Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Was wir damit sollen?« fragte Professor Heiding. »Ein so schweres Gewicht, wie die ganze trostlose Lage des armen kranken Mädchens ist, bei unseren Entschlüssen nicht achtlos zur Seite schieben! Nichts weiter, Erwin! Ich könnte dir noch hundert Dinge erzählen, die hier aus den Wänden schwitzen und aus den Taxushecken des Gartens wachsen. Alles führt auf das eine hinaus, daß Prinzeß Hildegard unter bösem Stern geboren ist, und daß es gleich schmerzlich ist, daran zu denken, dies blühende Leben müsse erlöschen oder werde durch unsere Kunst zu langjährigem hoffnungslosem Gram und dumpfem Druck verurteilt. Laß uns alles wägen, mein Freund, und bedenken, daß, wenn wir hier die moralische Gewalt ausüben, die der Arzt hat, den Willen der Kranken zu lenken, zu bestimmen – wir eine schwere Verantwortlichkeit auf uns laden.«

»Und wenn wir dies nicht tun, Meister, nichts tun und die junge Prinzessin hilflos verderben lassen, wird die Verantwortlichkeit minder schwer sein?« fragte Erwin. Er legte beide Hände auf die Schultern seines Lehrers, als müsse er ihn rütteln und aus der Gedankenreihe reißen, in deren Bann er ihn erblickte.

»Denk's aus, Erwin, was es heißt, wenn wir uns sagen müssen: wir haben das arme Mädchen überredet, genötigt, moralisch gezwungen, sich einer Operation auf Leben und Tod zu unterwerfen, brüsten uns mit dem Triumph, sie am Leben erhalten zu haben und sind die Ursache, daß sie lange, lange Jahrzehnte ein verödetes, vergiftetes, unseliges Dasein führt! Ich möchte es nicht tragen – wenn du mehr Mut hast –«

»Um Gottes willen, lieber Professor, wo handelt es sich hier um Mut oder nicht Mut? Es ist des Arztes höchste unerschütterliche Pflicht, zu helfen, soweit er kann – nach allem anderen nicht zu fragen, das leibliche Übel zu heilen und im übrigen zu vertrauen, daß das Leben tausend Mittel hat, da zu helfen, wo kein Arzt hilft! Das alles hab' ich tausendmal aus Ihrem eigenen Munde gehört, mein teurer Pate und Lehrer, auf alles in der Welt wäre ich gefaßt gewesen, nicht darauf, daß ich meine Empfindung, meinen Pflichtbegriff gegen den Ihren setzen müßte. Bitte, lassen Sie mich noch einmal sagen, wie ich die Dinge ansehen muß!« rief Erwin Buchhoff.

»Es ist nicht nötig, ich ehre dein Gefühl, mein Junge, aber dein Gefühl führt dich diesmal irre!« sagte Heiding, jetzt mit eherner Bestimmtheit im Ton. »Du hast hier nicht erlebt, was ich erleben mußte: das Leid und Mitleid beinahe aller Diener, aller Leute des Ortes über die unglückliche Lage der Prinzessin, den achselzuckenden Gleichmut des Bruders, die unedle Geldgier und den schlecht verhohlenen Haß der Stiefschwester, die hoffnungslose Todesmüdigkeit des armen Kindes selbst! Ich leugne dir's nicht, daß mir leichter ums Herz ward, als sie ihren Entschluß aussprach, keine Operation an sich vollziehen zu lassen! Und weil ich gleich fürchtete, daß du mich oder die Prinzessin wanken machen würdest, so schickte ich das zweite Telegramm ab, das dich nicht mehr erreicht hat.«

»Die Prinzessin selbst versagt die Operation?« fragte Erwin. »Und Sie haben ihr gesagt, daß dies die sicherste, die einzige Hilfe sei?«

»Was anders?« versetzte der Professor rasch. »Nicht so schroff, wie du es vielleicht sagen würdest, aber für ein gescheites Mädchen – und die kleine Prinzessin ist gescheit – hinreichend verständlich. Und nun, Erwin, da sie so entschieden hat, du aber doch da bist, überwinde dich so weit, daß du ihrem Willen keine Gewalt antust; sie selbst muß wissen, und ich fürchte, sie weiß es, was ihr das Leben wert ist.«

»Es ist doch eine Gewissensfrage, ob der Arzt einem Kranken – und vollends einer solchen Kranken – das Urteil darüber überlassen darf!« wendete Erwin Buchhoff ein. Aber die leisere Stimme, die gesenkte Stirn verrieten, daß er jetzt zum erstenmal an diesem Abend seinen väterlichen Freund begriff. Durch seine Seele wogten unbestimmt noch hundert Einwände, deren Ursprung und Natur ihm so fremd dünkte wie alles, was er seit dem Spätnachmittag erlebt hatte, doch rang er zunächst vergeblich nach Worten – und wenn er sie gefunden hätte, so würden sie ihm abgeschnitten worden sein. Ein Diener, nicht in der Livree des Hauses, sondern im schwarzen Frack, trat ein und meldete, daß das Souper bereit sei. Professor Heiding nahm auf die Meldung sofort den Arm des jungen Arztes und sagte mit einem Blick nach dem Kammerdiener:

»Laß uns alles morgen früh weiter erörtern! Gewissen Fragen sieht man bei Tageslicht klarer ins Auge! Du wirst müde und hungrig sein – brauchst Rast und bist mir überdies den Bericht über deine letzten Wochen in Berlin und deine Reise schuldig!«

Erwin widerstrebte nicht, er fühlte, daß der Professur recht hatte, daß er der Erquickung bedürftig sei, wenn er auch an keine Ruhe glaubte – folgte daher seinem Führer aus dem Bibliothekzimmer, über den großen Gang und eine erleuchtete Treppe hinab in ein Zimmer, in dem eine Tafel mit nur zwei Gedecken der Herren wartete. Da der ältere Diener fortdauernd hinter den Stühlen der Ärzte blieb und zwei jüngere Diener mit Tellern und Flaschen ab und zu gingen, so mußte es Erwin in Ordnung finden, daß Heiding nicht von dem sprach, was beider Seelen erfüllte und belastete, sondern sich nach Berliner wissenschaftlichen Freunden erkundigte und sich dann zwischen den Schüsseln der reichen Abendmahlzeit von Ilmenau, der Wartburg und dem Rennsteig erzählen ließ. Es fiel dem jungen Manne schwer genug, den leichten Ton anzuschlagen, der hier geboten war, er gab einsilbigere Antworten, als sein Pate von ihm gewöhnt war, er hatte Mühe, sich zu vergegenwärtigen, daß beinahe alles, wonach der Professor fragte, erst wenige Tage, ja zum Teil erst Stunden hinter ihm lag. Das Erlebnis der letzten Stunde wollte noch nicht zurücktreten, ihm, der Heidings Lebensgewohnheiten so gut kannte, war es heute peinlich, daß der Professor zum letzten Glas Wein eine Zigarette anzündete und das Gespräch mit einer Art Behaglichkeit fortspann. Und dabei hoffte er im stillen, daß die Unterredung, nach der es ihn allein verlangte, im Zimmer Heidings fortgesetzt werden würde. Aber schon, wie er sich endlich von der Tafel erhob, sagte der Professor: »Du mußt müde sein und hast Ruhe nötig! Bist du noch ein Frühaufsteher wie ehedem, so komm alsbald zu mir herüber und wecke mich!« Und wie sie die Treppen zu ihren Zimmern emporstiegen und Erwin noch auf einer der breiten Stufen fragte: »Gehen Sie sogleich zu Bett, lieber Meister?« da klang wieder die Antwort: »Gewiß, sogleich, wir werden morgen Kraft nötig haben, wofür wir uns auch entscheiden mögen.« Als Erwin, unbekümmert um den Diener, der die Lichter in seinem Gemach entzündete, Heiding zu seiner Tür geleiten wollte, wies ihn der Professor freundlich zurück, sagte noch einmal: »Du bedarfst Ruhe und sollst sie haben!« und schied von der Schwelle, indem er ihm zuflüsterte: »Wenn es dich drängt, den Fall noch einmal zu überdenken, so verliere den Hauptpunkt nicht aus dem Auge: der Wille der jungen Prinzessin muß entscheiden!« und dann ein lautes: »Gute Nacht, Erwin!« hinzufügte.

Eine Minute später hatte sich der Diener entfernt, da ihm der junge Arzt nichts mehr zu befehlen hatte. Erwin Buchhoff war allein in dem reich ausgestatteten und dennoch öden Gemach, das drei Wachskerzen auf dem großen silbernen Armleuchter nur mäßig erhellten. Er setzte sich tiefatmend ein paar Augenblicke in einen der schwellenden Lehnsessel, die den Tisch umstanden. Der alte Freund hatte recht gehabt – er fühlte jetzt, wie sehr ihn die Wanderung des heißen Sommertages auf dem Rennsteig, die plötzliche Fahrt hierher, der jähe Wechsel aller Gedanken, der Anblick der kranken Prinzessin, die fieberhafte Spannung des Gespräches und des inneren Zwistes mit seinem Lehrer erschöpft hatten. Vielleicht war es diese Erschöpfung, die ihn die Luft der Gemächer dumpfig und verstockt finden ließ. Er öffnete in dem vorderen Raum wie im Schlafzimmer die breiten Fensterflügel und erfrischte sich an der Kühle, die vom Garten heraufquoll. Der reich gestirnte Nachthimmel spannte sich über den dunklen langgedehnten Bau des Schlosses, in dem da und dort eine Folge von Fenstern noch erhellt war. Zu seinen Füßen sah der Hinabblickende dunkle Laubmassen, in denen er nur Reihen hoher geradlinig geschorener Taxuswände unterschied. An der Balustrade, die Schloß und Garten trennte, erkannte er mächtige Sandsteingruppen – Heiding hatte ihm ja vorhin gesagt, daß es hier einen ungewöhnlich wohlerhaltenen französischen Garten gebe. Aber nur flüchtig zog eine Erinnerung an Eichendorffsche Schilderungen durch Erwins Sinn – das Erlebnis des Abends hatte zu mächtig auf ihn gewirkt. Er rief sich in ernster Betrachtung alles, alles zurück, was er von Heiding gehört hatte. Er mußte seinem Meister abermals wider Willen recht geben: es war ein trauriges, hoffnungsloses Dasein, in das er vor wenigen Stunden den ersten Blick getan hatte – und doch sträubte sich jeder Nerv gegen die trostlose Ergebung, die Heiding predigte. Der Ehrgeiz des Arztes, der Mut des Jugendlichen, der sein dreißigstes Jahr kaum zurückgelegt hatte – ein dunkles unfaßbares Etwas, das ihn erregte und sein Gesicht, trotz des kühlen Nachthauchs, wie im Fieber glühen ließ, widersprachen der herben Weisheit des Professors. Erwin blickte nach den Fenstern hinüber, hinter denen er die Kranke vermutete. Wunderlich genug: jetzt erst, wo er träumte und sein Hirn mit tausend Möglichkeiten zerquälte, der harten Wirklichkeit zum Trotz zu heilen, zu retten, jetzt besann er sich, wie lieblich der Mädchenkopf sei, der ihm wieder von den Kissen entgegenblickte. Ein Schauer durchrieselte ihn in Erinnerung an den holden schlanken Leib, den er berührt hatte, den er nicht hilflos verderben lassen durfte. Er mühte sich umsonst, kälter und klarer zu denken – immer wieder wallte es heiß und leidenschaftlich bitter gegen die Menschen hier auf, die er nicht kannte, und er mußte sich gestehen, daß er auch dem Manne zürnte, dem er auf der Welt am meisten dankte und den er bis heute am höchsten verehrt hatte.


 << zurück weiter >>