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9

Marie war milder geworden, seit sie sich mit dem Lahmen versprochen hatte.

Ihr Kampf gegen das Schicksal war kurz gewesen, mehr einem wahnwitzigen Gewaltakt gleichend, besinnungslos, unfaßbar. Ebenso jäh hatte sie die Entscheidung herbeigeführt, die sie Gott abgetrotzt hatte.

Nun hatte er ihr den Frieden der Niederlage gegeben. Das Herz lag willenlos wie ein gefesselter Sklave in ihr und ertrug die Veränderung mit regungsloser Resignation. Wie ein gespenstisches Luftgebilde sah sie das veränderte Leben um sich. Alle Morgen stieg sie hinein wie in einen Spuk. Schweigsam wie sonst verrichtete sie die Arbeit, allein ihr Fleiß war entweder müde oder leidenschaftlich wie ein Delirium und fand plötzlich in einer Art Erstarrung ein Ende, aus der sie sich nur mit größter Anstrengung, jähzornig, aufreißen konnte.

Einst bemerkte das die mitarbeitende Magd und sprach: »Marie, wenn du deinen Mann aso ansiehst, da wird'm, denk' ich, der Krön vergehn.«

»Mann?« fragte sie messerscharf, »hm, Mann ... du, du ...«

Sie verschluckte ein Schimpfwort, und ihr Auge flimmerte in Grimm. Bald aber setzte sie müde lächelnd hinzu:

»Ach, aso meenst es? Nu nee, Exner is gar ein Guder. Was denkst dr denn vo mir! Sonst hätt' ich mir'n doch wohl nich genommen.«

Dabei erbleichte sie und bückte sich schleunig auf ihre Arbeit nieder. Obwohl sie schwer an ihrem Schicksal trug, so hatte sie doch die Kargheit starker Naturen, das Unglück möglichst vor sich zu verheimlichen, den Stolz, jeden Mitwisser abzuweisen, und das Verhältnis zum Lahmen nicht als eine Folge überstürzter, brutaler Fügungen, sondern als eine Wahl freier Sympathie hinzustellen.

Das ward ihr besonders schwer gegen den Schuster, dem sie jetzt merkwürdig oft begegnete. Er schien in diesem Herbst besonders gute Geschäfte zu machen, denn bald lief er mit Sohlenleder, das in ein buntes Taschentuch gewickelt war, bald mit einem Paar angerichteter Stiefel auf den Wegen dahin, und immer erspähte er ihr rotes Kopftuch auf dem Felde, schrie ihr einen scherzhaften Gruß aus der Ferne zu, um dann herbeizuschlendern, sich im Graben niederzulassen und mit ihr zu plaudern. Er half ihr das gesichelte Gras auf die Schultern heben oder entriß ihr den Karren.

Obwohl sie ihn nicht im Zweifel ließ, daß ihr das nicht angenehm sei, drängte er seine Hilfe immer wieder auf und redete rastlos auf sie ein. Am liebsten sprach er von dem Cäciliaball, wie er da mit ihr getanzt, daß alles auf die Bänke gestiegen sei, wie er den Grauen zu Tode geärgert und sie es ihm nur zu danken habe, daß der Klumpen Courage bekommen habe. Er nannte diesen »seinen lieben, eenzigen Freund« und erzählte mit Behagen Züge seiner Tölpelhaftigkeit, Härte und seines lächerlichen Mißtrauens, daß die andern Mägde »vor Lachen ganz unsinnig« wurden.

Dann aber entrüstete er sich über »die Gänse«, die ja nicht glauben sollten, er wolle sich lustig über ihn machen, »denn so een Kerle, wie der is, hat's weit und breit nich ei der Grafschaft«. Er sah Marie leiden und lachte bleich und qualvoll mit einer Freude, die etwas Grinsendes hatte. Seine Augen glommen, und wenn er ihr die Hand zum Abschied reichte, war sie welk, kalt und zitterte. Sie bekam jedesmal Beklemmungen, wenn sie den Schuster sah; aber trotz der Schmerzen, die es ihr verursachte, wenn er den Lahmen liebevoll bloßstellte, empfand sie bei dem verdeckten Schimpf gegen Exner doch eine Art Genugtuung, eine geheime Rache an ihrem Schicksal.

