Franz Stelzhamer
Groß-Piesenham
Franz Stelzhamer

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Des Siebengütlers anderer Nachbar vorwärts ist der Halbsöldner, genannt zum »Andrämann«.

Dieses Haus ist mir wieder darum so besonders merkwürdig, weil es mir meine ersten zwei großen, erschütternden Lebens- oder vielmehr Erinnerungs-Momente geliefert hat.

Es muß meiner Erinnerung nach Herbst, vielleicht schon Spätherbst gewesen sein – ich und Andrämanns Röschen waren allein in ihrer Stube. Weiß Gott, was unsere Mütter, zwei besonders gute Freundinnen, beide außer Haus, wahrscheinlich auch zusammen, mußten zu tun gehabt haben, daß sie uns, mich und Röschen, zusammengegeben hatten, um uns gegenseitig die Zeit zu vertreiben?

Röschen und ich waren in völlig gleichem Alter. Wir konnten bereits lesen und lasen auch, die Köpfe zusammengesteckt, aus einem Geschichtenbuche. Ich weiß sogar noch den Titel der kleinen Erzählung, die wir gelesen hatten, er hieß: »Der sparsame Mann« und die Geschichte machte auf mich einen bleibenden Eindruck.

Der »sparsame Mann« nämlich, der aber von seinen Nachbarn, weil er nicht wie sie bei jeder Gelegenheit großtat und verwarf, für filzig und knauserig verschrien war, schenkte einem sammelnden Abbrändler mehr als das Doppelte, was dieser von jedem andern erhalten hatte.

Als der Beschenkte darauf nach der Danksagung dem edlen Geber seine Verwunderung darüber ausdrückte – höre, was sprach der sparsame Mann mit freundlichem Lächeln! Er sprach: »Weil ich in guter Zeit sparsamer bin als meine lustigen Nachbarn, eben darum kann ich in schlimmen Tagen mehr leiden und leisten als sie. Gott befohlen!«

Dann arbeitete er wieder schwer und angestrengt wie ein gedungener Löhner mitten unter seinen Knechten und Mägden.

Nach der Lesung aßen Röschen und ich dann gute »Rohrnudeln«, in Milch eingetunkt, und waren heut überhaupt recht froh und friedlich miteinander. Ich betone es darum, weil es sonst gerade nicht immer der Fall war. So erinnere ich mich nämlich ganz gut, daß ich vor nicht gar langer Zeit demselben Röschen mit meiner kleinen Faust eben nicht auf das sanfteste ins Gesicht gefahren war. Hatte mir aber auch das böse Dirnchen einen bereits angebissenen Apfel so mir nichts dir nichts vom Munde weg entreißen und abringen wollen.

»Warte, du Ziefer!« und damit hatte sie Eins. Wurde wohl ein wenig geflennt und geschrien, und damit sie wieder aufhöre und still sei, bekam das böse Mädchen auch meinen Apfel. Aber heute, wie gesagt, vertrugen wir uns recht friedlich und taten fast liebreich miteinander.

Und siehe! Nach einem so schönen Kindernachmittag in Röschens Haus und Stube, was geschieht nachts noch an demselben Tage in eben demselben Hause?

Ach hilf, du lieber, grundgütiger Himmel, hilf, hilf!

»Feuer, Feuer!« gellt und zetert es plötzlich auf der bereits totstillen Gasse. Und als wir die Augen und Läden aufreißen, steht Andrämanns Haus in heller, lohender Flamme.

Der Wind trägt auch gerade gegen unser eigenes Haus einen Hagel von Funken und Bränden, daß wir nur alle schnellmöglichst auslaufen mögen mit vollen »Schaffeln«, Zubern und Ampern, um uns selber zu retten.

Gut war’s für den ersten Augenblick, daß zwischen uns und Andrämanns die ziemlich breite Bointwiese lag und besonders, daß die mächtigen, vor unserem Hause stehenden Birnbäume noch einiges Laub aufhatten und so den furchtbaren Gluthagel etwas abhielten.

»Feuer, Feuer!« ertönt indes noch immer zur Ermunterung der bereits Schlafenden der widerliche, markdurchschauernde Angstschrei. – Schwarze, ringende Gestalten rennen um die prasselnde Flamme. In einer derselben erkenne ich deutlich Röschen, das kleine, erst nachmittag noch so glückliche, liebe, lustige Röschen. – Ich wollte ihm in meiner Angst rufen oder zu Hilfe kommen – horch, da erschallt die Stimme des Vaters, der bereits mit einem schweren Zuber das Dach erstiegen hatte.

