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– »Ich danke Ihnen, meine Herren, und ich glaube Ihnen, daß Sie alles für mich tun würden, was in der Hand so ausgezeichneter Männer liegt. Aber ich – ich glaube nicht an ein glückliches gesundes Leben!«

In diesem Augenblick brach Professor Heiding sein ernstes Schweigen und sagte in gütigem Tone:

»Sie sind jung, Prinzeß, Sie müssen hoffen! Wir dürfen Sie nicht überreden noch bedrängen, Sie aber müssen jetzt nur an Ihre Genesung denken und von sich scheuchen, was Sie sonst vielleicht bedrückt.«

Prinzeß Luise richtete starr den Kopf auf – der Mediziner überschritt in ihren Augen seine Befugnis in unerhörter Weise, auch Landgraf Heinrich sah den Professor verwundert an. Doch erntete Heiding einen dankbaren Blick seines Schülers und einen Händedruck der Kranken, die mit lieblichem Ausdruck sagte:

»Lieber Herr Professor! Ich weiß, daß Sie es herzlich wohl meinen – aber lassen Sie mich bei meinem Entschluß – und haben Sie und der Herr Doktor Buchhoff tausend Dank!«

Erwin, vor dessen Augen das Zimmer, die Gestalten am Bett und alles außer der vom Todesschauer berührten anmutigen Gestalt unter der blauseidenen Decke verschwand, sah im wachen Traum wieder einen Schatten zu Häupten des Bettes, eine Gestalt, die jetzt die Züge des geliebten Paten, dann die der unholden Prinzessin Luise trug, aus seiner Seele und vor seinen Ohren brauste es: Du kannst und mußt solches Ende abwenden! Als er aus dem Traum wieder zum klaren Bewußtsein erwachte, standen seine eigenen Augen voll Tränen und er hörte sich plötzlich sprechen:

»Ew. Durchlaucht verzeihen mir, daß ich Sie noch einmal beschwöre, unsere Hilfe anzunehmen. Ich wage zu sagen, daß der glückliche Verlauf beinahe gewiß sei – und – ich fürchte, daß im anderen Fall ein unglücklicher Ausgang unvermeidlich wird.«

»Ich verstehe Sie, ich danke Ihnen nochmals,« antwortete die Prinzessin mit immer leiserer Stimme. »Wie Gott will!« Und sie verhüllte das bleiche Gesicht mit beiden Händen, nicht ohne zuvor noch einmal in das schmerzlich bewegte teilnahmvolle Gesicht des jungen Arztes geschaut zu haben, der eine stumme peinlich lange Minute auf eine bessere Antwort harrte. Professor Heiding faßte seinen Arm und sagte mild: »Komm, Erwin – wir müssen die Prinzeß jetzt allein lassen. Du bleibst heute noch hier – mir zur Hand, falls Durchlaucht noch ihre Entschließung ändern sollte.«

Er führte den willenlos Folgenden, halbbetäubten dem Ausgang des Krankenzimmers zu, an dessen Schwelle der alte Jakob Franke, den Türvorhang zurückschlagend, stand. Der Kammerdiener ließ unbeweglich die Ärzte an sich vorübergehen, aber seine großen grauen Äugen hefteten sich fest auf die schmerzlich bewegten Züge des jungen Doktors Buchhoff. Hinter den Ärzten kamen der Landgraf und die Prinzessin von Heinrichstal so dicht drein, daß ihre Bemerkungen bis zu Erwins Ohr drangen.

»Der junge Mann führte ja eine förmliche Rührszene auf. Ist es den Herren denn gar so empfindlich, wenn sie um einen wissenschaftlichen Ruf kommen, für den andere die Gefahr laufen müssen?«

Der Landgraf antwortete nur mit einem Seufzer, seine Gedanken weilten offenbar bei der kranken Schwester, die um völliges Alleinsein mit ihrer Pflegerin gebeten hatte. Erwin Buchhoff aber sagte, sobald ihn Heiding, einlud, mit ihm in sein Zimmer zurückzukehren:

»Verzeihen Sie mir, liebster Professor – mir ergeht es wie unserer Kranken. Ich muß allein mit mir sein, muß in freier Luft den schweren Eindruck dieser Stunde zu überwinden trachten! Sie haben recht behalten, und vielleicht lehrt mich mein Nachdenken, Ihnen auch darin recht zu geben, daß dieser trostlose Ausgang das Beste sei.«

»Wenn es dir schwer fällt, heute noch hier auszuhalten, so tritt' deine Reise wieder an,« entgegnete der Professor bekümmert. »Der Fall ist schmerzlich – unsäglich traurig. Doch wenn du dich in allen ähnlichen Fällen so tief erregen, bis ins Innerste erschüttern lassen willst, so müßte ich eine kurze Laufbahn für dich fürchten!«

»Sie mögen recht haben!« versetzte Erwin mit trübem Lächeln. »Mir ist aber wahrlich, als ob ich keinen zweiten Fall dieser Art erleben würde, als ob die Welt keinen zweiten gleich herben und trostlosen hätte! Ich bleibe heute zu Ihrer Verfügung und gehe nicht weit. Ich will mir den Schloßgarten ansehen, den Sie ja so gerühmt haben.«

Der Professor hatte eine Erwiderung auf den Lippen, hielt sie aber zurück und sah mit erstauntem Ausdruck in seinen Zügen dem jungen Mann, der die große Treppe des Schlosses hinabeilte, nach. Erwin Buchhoff wandte sich nicht nach dem älteren Freunde um – er wollte in Wahrheit so rasch als möglich allein sein. Am Fuße der Treppe wartete er, ob ihm ein Diener den Weg zum Garten zeigen könne; da er keinen wahrnahm, ging er kurz entschlossen den langen Gang an der Hinterfront des Schlosses hinab. In der Mitte öffneten sich zwei Flügeltüren, eine Stufenreihe führte von beiden in den Garten hinab, den Erwin hochatmend betrat. Es war zehn Uhr morgens geworden, die Sommersonne schien hell in die zwischen hohen Taxuswänden hinführenden Gänge herein, vergoldete wunderliche Ziersträucher und trank den letzten Tau, der noch auf den untersten Zweigen zitterte. Erwin irrte durch die geradlinigen Hecken und gelangte in die große Mittelallee von Rüstern, die den Park seiner ganzen Länge nach durchschnitt. Hier waren die mächtigen runden Laubkronen im Laufe der Zeit nicht mehr gestutzt worden, die Äste von hüben und drüben verschränkten sich zu einem schattenden Dach und verhinderten den Rückblick auf das Schloß mit seiner malerischen Anlage, seinen steinernen Vortreppen und barocken Statuetten, seinen tausend üppigen Frucht- und Muschelschnüren, die so lustig und festlich aussahen und hinter denen so unaussprechlicher Jammer wohnte. Die Erregung des jungen Mannes ward einen Augenblick gesänftigt, als er wie gestern morgen unter herabschwankenden Zweigen und auf moosbewachsenem Boden hinging, allein schon in der nächsten Minute wachte das Bewußtsein wieder auf, welche Eindrücke, welche herbe Erfahrungen zwischen gestern und heute lagen. Eben indem er sich zu fassen und kühler über das Erlebte nachzudenken versuchte, empfand Erwin, wie unmöglich dies sei. Sein Blut war in Wallung – alles, was er seit gestern abend gesehen und gesprochen hatte, jagte in immer wiederkehrender Folge durch sein Hirn und dazu quälte ihn die Frage, ob er nicht ganz anders und viel eindringlicher zu der Prinzessin von Grumbach hätte sprechen können und müssen. Sie war die erste Kranke, der er helfen zu können meinte, die er hilflos verlassen sollte, und sie flößte ihm das tiefste Mitleid ein, das der junge Arzt noch gefühlt. Ja, war es allein Mitleid, das ihm das Bild des schönen kranken, so vornehmen und doch so armen Mädchens immer aufs neue vor Augen stellte und den Wunsch, sie zu retten, immer stärker und heißer werden ließ? – Er sah klar genug, daß mit der verflossenen Stunde alles zu Ende sei, und dennoch bezwang er die aufsteigenden Bilder, halb Träume, halb Pläne, nicht. Während er die schattige Allee durchschritt und dann wieder in den Sonnenschein hinaustrat, der über Rasenflächen und Laubwänden, über wasserlosen Becken und zerbröckelnden Sandsteingruppen glänzte, rang er mit geheimen Schmerzen, die nicht milder wurden, mit bitterem Groll über die dunkle Härte des Weltlaufs und tiefem Schmerz über seine eigene Ohnmacht.

Immer aufs neue setzte er sich vor, noch einmal den Landgrafen von Bergfeld zu bestürmen und ihm ohne Scheu ins Gewissen zu reden – während er doch zugleich wußte, daß jedes Wort nach dieser Seite in den Wind gesprochen sein werde. Und dann überkam es ihn mit wilder Gewalt, ein Traum: als sei er berufen, das süße Mädchen dem Tode zu entreißen und auf seinen Armen aus dem Schlosse hinter sich in grüne Waldfreiheit, in irgend ein neues Leben zu tragen, von dem tausend Schattenbilder durch seine Seele schwankten. Bis heute hatte er, der Mann strenger Beobachtung und Wissenschaft, keine phantastischen Anwandlungen verspürt – und nun fühlte er sich im Bann von Träumen und Wünschen, über die er beim Vergleich mit der Wirklichkeit bitter lächeln mußte und die er mit keinem raschen Entschluß aus seiner Seele zu drängen wußte. Sollte er zur bitteren Erinnerung an dies erste Abenteuer seines klaren Lebens eine hoffnungslose Sehnsucht mit hinwegtragen?


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