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26

Marie aber fühlte, je länger um so deutlicher, daß ihr Geist in seine alte Wohnung zurückgekehrt sei. Noch ganz erfüllt von der Last seiner geheimen Wanderung, erschüttert von der Heimkehr, brütete er in seinen Gemächern, während von draußen her alle Erinnerungen auf ihn andrangen, wie etwa zur Nacht ein Volkshaufe in verworrener Unruhe gegen das geschlossene Tor einer Stadt sich aufmacht. Gleich einer lichtlosen Wolke aber lag das Bewußtsein über diesem letzten Zwiespalt ihres Lebens.

Sie hatte wieder einen Blick, aber sah noch nichts; empfand, aber ungeschieden; erkannte, aber faßte noch nicht.

Indessen saß sie am Tisch in der Unruhe eines Menschen vor der nahen Abreise, legte die Hände ineinander, tat einige Schritte in die Stube, kehrte zurück und sah auf den Fuß des überschlagenen Beines, dessen Spitze von dem stürmischen Herzschlag leise auf und ab pendelte, blickte durchs Fenster, kehrte sich ab und verfiel unter erwartungsvollen Atemzügen in ein leeres Hingenommensein.

So verging Stunde um Stunde.

Gegen das Ende des Nachmittags begann der Wechselbalg röchelnd zu schreien, schwieg wie erstickt, rang angstvoll schnurrend auf. Dann ging sein kurzer Atem, wie wenn eine zähe Masse in seinem Brüstchen koche.

Marie sah an sich nieder und erkannte ihre Verwahrlosung, stand auf, wusch sich, kämmte ihre Haare und zog sich saubere Kleider an. Bei allem hatte sie die Empfindung, letzte Hindernisse wegzuräumen. Als sie sich geschmückt hatte, spürte sie jenes unbezwingliche, von Herzklopfen getragene Durst- und Hungergefühl, das Nervöse vor einer entscheidenden Tat befällt. Sie trank in gierigen Zügen einen Krug Milch.

Mit dem Rest trat sie an die Wiege, das Kind zu tränken. Das lag weißblau und still. Die Augen waren tief eingerunzelt, der breite Mund offen, die dürren Händchen lagen regungslos hingebreitet.

Sie griff ihn an, und da eine welke Kälte in ihm war, legte sie ein Bett über ihn, daß er sich wieder erwärme.

Indessen war das Dämmern des Abends gekommen, und eine Garbe roten Lichtes floß durch das Fenster über Marie, die davon erschrak und nicht anders meinte, es sei jemand von hinten an sie herangetreten und habe sie berührt. Sie wartete ein wenig, ob der Schein reden würde. Aber gleichgültig verbreitete er sich in der Stube, floß über alles und ward endlich zu Ringeln und Flecken, die aufleuchteten und verschwanden. Marie aber traute doch diesem Spiel von Licht und Schatten nicht, sondern setzte sich an den Tisch und beobachtete alles mißtrauisch.

»Wart' och. – Wart' och«, sagte sie immer lauernd in sich hinein. Irgendwo, in der Schlafkammer oder unter dem Tisch oder hinter dem Ofen, kauerte etwas und wartete, sie zu überfallen. – Da kam es schon. Mochte es sich noch so sehr den Anschein geben, es sei ein Schatten. Sie wußte ganz genau, nun ging es an ihr Leben. Langsam schob es sich mit der Geräuschlosigkeit eines Katzenleibes über die Diele.

»Was willst du?« fragte sie, um es zu verscheuchen.

Der Schatten rückte weiter auf sie zu. Da geriet sie in Angst. »Wer sein Sie'n? – Ich hab' Ihn doch nischt getan!« Aber das graue Tier ließ sich nicht halten. Jetzt war es schon so nahe, daß sie seine Weichen vom unterdrückten Atem zittern sah. Um sich vor ihm zu retten, stieg sie auf die Bank. – Auf einmal war alles finster, und sie wußte, sie sei gestorben. Als sie in namenloser Angst darüber nachsann, was nun werden solle, da sie lebendig im Grabe liege, erhob jemand über ihr ein Gelächter, als verhöhne er sie. Nach einer Weile wagte sie die Lider ein wenig zu lüften. Da sah sie neben sich eine winzig kleine Muttergottes stehen. Sie leuchtete von selbst und verzog spöttisch das Gesicht.

»Hast du gelacht über mich?« fragte sie die Heilige, schon im Zorn, aber doch noch demütig. Die Figur nickte nur steif mit dem Köpfchen und erlosch. Da sank ein Bann in Marie nieder. – Sie erkannte sich plötzlich wieder, sah, wo sie sei, und wußte alles, was mit ihr vorgegangen war.

In Verzweiflung an Gott war ihre Seele in ihr verschollen; in Empörung erwachte sie in diesem Augenblick an dem Gelächter, das Gott über sie ausgestoßen hatte. Davon kam ein Schlagen über ihr Herz, wie wenn eine Glocke Sturm läutet.

Ohne sich zu besinnen, stürzte sie auf das Eckbrett zu und strich die Holzfiguren in ihre Schürze.

Dann ging sie in den Hof und suchte in dem ungewissen Licht der beginnenden Nacht den hohen Schneewall vor dem Scheuertor. Dorthinein watete sie, trat ein tiefes Loch, stampfte die Figuren mit den Füßen hinunter und warf Schnee darüber.

Wie sie Ballen um Ballen mit den Händen aufhob und festdrückte, sprach sie Worte jener großen Empörung, zu dem ihr Daseinsschmerz geworden war:

»Tod um Tod. – Den Stoß of dei Herz, daß es zerbricht wie meis. Peiniger – Peiniger – Peiniger...«

Jetzt war es vollbracht.

Ein Schneekegel ragte über ihrem begrabenen Gott, und mit keuchender Brust und funkelnden Augen stand das Weib davor. Dann ging sie wieder heim. Mit unverwandtem Auge starrte sie auf die Fenster, die als blasse Flecken vor ihr in der schwarzen Nacht standen.

Sie zündete kein Licht an. Sie legte sich nicht schlafen. Sie wartete lange auf ein wild Wunderbares, das sie mit ihrem Fluch beschworen zu haben glaubte. Als sich aber nichts ereignete, ging sie mit wankenden Knien in die Schlafkammer, fiel mit dem Gesicht nach unten ins Bett, grub ihre Hände verzweifelt in die Kissen und schlief ein, als werde sie ausgeblasen. –

Über ein langes schrak sie zusammen.

Ein dröhnender Schlag hatte das Dach des Hauses getroffen.

Die Wände bebten noch, als sie herauffuhr. Und da sie nun an die Balken griff, teilte sich das Zittern ihrem Innern mit, war eine Weile allein in ihr, während alles um sie her von Leblosigkeit befallen schien und begann dann langsam aus ihr herauszurinnen, doch nicht so, als ob es nur eine Bewegung sei, sondern ein zweites unbegreifliches Wesen. Sie fühlte es in sich niedergleiten, zur Kammer durch die Wohnstube hinauslaufen. Es öffnete die Zimmertür, schlug sie zu und begann bald darauf draußen im Hausflur mit der Stimme eines verängstigten Kindes nach ihr zu rufen: »Mutter! – Mutter!«, daß sie sich aufmachte und sah, wer da sei.

Als sie in die Hausflur trat, stand ihr kleines Mädchen, ihr »Wackala«, draußen, blies in die blau gefrorenen Händchen und trat fortwährend von einem Füßchen auf das andere, daß ihre blonden Haare über dem Gesichtchen immer tiefer zusammenrannen.

»Warum bist du denn nich eim Himmel geblieben?« fragte Marie erstaunt.

Das Mädchen hob ihr Auge und sah sie ratlos an.

»Hat er dich etwan rausgezagt weger mir?«

Das Kind nickte nur trostlos.

»Etze ei dr Nacht ... ei dr Kälte, was?« forschte sie ungläubig weiter.

Das Mädchen brach statt aller Antwort in erbarmungswürdiges Schluchzen aus.

Da ward Marie vor Zorn trunken.