Das mochte der Schuster instinktiv fühlen, und sein »Schabernack« wird immer offener, seine Besuche häufiger, sein Lächeln trunken, und oft ohne Veranlassung nahm er sie an den Armen und drückte sie leidenschaftlich.

Endlich erkannte Marie, wohin das alles zielte, und wies ihm den Weg.

»Du bist besoffen, Guste!« redete sie eines Tages kalt zwischen seine Spaße.

»I hab' seit eener Woche noch keen gerochen, Marie. Überhaupt der Schnaps!« antwortete er in Bestürzung über ihr unbeweglich bitteres Gesicht.

»Nee, nee, das meen ich au nie. Wo sollst du au a Schnaps hernehmen. Das Gebasiel an den Krappen langt doch kaum of trocknes Brot. Nee, ich ha gehärt, wenn sich a Schuster besaufen will, da riecht er ei den Kleistertopp. Das bringt ihn drnach vierzehn Tage um den Verstand und is billig.«

Sie war blaß und sah Klose verächtlich von oben bis unten an.

»Du willst mich höhnern, weil ich arm bin?« fragte er traurig und sprang im Graben auf.

»Freilich will ich das!« erwiderte sie noch schneidender. »Sitzt er in allen Graben mit geflickten Hosen rum!«

Mit diesem Ausruf wandte sie sich an die Mägde, die von der Arbeit aufgestanden waren.

»Marie!!!« schrie der Schuster dazwischen, und Tränen rollten über seine Wangen. Als er fühlte, daß er weine, bückte er sich tief und kratzte sich aufs Geratewohl an seinen Hosen. Da er sich wieder erhob und, das Bündel fester unter den Arm drückend, sich zum Gehen anschickte, sah man es in seiner Brust stoßen, seine Wangen waren eingefallen und fahl. Plötzlich drehte er sich um und schüttelte eine Weile seine Faust in die Höhe nach Marie zu und machte Anstrengungen, zu sprechen. Lange brachten seine Lippen nichts als ein Blasen hervor. Endlich sagte er tonlos, stockend, ganz leise: »Ich bin ein unglücklicher Mensch!«

Sein Gesicht aber sah aus, als schreie er aus Leibeskräften.

Die Mägde lachten aus vollem Halse.

Marie rief: »Hops, Schuster meck, meck!«, als er in fluchtartiger Eile den Weg hinlief.

Weil die Worte des Bedauernswerten wie ein Stich in ihre Brust gefahren waren, gerade deswegen schrie sie ihm in übermütigem Hohne nach. Bald aber verfiel sie in Schweigen, die albernen Spaße der Mägde über Klose wurden ihr zuwider, unauffällig arbeitete sie sich abseits und hing einer Niedergeschlagenheit nach, die sie nicht verstand.

In derselben Nacht erwachte sie und hörte plötzlich die gepreßte Stimme des Schusters durch die finstere Stille reden. Voll unbegreiflicher Trauer begann sie verhalten zu weinen.

Von dem folgenden Morgen ab ward sie den Vorsatz, den Beleidigten zu versöhnen, lange nicht los. Aber ob sie auch unauffällig ausschaute, diesen und jenen nach ihm fragte: er schien verschwunden. Niemand wollte ihm begegnet sein; nur so viel erfuhr sie, daß das Licht in seiner Hütte wieder alle Nächte bis an den Morgen brenne, und die ganze Zeit gehe er auf und nieder, von Wand zu Wand, und lache plötzlich laut auf. Sie ward immer mißmutiger und von jeder Kleinigkeit verstimmt.

