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20

Der alte Freiwald strich sich mit bebender Hand den kalten Schweiß von der Stirn und trat voll Grauen von dem offenen Brunnen weg. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, schützte er sich vor dem Einfluß des Toten, spuckte unter Murmeln dreimal in den Brunnen, kehrte sich dann um und warf mit Anrufung der drei göttlichen Personen drei Handvoll Schnees hinter sich. Bei dieser Tätigkeit traf ihn die herbeigeeilte Kathe, die fassungslos von dem ohnmächtigen Weibe zu dem zitternden Greise sah.

Endlich war sie imstande zu sprechen.

»Nu, aber Freiwald!«

»Da drunten.«

»Wer?«

»Der Schuster!«

»Un tot?«

»Verfault.«

Dann sanken in Schrecken ihre Blicke ineinander.

Plötzlich fuhren sie, von dem gleichen Gedanken erfaßt, zusammen und traten an Marie heran, die regungslos dalag, das bleiche Gesicht in den Schnee gedrückt.

Umsonst bemühten sie sich, durch Zurufe, Rütteln und Aufrichten das Bewußtsein in dem welken Leibe zu erregen, griffen danach an, Freiwald unter den Armen, Kathe zu Füßen, und trugen die anscheinend Leblose auf das Bett in die Schlafkammer.

Dort begannen sie, mehr aus Angst als Berechnung, den Körper des armen Weibes zu reiben, den sie von schnürenden Kleidungsstücken befreit hatten. Lange lag Marie, als sei sie wirklich von dem Tode hinübergerissen worden. Dem Mädchen fielen große Tropfen aus den Augen, und mit dem rührendsten Klang in der Stimme, wie lebendige Herzen nur nach Verblichenen rufen können, bat Kathe Marie ins Leben zurück:

»Marie! – Marie! – Mei allerliebstes Mariela, wach uf, noch a allereenziges Mal wach uf, daß ich dr's sagen kann, wie ich dr gut bin.«

Endlich wich das fahle Blau der Lippen leisem Rot, und die Schlagader des Halses rührte sich unter der weißblauen Haut wie ein aus der Erstarrung sich lösender Wurm. Auch die Brust begann auf und ab zu wanken. Sonst lag die Kranke totenstill.

»Mir wern se ruhig schlafen lassen. Das is etze 's beste«, flüsterte der Greis, und indem er das Gesicht halb nach der Tür wandte, verriet er, daß sein Sinnen von der Sorge um das Weib hinzugleiten begann zu der Tatsache des furchtbaren Fundes.

Kathes Seele stand auf derselben Scheide zwischen Sorge und Grauen und sann laut vor sich hin:

»Dorte ein Toter un da ein Leben, das de an eem Faden hängt.«

Die Kranke riß die Augen auf, öffnete auch den Mund, und bann, wie unter einem Peitschenhieb, krümmte sich der Leib zusammen, die Augäpfel drehten sich in die Höhlen zurück, den Kopf stieß es in die Kissen. Mit einem langgezogenen Schrei endete der Krampf.

»Um's Himmels willen, Freiwald, was soll'n das sein?« fragte Kathe verzweifelt.

Der Greis betrachtete die Kranke, die mit geschlossenem Munde stöhnte und die Hände ins Bett grub, und erwiderte dann:

»Mir scheint, die stößt de Mutter.«

»Nee ha, da bis och scheen gebeten und lauf bale.«

Sogleich stapfte der Alte davon.

Nach einer langen Stunde, während welcher das Leben des armen Weibes oft nur noch schwach vor den Gruben des Todes aufgeflackert war, rang sich die Frucht ihres Sehnens von ihrem Leibe los.

Es war ein Knabe. Die junge Mutter lag schweratmend im verwühlten Bett.

Als die Hebamme, ein vierschrötiges Weibsbild mit einem Mannsgesicht, das Kind gegen das Licht hielt, um es auf seine »Richtigkeit« zu prüfen, schloß sie die Augen und legte es kopfschüttelnd in die Wickel. Denn es war häßlich, gleich dem entstellten Bilde eines wüsten Traumes. Ein grimmiger Fußtritt Gottes schien es aus dem Nichts ins Leben gestoßen zu haben.

Der breitgedrückte Kopf, zwischen die Schultern gekeilt, unförmig groß, mit einem runzligen Greisengesicht, kleinen Augen unter roten Wülsten, saß fast unmittelbar auf dem kurzen Leibe, der die Proportionen eines halbwegs viereckigen Steines hatte. Arme und Beine spinnenlang, an den Gelenken knotig aufgetrieben. Die Finger fleischlose Vogelkrallen. Alles aber mit langen vereinzelten Haaren bedeckt, ähnlich denen, die verborgener Moder heraustreibt.

Von Zeit zu Zeit stieß das kleine Ungeheuer einen schnarrenden Laut aus ...

»Warum habt'r denn nich de Patzelten aus Walsdorf gehult?« fragte endlich die Hebamme das Mädchen, und ihr ohnehin verdrossenes Gesicht ward zornig.

»Warum denn?« entgegnete nichtsahnend Kathe.

»Weil's a Wechselbalg is«, sagte das Mannweib und warf einen richtenden Blick auf die Kranke, weil sie noch in dem Aberglauben befangen war, so ein Kind sei die Strafe für verborgene Sünden. Sie wußte nichts von den durchwachten Nächten, den Seelenschmerzen und den endlosen Demütigungen, mit denen Marie um ihr »einziges Glück« gedient hatte.

Kathe saß auf der Ofenbank und schluchzte fassungslos in die Schürze.

Draußen füllte sich der Hof mit Neugierigen, meistens Männer, die umherstanden, heftig gestikulierend einander in die Ohren redeten, wie zufällig an die Fenster traten, mit scheuer Neugier in die Stube zu sehen, vigilierend über das Höfchen sich zerstreuten, um dann wieder angestrengt und gründlich in den offenen Brunnen zu starren. Die Ankunft des Wachtmeisters Stief schnürte sie in eine Reihe. Er sprengte in höchster Aufregung auf den Hof, stieg rasch vom Pferde, warf einem Diensteifrigen die Zügel zu, trat an den Brunnen, sah lange und mit Kennermiene hinein und kraute sich überlegend hinter dem Ohr. Nach kurzem Anschauen riß er das Taschenbuch unter dem Rock hervor, schrieb irgend etwas hinein und erschien dann sporenklirrend in der Stube.

Die Hebamme hatte sich in die Schlafkammer geflüchtet und die Tür hinter sich verschlossen, so daß Kathe dem Eifrigen standhalten mußte.

Seine Fragen prasselten auf das furchtsame Mädchen nieder, als würfe er ihr Sand ins Gesicht. Sie wurde so verwirrt, daß sie über die einfachsten Dinge nicht Bescheid wußte. Unter größter Mühe ging ihm die Tatsache auf, daß der Lahme heute morgen um sieben Uhr sich in der Richtung nach Landeck entfernt habe, um dort wahrscheinlich Geld auf der Sparkasse zu erheben. Mit mißvergnügtem Knurren über das dickfellige Bauernpack stand er endlich auf.

»Wie heißen Sie?«

»Katharina Exner.«

»Beschwindeln Sie mich nich, sonst loch' ich Sie auf der Stelle ein.«

»Katharina Exner aus'm Fuchsloche.«

»Ich denk', Sie sind dahier?«

»Nee.«

»Nu verdammt, das Weib wohnt doch beim Manne.«

»Ich bin nich verheirat.«

»Was, Sie wollen leugnen, daß Sie verheirat sind?«

»Herr Wachmeester, ich bin doch de Schwester vo dem.«

»Was denn, vo dem'?«

Sie brach in Weinen aus und schluchzte endlich:

»Ich kann doch nich drfür, wenn mei Bruder aso is.«

»Ach so, Sie, hm, hm, na das konnten Sie doch gleich sagen. Rein vernagelt! Lassen Se's gut sein, den kriegen mr schon.«

Klirrend war er draußen. Der Schnee stob unter den Hufen des Gaules. Weg war er.

Nach einer halben Stunde trat er wieder mit dem Amtsvorsteher in die Stube. Mit »Jawohl, Herr Amtsvorsteher«, »Gewiß, Herr Hoffmann« stand er stramm, stampfte auf und zu, schrie in den Hof und gab dann wieder lange Berichte über sein planvolles Ermittlungsverfahren.

In dieser Unruhe schritt das Protokoll des Amtssekretärs Dorn langsam vorwärts.

»Wissen Sie was, Stief«, mit diesen Worten unterbrach sich der Amtsvorsteher, hob den Kopf und lächelte milde, wie es seine Gewohnheit war.

»Jawohl, Herr Amtsvorsteher.«

»Ja«, Herr Hoffmann strich sich gedankenvoll den schwarzen Schnurrbart.

»Was befehlen der Herr Major?«

»Die Hauptsache ist doch, daß wir ... treten Sie mal ab – wie heißen Sie doch ...«

»Katharina Exner«, knurrte Dorn.

»Richtig, also, ja. Freilich. Sie mein' ich! Rausgehn sollen Sie! Herrgott noch mal!«

Kathe verließ wie betäubt die Stube, stolperte über die Treppe hinauf und sank in der Sommerstube an den Fenstern auf die Knie. Durch die Decke hörte sie das Gespräch der Männer wie das Brummen einer fernen Dreschmaschine. Dann brach es ab. Sie erhob sich und lehnte die Stirn an die Scheiben. Da stob Stief wie ein Wirbel über den Schnee. Fortgeblasen verschwand er hinter einer Mauer. Einigemal blitzte noch sein Helm auf. Dann rieselte wieder nur der Schnee vor dem regungslosen Walde.

Dorns Stimme rief sie nach unten. Das Verhör nahm seinen Fortgang. Endlich war alles aufgeschrieben. Der Amtsvorsteher erhob sich und schüttelte mit beiden Händen die Kopfschuppen von seinem Rockkragen. Dorn klemmte den Aktendeckel unter den Arm. Beide sahen sich noch einmal mißtrauisch in der Stube um und gingen, ohne die Tür ganz hinter sich zu schließen.

Nun waren die Neugierigen auf dem Hofe wieder unter sich und bestürmten den alten Freiwald, dessen Zeugnis bei der Vernehmung eine große Bedeutung gehabt hatte, mit Fragen.

Kathe saß auf der Ofenbank und starrte auf ihre gefalteten Hände.

Die Hebamme wagte sich auch wieder aus der Schlafkammer und ließ sich ihr gegenüber auf der Bank nieder.

Draußen wurde das Gespräch der Gaffer erregt.

»Kee Wasser?« fragte einer schrill.

»Was ich dr sage«, antwortete ein standhafter Baß.

»Freiwald hat'n gegraben, der muß ja wissen«, rief der Zweifler streitlustig. »Wie is, Freiwald?«

»Siehch meine Hand«, erklärte der alte Brunnenbauer, »so trocken is er, kee Schluck Wasser. Een Haufen Steene, sonst nischt.«

»Das gleeb' ich nich, ich ha doch selber 'nen Born.«

»Na da hör' och«, unterbrach ihn Freiwald, »freilich halt's Wasser, gutes, süßes, Lebenswasser. Etze aber is euch ratzekahl weg. Denn wo a so was geschieht, da verliert sich's Wasser of der Stelle. Das liegt ei seim Geiste, weil's bloß fürs Lebendige is. Denn seht och, ihr Männer, das Wasser hat sei Gemitte wie's Feuer! Ich geh hem; mir is eigentlich nich gut.«

Er klopfte ans Fenster, nickte freundlich herein und schritt davon.

Langsam verloren sich alle vom Höfchen.

Der Wachtmeister Stief hatte Glück. Auf dem Laudecker Ring, noch neben dem Eingang zum Rathaus stehend, verhaftete er den Lahmen, der eben im Begriff war, über die Grenze zu entfliehen. Ohne Widerstreben ließ sich Exner die Handschellen anlegen und humpelte vor dem Gendarmen her ins Gefängnis.


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