»Komm du rei, komm! Dei Mütterle wird dir helfen«, sprach sie, endlich sich mühsam beherrschend, führte das Kindchen, das sie neben sich trippeln sah, in die Stube und schlug die Tür hinter sich zu, daß es durch das ganze Haus krachte.

Der Wechselbalg erwachte davon aus seinem Starrkrampf und schrie meckernd.

Diese Töne drangen auf ihr blondes Mädchen ein. Es ward immer schemenhafter.

»Mädla, Gretla, fürcht' dich nich! – Ruhig! – Ruhig! – Ich will mei Kind behaln... ich brauch' kee andersch!«

Mit dem Fuße stieß sie gegen die Wiege.

Aber die Stimme des Wechselbalges ward immer lauter und drohte ihr Kind ganz aufzusaugen.

Da drückte Marie das Bett fest auf sein Gesicht, holte noch mehr Kissen von ihrer Lagerstatt, legte sich mit ihrem Körper darüber und verharrte so lange, bis die unholde Stimme ganz erstorben war.

Sie trug die Kissen mit tanzenden Schritten wieder in die Schlafkammer. Dann hob sie ihr Mädchen in die Wiege. Sie brauchte die Leiche nicht herauszunehmen, denn der tote Knabe war ihr Wackala.

Nun zündete sie ein Licht an und rückte einen Stuhl zur Wiege, um ihren Liebling einzuschläfern, der so müde war von der Reise aus dem Himmel durch das kalte Gewölk auf die Erde.

Jetzt war alles, wie sie es gewünscht hatte mit ihrer Sehnsucht und ihrem Gram.

Ihr Fuß bewegte die Bogen der Wiege, dazu sang sie:

»Eia, popeia, Windelkind!
Ei dem Pusche geht dr Wind,
Of dem Baume kräht der Hahn,
Aus dem Häusla sieht dr Mann,
Of dr Platte kocht das Kraut,
Hinterm Tische sitzt die Braut:
Schlaf, Kindla, schlaf.«

Sie sang ohne Aufhören und schwang sausend die kleine Bettstatt. Ihr Auge loderte, ihr Antlitz war eingefallen, von wilder Verzückung tief gefurcht.

Erschöpft mußte sie eine Pause machen. Sie griff der Leiche ins Gesicht und fand, daß sie eiskalt sei.

»Wie kalt du bist! Mir wern Feuer machen. Da wird dir schon warm werden.«

Bald prasselte es im Ofen.

Sie wartete eine Weile und prüfte dann, welchen Fortschritt die Erwärmung ihres Lieblings gemacht habe.

Noch eiskalt. –

Bestürzt bog sie sich über das Totenbett und sann lange.

Plötzlich schlenderte sie sich auf.

»Oh, nu weeß ich's! Die Erde hat dich totgemacht, Un mich auch. – Licht – Licht – Licht! – überall bis an de Decke, zum Dach hinaus, lauter Licht! Mir wern de Nacht verbrenn' of dr Erde. Danach sein mir alle erlöst, mir un alle Menschen.«

Sie sprang jubelnd hinaus, schleppte Holzscheite herbei, schichtete vier Stöße um die Wiege, legte Spähne darunter, zündete sie an und setzte sich wieder an die Wiege.

Bald stand ihre Welt an allen vier Himmelsrichtungen in Flammen. Auf ihrem Gesicht lag seliges Leuchten.

Ihr Lied aber hatte eine unbändige Gewalt.

Eia, popeia, Windelkind!
Ei dem Pusche geht dr Wind ...

Bis zum letzten Atemzuge sang sie.

Als die erschreckten Steindorfer herbeikamen, war das Lied längst verbrannt. Ein Funkenwirbel stieg von dem einstürzenden Gebälk in die Luft und verlor sich in der Höhe wie das Rauschen eiliger Flügel.

Dann sank alles in Asche zusammen. –

Aber die Nacht der Erde blieb doch. Denn die läßt sich nicht fortschaffen.

Sie gebärt den Menschen; sie nimmt ihn wieder von hinnen.

Und zwischen der Nacht des Aufgangs und des Niedergangs schwingt auf gar engem Raume die Stundenglocke des Menschendaseins.

Ihr Klang ist ewige Sehnsucht in notvollem Kampf und bitterster Süße.


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