»Buben!« – rief er und sein Ruf war wieder so grelltönend, so erschreckend, wie ich solchen noch nie vom Vater gehört hatte – »Buben!« – rief er – »lauft einer schnell zu Bruder Jakob, er soll mir zu Hilfe eilen, wir brennen sonst auch mit ab.«

»Marie!« – erscholl es nach einer andern Seite, und der Ruf klang fast noch schrecklicher – »Marie, jage das Vieh aus den Ställen und packe die besseren Sachen in die Leintücher, ich kann das Feuer nicht mehr abwehren!«

So rief der Vater voll Angst; da schoß ich auch von dannen, damit die größeren Brüder dem Vater helfen und Wasser zureichen könnten.

Ich schoß jetzt, selber bedroht, an dem ringenden Röschen und an dem Feuermeer unaufhaltsam vorüber, schnurstracks zu Vetter Jakob, dem großen, gewaltigen »Dimmel«. Aber der Vetter schoß ebenso schnell an mir und allem vorüber, um uns ungerufen beizuspringen.

Nu, und dazu war der Dimmel der Mann! Ganze Waschzuber und Bottiche voll Wasser strömte er mit seiner Riesenstärke und Größe erst über den längs der Hauswand aufgeschichteten Wid- und Holzscheiterstoß, der bereits hie und da zu »glosen« angefangen hatte, dann aber tat er seine Wunder auf der Dachung. Als wäre ein jäher Platzregen im Niedergehen, so goß und stürzte es von den Rinnen.

Nachbar Schuster, den unser Haus deckte, kam inzwischen auch anhergestiegen, mehrere aus dem Unterdorf herbeigeeilte Mägde und Weiber versahen die gießenden Männer fleißig und reichlich mit Wasser und so war endlich für unser Haus und Eigentum die Gefahr bewältigt.

Als Vetter Jakob vom Dache hernieder diese tröstliche Versicherung von sich gab, zugleich der Mutter, seiner allzeit geliebten Schwägerin, vom ferneren Einpacken ernstlich abriet, da wagte auch ich wieder den ersten freien Atemzug und getraute mir zugleich auch den ersten eigentlichen Hinblick in die wilde, fessellose Flamme.

Ho, die hatte bereits das Schindeldach, das Sparr- und Lattenwerk vollkommen verzehrt. Dadurch wie gestärkt und ermutigt, versuchte sie nun an dem gröberen Gebälk, an First- und Tragbäumen ihre verheerende Wut. Wie zum Hohne der Hilfeleistenden und Wehrenden züngelte sie aus allen Fenstern, Wandlöchern und Luken hervor, krachte dazu und schnalzte, knisterte und prasselte in wahrster, wildester Zerstörungslust –

»Denn die Elemente hassen
Das Gebild' von Menschenhand.«

In noch weit größerer Gefahr als wir befanden sich wegen ihrer fast ungetrennten Nähe die beiden Hafner und genossen, nebst der angestrengtesten, aufopferndsten Hi1feleistung, nur den Vorteil des glücklicherweise abgekehrt blasenden Windes.

Aber trotzdem wär' es vielleicht um sie und dann um das ganze mittlere Dorf geschehen gewesen, wenn nicht plötzlich eine andere, neue, ausgiebigere Hilfe angekommen wäre.

Diese neue, mächtige Hilfe war nicht etwa, wie Eins, und das mit Recht, meinen möchte, eine tüchtige Feuerspritze oder ein anderer natürlicher, guter und sicherer Flammendämpfer – Gott, nein – und Hut ab! – es war der geistliche Herr von Pramet, selbst angetan mit festlich kirchlichem Ornat und mit dem Sanktissimum im rotsamtenen, mit goldenen Borten und Fransen besetzten Mäntelchen – der war's!

Das Hochwürdigste in dieser würdigen Umhüllung erhob der fromme Gottesmann hoch über sein ehrwürdiges Haupt und schwenkte es dreimal gegen die wilde Flamme und besprach sie mit lautem, kräftigem Spruch. Und siehe da, die rasende Flamme, die just zuvor noch mit hundert Armen um sich gegriffen und alles errafft hatte, zog augenblicklich diese Arme bescheidentlich an sich, gipfelte sich hoch über dem Dachfirst als eine schöne Spitzsäule gen Himmel und ließ sich gleich darauf von unten fast willig bewältigen und zähmen.

Die Leute, die andächtig auf den Knien lagen, sahen alles mit staunenden, groß verwunderten Augen und würden es noch heute, wo es nötig wäre, gern und mit dem schwersten Eide bekräftigen und erhärten.

Der geistliche Herr verweilte noch geraume Zeit in stillem Gebete. Dann aber sprach er mit den Leuten, tröstete vor allem die Schwergetroffenen, ermahnte die Hilfreichen zu christlicher Geduld und Ausdauer in Bekämpfung und Bewachung des Feuers und dann entfernte er sich wieder, wie er gekommen, still und geräuschlos durch die stockdunkle Nacht dahin.

Das ist der eingangs erwähnten zwei großen, erschütternden Momente eines, aber der Zeit nach nicht das erste.

Was mich innerlich bedrängt und bestimmt haben mag, die chronologische Ordnung zu verlassen und das spätere früher zu erzählen, das mag mir Einer sagen, ich selbst weiß es nicht.

Sollte die lebhaftere Erinnerung an dieses, weil ich schon etwas größer, mein Herz des bleibenden Eindrucks schon fähiger – oder sollte das Andenken an Röschen, meine vielliebe Jugendgespielin, gewagt haben, sich fast ungebührlich vorzudrängen, oder –?

Dies oder das, gleichviel! Der liebe Leser, um dessentwillen es aufgeschrieben wird, hat nur eine andere Perspektive, aber nichts verloren.

Es mußte gleich nach oder noch während des letzten großen, aber für uns schon siegreichen Franzosenkrieges gewesen sein, als auf einmal ins Dorf das Gerede kam: »In der Birg« – einem ganz in der Waldung versteckten großen Bauerngehöfte – seien mehrere feindliche Soldaten – was weiß ich – Deserteurs, Marodeurs oder wirkliches Raubgesindel, genug, Franzosen, Feinde! Die seien dort eingebrochen und säßen und wären bei Fraß und Suff, den sie dem »Birger« abgenötigt, ganz guter Dinge.

Diese Rede ging im Dorf.

Hans, auch der »damische«, d. i. ungestüme Hans genannt, von wegen seines leicht entzündlichen und dann in furchtbarer Gewalttätigkeit auflodernden Jähzornes so genannt, Hans, der Kleinsöldner Andrämann, hörte auch diese Rede.

Ein Weilchen schwieg er still, als er es gehört hatte, aber seine tiefen, kleinen Augen fingen an zu funkeln, und die Stirnader schwoll fingerdick gegen die Nasenwurzel nieder. Darauf ballte er die rechte Faust und indem er sie drohend gegen »die Birg« hinauf schwang, rief er:

»Freuts enk, ös walscheten Hund!«

Wieder nicht lange, rannte er mit seiner geladenen Hausbüchse durch das Dorf und nötigte noch etliche Männer, wahrscheinlich mit Drohung und Gewalt, daß sie mit ihm gingen und ihm »die walscheten Hund in der Birg erschlagen helfen möchten«.

»Wenn sie nur bei ihm wären«, – des besseren Ansehens, der größeren Bedrohlichkeit wegen – »machen wollte schon er allein!«

Zu dieser Rede dann die illustrierende Pantomime und die Männer getrauten sich keine Widerrede, keine abschlägige Antwort.

So ging bei einbrechender Dämmerung der Zug nach der Birg.

Die Burschen aber, die Franzosen meine ich, waren klug gewesen. Die Fensterläden nach der Gasse, daß niemand in die Stube sehen konnte, hatten sie zugezogen, Tür und Tor gut verschlossen und verriegelt.

Hans, als er das so vorfand, wollte schon wieder ergrimmen und einen schnellen Sturmlauf gegen einen der Torflügel oder, noch besser, gegen die alte Haustür wagen.

– »Krachen, brechen und weichen muß etwas!« meinte Hans; wäre sicherlich auch so geschehen, aber die Andern ließen ihm’s nicht gelten.

Einer, wohl gewiß nicht der Tapferste, aber der Klügste, Schlaueste von ihnen, riet Ruhe, gänzliches Stillsein und Achtsamkeit nach allen Ausgängen. Er wolle indes horchen und lauschen, ob doch die Franzosen wirklich in der Stube wären und noch von ihrer Anwesenheit nichts gemerkt hätten.

Wie eine Katze, sachte und auf leisesten Pfoten, schlich er von einem Fenster zum andern. Ha, durch eines traf ihn ein dünner Lichtstrahl.

Genug, wo Licht heraus, kann es auch hinein!

Und da war’s wieder seine Katzennatur, die beliebig die Pupillen zu dehnen und zuzuspitzen vermag, so daß er alsbald ganz gut durch den kleinen Spalt in die Stube sehen konnte.

Dann den Kopf gegen Hansen, der ihm aus Ungeduld am nächsten war, zurückbiegend, lispelte er:

»Sind richtig drinnen! Aber mir scheint, sie haben schon Wind, denn sie schweigen und winken einander mit den Augen. – Machen wir uns lieber aus dem Staub!« Das war für Hansen das rechte Wort.

Wie ein gewaltiger Stoßgeier fuhr er auf die elende Katze, packte sie am haarigen Kragen, daß die Fußwurzeln vom Boden wegschnellten, und rannte damit als mit einem willkommenen Keil oder Mauerbrecher gegen die alte, morsche Haustür.

»Da mach dich aus dem Staub!« grollte Hans mit zorngepreßter Stimme und stieß ihn einige Male so ungestüm kräftig gegen das Gebälke, daß es krachend aus dem Gefüge wich und Trümmer und Mauerbrecher nach innen flogen.

Ho, jetzt wurd’ es aber auch in der Stube lebendig!

Was beweglich war, Stühle, Vorbänke, Tisch und Schränke, hörte man zur Verbarrikadierung gegen die Stubentür wandern.

»Aufgemacht, gutwillig oder – !« schrie Hans mit schrecklicher Stimme und stieß dazu mit seinem Gewehrkolben an die Tür.

Nichts antwortete. Im Gegenteil – die Barrikade innen mußte fertig und gut sein – es herrschte wieder erwartungsvolle, tiefste Stille.

»Ich will euch gleich lebendig machen!« schrie Hans wieder, und mit einem donnernden Knall fuhr seine Kugel durch die obere Türtafel.

Aber in demselben Augenblicke antworteten auch schon mit noch entsetzlicherem Knall etliche Kugeln durch die Tür heraus, und – O weh! Hans wankte.

Die andern hatten sich klüglich beidseitig der Tür durch die Wand salviert.

»Getroffen!« stöhnte Hans und taumelte gegen die zertrümmerte Haustür, durch die seine Begleiter bereits Reißaus genommen hatten.

»Getroffen!« stöhnte Hans noch oft und immer schmerzlicher, bis er blutgetränkt die tiefer gelegene Wiese erreichte, wo seine Gesellen, hinter einem dichten Erlgebüsch versteckt, denn doch seiner gewartet hatten.

Sie brachten Hansen auch glücklich, d.h. noch lebend, zu den jammernden Seinen nach Hause. Hans lebte sogar noch einige qualvolle Tage, an welchen eben wir Kinder zwischen den größeren Leuten, zu recht innigem Entsetzen, uns auch an sein Schmerzenlager drängten; dann aber starb er an innerem Brand. Andrämanns Barbara, der Mutter unglückliche Freundin, war Witwe, Kleinröschen, die meine, eine arme Waise! – –Allein, im Dorfe und auf der bäuerlichen Landschaft verdirbt man selbst durch so große, einschneidende Unglücke doch nicht.

Das Getroffene nimmt es als Schickung Gottes, weint und schluchzt sich wacker aus, trägt inniges innerliches Leid und strenge äußere Trauer, betet und bittet die Mittrauernden und Tröstenden um ihr heilsames Gebet; der gestörte Magen verlangt allmählich wieder sein Speisedeputat; der Hausbedarf fordert unerläßlich geschäftige Regung und –

»Zeit, Gebet und Arbeit
Lindert jedes Herzeleid.«

Andrämanns Barbara bekam erst durch die Mithilfe der ganzen Nachbarschaft wieder ein neues, viel schöneres Haus und dann, weil sie noch in gutem, rührigem Alter stand, auch einen neuen Eheherrn, der ganz das Widerspiel von ihrem ungestümen Hans, ein gar stiller, sanfter und fast hübscher Mann war.

Röschen hatte gleich nach dem Brand eine »Göten« (Patin) zu sich genommen. Dort erwuchs sie in kurzem zur schönen, stattlichen Jungfrau, die mich, den Studenten, noch immer freundlich anlächelte und gern vorübergehen sah.

Allein der Student hatte damals schon über seine Bücher hinaus einem – wie er meinte – noch viel schöneren Stadtjungfräulein in die Augen geblickt und hatte für Röschens Freundlichkeit gar kein rechtes Verständnis mehr.

So wächst sich der Wald zusammen,
So auseinander der Sinn,
Und Manches, was man verloren,
Verwandelt sich in Gewinn.


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