Selbst gegen Wende empfand sie geheime Feindseligkeit, denn im Vorübergehen neckte er sie mit dem Lahmen, wegen der Blässe ihres Gesichtes oder als zukünftige Bäuerin, und immer glaubte sie auf seinem papierweißen, krankhaften Gesicht einen hämischen Zug zu bemerken. Einmal konnte sie nicht an sich halten und gab ihm eine spitze Antwort. Daraufhin blickte sie der Großbauer eine Weile erstaunt an, und dann meinte er gedehnt: Marie habe wohl auch schon abgefärbt. Aber er sei nicht sein Vater und werde wissen, die Hand auf seinem Acker zu halten. Er spielte auf den notgedrungenen Verkauf jenes Teiles seines Gutes an, der Exners Wirtschaft ausmachte.

Ein andermal sagte er scherzweise, sie werde sich künftig von der Laus auf seinem Leibe nähren, und deutete damit an, wie unbequem ihm des Lahmen Anwesen mitten in seinem Eigentum sei.

Wende fand in der Ehe, die die Folge eines Fehltrittes war, keinen Frieden. Deswegen rächte er sich an seinem Schicksal durch Nörgeleien und Reibereien, die er leidenschaftlich gern suchte und, wo es ging, zu Prozessen ausbaute.

Marie heischte von dem Lahmen keine Aufklärung über die vieldeutigen Worte des Freirichters, sondern behielt sie bei sich. Denn ihre letzte Rettung vor dem Klumpen war die Geheimhaltung ihres Innern. Aber obwohl sie so seelisch geschieden von ihm lebte und auch ferner leben wollte, konnte sie eine Verschiebung in ihrer Brust nicht hindern, vermöge deren sie sein Wohlergehen und das ihre gleichsetzte. Auch aus diesem Grunde sprach sie ihrem Verlobten gegenüber nicht von den Sticheleien Wendes.

Und jedesmal, wenn der Instinkt weiblicher Klugheit sie dazu verleitet hatte, war es ihr, als habe sie sich selbst mit einem neuen Band an ihn geschnürt. Der Spuk dieses unnatürlichen Verhältnisses entsog ihrem Leben immer mehr Blut und ward von Tag zu Tag greifbarere Wirklichkeit, als wuchere aus dem tiefen Spalt ihres verwundeten Daseins ein geiler Schwamm.

Dann half ihr auch die leidenschaftliche Störrigkeit bei den seltenen Zusammenkünften mit dem Lahmen nichts. Sie plagte ihn mit Grobheit, Sticheleien und Verspottungen und wartete mit bebender Sucht auf einen Ausbruch seiner Wildheit. Sie reizte ihn zum Stoß, von dem sie mit verheimlichter Hoffnung eine Erlösung erwartete. Aber kaum wankten die Augäpfel dieses ungefügen Mannes bei den Worten ihrer bitteren Härte, kaum kam ein Lächeln um seine Lippen auf, er sah sie nur von der Seite an, hielt eine Weile im Sprechen inne und leitete dann mit einem gleichgültigen: »Nu ja, ja!« die Unterhaltung wieder weiter.

So ward sie an ihm irr, und es gab Momente, in denen sie den Lahmen, entgegen dem Mund aller Leute, für einen starken und stillen Menschen hielt, den nur die unverschuldete Verstümmelung zu einem Sonderling gemacht habe. Wohl hatte er an dem Cäciliaball eine Probe seiner bestialischen Wildheit gegeben, aber das war doch nur um ihretwillen geschehen.

Diese freundlichen Gedanken vergingen jedoch immer sehr schnell und langten meistens gerade für eine gütige Antwort. Jedesmal aber fühlte sie, wie dem Lahmen davon das Herz aufging und seine Seele sich in plumper Zärtlichkeit in ihr Leben zu drangen suchte.

An einem Tage, es war unter dem Schuppen, wo sie auf einem Hackklotz saß und Rüben zerschnitt, die sie in den vor ihr stehenden Spreukorb fallen ließ: Frau Wende schritt über den Hof her an ihr vorüber, die blaue Schürze mit beiden Enden herausgesteckt, und nickte ihr freundlich zu.

»Ich wer a mal sehn, ob de Hühner noch nie aufs Legen vergessen haben«, sprach sie und lächelte ihr eigentümliches Lächeln, wobei ihr mageres Gesicht unter tausend Falten einsank, die lange Nase und das große Kinn noch mehr hervortraten und sich gegeneinanderschoben.

Marie holte eilig die kleine Leiter, lehnte sie an den Hühnerstall und faßte der Sicherheit halber einen Leiterbaum. Dabei sah sie die Herrin an, als wolle sie sagen: Nun können Sie ohne Sorge sein.

Frau Wende lüftete den Rock und setzte den rechten Fuß auf die ersten Sprossen, indem sie liebevoll dankte: »Du bist halt doch ein gutes Mädel!«

Plötzlich sanken Marie die Hände schlaff über die Hüften, und mit gramvoller Stimme sagte sie: »Frau, ich erstick!«

Da zog die Herrin ihren erhobenen Fuß wieder zurück und drehte sich lachend um.

»Na ja, das Brautfieber! Wo war' och eene, die vor ihrem Ehrentage nich weinte!«

»Frau, könn' Se mich leiden? Ich weeß wohl, daß ich miseldrähtig geworn bin, schon lange; aber hab' ich Se geärgert?«

»Aber tummes Ding! Ganz und gar nich!«

»Da weeß ich nie, wie ich das verdient hab', das: Ehrentage!...«

»Du bist halt jung und tumm.«

»Jung und tumm, alt und klug! – wenn mich dr Gedanke an de Klugheet schon aso elende macht, da wunder ich bloß, warum nich jeder Weißköpfige ein Verrückter is.«

»Mädel, du bist vernarrt in deinen Kummer.«

»'s kann wohl sein; weil mei Kummer mei Leben is.«

»Hör och!«

»Frau, wie gern hör ich. Aber reden Se was Lebendiges, nie wie de andern alle, die bloß de Zunge rühren.«

»Mei liebes Kind, ein reenes Glücke ist selten wie ne weiße Kuhe. Und denk och immer an eens: Der Herrgott betrügt sogar een Lumps seltner wie ein Bruder den andern. Und deine Seele is wie ein Sonntagskleed.«

»Ja, sei Bruder, aber ein Fremder!« entgegnete Marie, die den Sinn der seltsam verschnörkelten Weisheit ihrer Herrin nicht erfaßt hatte. »Ein Fremder? Is dir Exner ein Fremder? Marie, dann sag ich dir bloß was, geh und gib ihm das Wort zurücke ei seine Hand. Jetzunder is noch Zeit, dann is zu spät. Und was das is: zu spät, mei herze Marie, da kann ich och sagen, behüt dich Gott vor dem Schrecklichen.«

Frau Wende hielt inne, und ihr Atmen war schnell und kurz wie das der Kinder, die durch ein Finsteres gehen.

Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme trocken, abgehetzt. »Freilich, mit den versprochen Gewesenen ist's so eene Sache, 's is mit ihn wie mit der Henne, die auf'm obersten Sprossen steht. Will se weiter, da kann se bloß eis Nest, oder se muß a Stickel runtersteigen. Mach's, wie de willst, wirst'r gut betten, wirst du gut liegen. Aber laß das Gesinne sein. Mei Liebe, das Schicksal is uns auf den Leib gemessen. Was über uns nausgeht, macht bloß unzufrieden; aber 's hilft nischt.«

Dann stieg sie die Leiter hinauf und verschwand gebückt im Hühnerstall. Marie hob sich den Korb auf den Rücken und trug ihn ins Haus.

Lange, Tage und Nächte und wieder Tage und Nächte, versank ihre Seele in die Weisheit der Frau Wende. