Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Professor murmelte ein paar ermutigende Worte, Doktor Erwin blickte mit rasch wachsender Teilnahme in die blauen Augen, die sonst wohl strahlend und tief waren, jetzt aber den Wechsel von Mattigkeit und fieberischem Glanz zeigten, der im Gefolge längerer Leiden sich einzustellen pflegt. Er erkannte in dem bleichen Gesicht die reinen und lieblichen Züge wieder, die ihm drüben im Bibliothekzimmer die kleine Marmorbüste des jungen Mädchens gezeigt hatte – und unterschied sie von den entstellenden Furchen des Leidens. Der früh erfahrene, junge Arzt wußte schon jetzt, daß die Krankheit der jungen Dame ein tiefliegendes, schweres Leiden sei und daß die zarte Gestalt unter den blauseidenen Decken geringe Widerstandsfähigkeit besitzen mußte. Er wechselte einen Blick mit Professor Heiding und dann den Platz mit diesem. Die Kammerfrau der Prinzessin schob Lehnsessel für die beiden Ärzte heran, Heiding ließ sich nieder, Erwin nahm stehend und mit einer Verbeugung die Hand der Prinzeß Hildegard in die seine. Er prüfte scheinbar nur den Pulsschlag, in Wahrheit ruhten aber seine Augen auf den Zügen, der ganzen Erscheinung der jungen Kranken mit einem Ernst, einer gespannten Aufmerksamkeit, die er auch durch ein gefälliges Lächeln nicht verbergen konnte. Nach wenigen Minuten legte er mit zarter Sorgfalt die Hand des Mädchens wieder auf die Decke, dann aber hob er leise an: »Durchlaucht werden mir eine kurze Untersuchung gestatten müssen.«

Er wußte weder, warum er gezögert hatte, ehe er die unerläßliche Bitte aussprach, noch wie es kam, daß die Glut, die das Gesicht der kranken Prinzessin bedeckte, auch auf seine Wangen übersprang. Heut und hier war eben alles anders als bisher, er war sonst kühl und klar an jede Untersuchung, jede Aufgabe seines Berufes herangetreten, und in diesem Augenblick empfand er in die Seele der Kranken hinein, daß sie ein junges Mädchen und er ein junger, sehr junger Arzt sei. Er faßte sich, so rasch er es vermochte, und fügte mit einem Blick der für seine Kühnheit um Verzeihung bat, hinzu:

»Sie leiden schwer, Durchlaucht, und unsere ganze Pflicht ist es, Ihnen Linderung und Heilung zu schaffen! Da mir Professor Heiding die Ehre erweist, mich zu seinem Beistand zu rufen, darf ich nichts versäumen, was Ihnen notwendig und hilfreich sein kann, und hoffe, Durchlaucht lassen mich nicht entgelten, daß ich eben keinen weiteren Anspruch auf Ihr Vertrauen habe als die Empfehlung meines verehrten Lehrers.«

Der gütige Ernst dieser Worte wirkte so eindringlich, als sei Doktor Erwin in diesen wenigen Minuten um zwei Jahrzehnte älter geworden. – Die blauen Augen über dem Kopfkissen blickten den hilfseifrigen, jungen Mann dankbar an, dann schlossen sie sich, und Prinzeß Hildegard hauchte leise: »Wenn es denn sein muß – – lieber Herr Professor!« Sie zweifelte nicht mehr, daß es sein müsse, aus dem Ton der wenigen Worte aber hörte Heiding den Wunsch heraus, daß er in ihrer Nähe bleiben möge.

Er verständigte Erwin Buchhoff durch einen Blick, daß er zwar die Bitte der Prinzessin erfüllen, ihn jedoch völlig seinem eigenen Eindruck und Urteil überlassen wollte. Während er die Kammerfrau und die Krankenwärterin herzurief, um Prinzeß Hildegard beizustehen, trat der jüngere Arzt zu der Lampe, die auf einem Marmortisch in der Nähe des Bettes stand, schraubte die Flamme höher und rückte die Lampe zurecht, daß der volle Lichtstrahl auf den Teil des Bettes fiel, wo die Kranke lag. Dann zog er aus seiner Rocktasche ein Etui mit Instrumenten, das er stets bei sich führte, und kniete auf dem Teppich vor dem Bett nieder. Sein ganzes Wesen ging in Spannung und ernster Teilnahme unter, es trat nicht in sein Bewußtsein, daß es ein Teil eines weißen, schönen Frauenleibes sei, der enthüllt unter seinen Blicken, seinen scharf prüfenden Augen lag. Zehn Minuten oder noch länger hatte Erwin seiner Untersuchung obgelegen, als ihn plötzlich ein tiefer Seufzer der Kranken aufschreckte und ihn sofort enden ließ. Ein Blick zu Professor Heiding aufwärts, der die Hand der Prinzessin hielt, ein Wink an die Kammerfrau und der junge Arzt stand wieder neben dem Lager, wo die zitternde schlanke Mädchengestalt die seidenen Hüllen fester als zuvor um sich zog. Er brachte durch einige ruhige Fragen die Erschütterung ihres Gemüts ins Gleichgewicht und sagte dann:

»Ich danke Ihnen, durchlauchtigste Prinzessin, und darf Ihnen sagen, daß ich die Hoffnung meines Lehrers und Freundes auf Ihre baldige Wiederherstellung teile. Wir dürfen Sie heute nicht weiter stören, je mehr Sie schlummern können, um so besser wird es für morgen sein! Sie haben doch für den schlimmeren Fall ein Schlafmittel verschrieben, lieber Professor?«

Heiding nickte, er sah seinen Schüler verwundert an – der Nachdruck, den Erwin auf das Wort »morgen« gelegt, und ein Aufleuchten im Blick des jungen Mannes waren ihm nicht entgangen. Aber er fügte auch seinerseits ein paar tröstliche Worte hinzu und wünschte zugleich mit Erwin der Kranken gute Ruhe. Im Heraustreten aus dem Schlafzimmer nahm er wahr, daß die Augen der Prinzessin nicht ihm, sondern seinem jungen Gefährten folgten. Erwin hatte nichts davon bemerkt, er fragte nur kurz: »Wohin, lieber Professor?« und folgte Heiding zur Bibliothek, »Wir sind dort so ungestört als in unseren Zimmern, und der Landgraf, der zum Diner nach Liebenstein gefahren ist, wird bei der Rückkehr mich befragen und dich begrüßen wollen.«

Beide blieben schweigsam, bis die Tür des Bibliothekzimmers hinter ihnen ins Schloß gefallen war. Dann machte der Professor eine Handbewegung, als ob er den jungen Freund zum Sitzen einladen wolle, und dann gingen sie beide umher, jeder wartete auf das erste Wort des anderen, bis Heiding sich vernehmen ließ: »Was ist dein Eindruck? Was sagst du?«

»Daß ich Ihre Belehrung erwarten muß wie ehedem!« versetzte Erwin rasch, aber nicht ohne Nachdruck. »Meine Diagnose ist durchaus Ihre ursprüngliche, die Sie seitdem verworfen haben! Nach meinem Dafürhalten gibt es gar keinen Zweifel – ein Leberechinokokkus, der durch eine Operation beseitigt werden kann und muß!«

»Das war anfänglich meine Meinung – ich glaube es nicht mehr! Hättest du länger untersucht, würde dir die Befürchtung nahegetreten sein, daß es sich um eine Nierenentartung handle, bei der nicht zu operieren ist.«

»Das würde sich durch eine Probepunktion feststellen lassen!« rief Erwin und unterdrückte den Nachsatz, daß er an Heidings Stelle schon getan haben würde, was er jetzt vorschlug.

Heiding erriet offenbar, was der junge Mann verschwieg, denn er sagte mit einer Art Erregung: »Was ich getan und gelassen habe, hängt mit meinem Urteil über den traurigen Fall zusammen. Eine Operation auf Leben und Tod, die es doch auch in deinem Sinne bleibt, kann eine Wohltat sein – hier ist sie gewiß keine, glaube mir, Erwin, wenn du mir je geglaubt hast!«

Der junge Arzt lauschte diesen Worten betroffen, ja bestürzt. Seine Furcht von vorhin, daß Heiding selbst leidend und infolgedessen befangen und unsicher geworden sei, erwies sich als nichtig – was ihm unklar gewesen war, erhellte sich mit einem Mal – und dennoch, dennoch – hatte er den Professor recht verstanden, konnte er ihn recht verstanden haben? Ein Gefühl schmerzlichen Staunens, eine Wallung des Unmuts drohte ihn zu überwältigen – aber er hielt an sich und fragte nur bewegt:

»Verzeihen Sie mir, wenn ich mir Ihre Erklärung falsch deute! Glauben Sie wirklich, daß der Arzt in irgend einem Falle das Recht hat, das Mögliche zu unterlassen, weil er nicht einsieht, daß seinem Patienten das Leben frommen kann? In Ihrer Anschauung liegt ein so ungeheurer Widerspruch mit allem, wozu Sie mich erzogen, was Sie mich gelehrt haben –«

»Erwin! Mitleid habe ich dich gelehrt – zum Mitleid habe ich dich erzogen – nicht zu dem ärmlichen des Hundes, der dem armen Lazarus die Schwäre leckt, sondern zum klar urteilenden, kräftig handelnden Mitleid, das dem wahren Heilkundigen ziemt!« unterbrach Professor Heiding seinen Schüler. »Ich hätte gehofft, daß du mich ohne Auseinandersetzung verstehen würdest, merke aber zu meinem Leidwesen, daß wir uns fremder geworden sind. Setze dich zu mir und laß dir ruhig darlegen, was ich weiß, was ich ahne und meine.«

Erwin wollte der Aufforderung schweigend gehorchen, so gewaltsam sich auch Bitten, Beschwörungen, leidenschaftlicher Widerspruch in ihm regten und nach den Lippen drängten. Aber weder er noch Professor Heiding kamen zu Wort, auf dem Gange vor der Bibliothek klangen eilige Schritte, die Tür ward aufgerissen, eine Stimme rief hastig herein: »Durchlaucht der Herr Landgraf!« und indem beide Ärzte ihre Augen der geöffneten Tür zuwandten, erschien in dieser ein etwa vierzigjähriger, breitschulteriger Herr, dessen Kopf und schmales blasses Gesicht in seltsamem Mißverhältnis zu dem kräftigen Wuchs der Gestalt standen. Er war in Gesellschaftsanzug, trug das große Band eines Hausordens und den achtstrahligen Johanniterstern, sah aber nach einem längeren Diner und einer mehrstündigen Fahrt etwas unordentlich aus. Er erwiderte die Verbeugung der beiden Gelehrten mit freundlichem Gruß, schnitt Heiding die beabsichtigte Vorstellung Erwins kurz ab, reichte dem Ankömmling die Hand und sagte:

»Heiße Sie willkommen, Herr Doktor, danke Ihnen, daß Sie kommen wollten. Der Professor meint, daß er nichts ohne Sie vermöchte. Hab's schon unten gehört, daß man Sie vom Inselsberg herunter hierher geschleppt hat. Haben meine Stiefschwester schon gesehen? – Und was sagen Sie? Finden Sie es so schlimm wie der Professor heute morgen? Und was ist's eigentlich? Eine Verzehrung – bei der gleichwohl an eine Operation gedacht wird?«

»Prinzeß Hildegard Durchlaucht ist sehr krank!« erwiderte Erwin mit Rückhaltung. »Ich habe die Kranke nur einmal untersucht – bin noch zu keinem unbedingt sicheren Urteil gekommen. Ob eine Operation die Grundursache des Zustandes heben kann, werden wir – mein Lehrer und ich – erst nach einigen Vorversuchen entscheiden.«

»Glauben also auch an den Hundswurm?« fragte der Landgraf, ließ sich in einen der Sessel nieder und lud durch einen Wink die beiden Ärzte ein, sich zu ihm zu setzen. »Sag's immer,« fuhr er fort, »daß die Schoßhunde den Damen nur Unheil bringen. Verstehe gleichwohl nicht, wie's zu solcher Extremität gekommen! Und sind also Ihrer Sache gewiß, Herr Doktor? Gewisser als der Professor?«

»Ehe ich dies sagen könnte, müßte eine noch genauere Untersuchung – eine gemeinsame – bei Tage vorangehen,« gab Erwin rasch zur Antwort. »Auch müßte ich die Krankheitsgeschichte der durchlauchtigen jungen Dame mit Professor Heiding eingehend besprechen, wozu bisher keine Zeit war.«


 << zurück weiter >>