmal den Waldduft, der ihn während des Wandertages umhaucht hatte – im Vorgefühl, daß es mit seiner Erholung zu Ende sein werde. Während er gewiß genug war, einer sehr ernsten Pflicht entgegenzufahren, regte sich etwas wie die Luft zu einem Abenteuer in ihm. Die ungewohnte Art, wie der Ruf zu dieser Pflicht an ihn ergangen war, und die Unbekanntschaft mit dem Ort und allen Verhältnissen, denen er auf Wunsch seines alten Lehrers zueilte, gaben einem im Leben des Arztes nicht ungewöhnlichen Ereignis einen fremdartigen Reiz und Hauch.


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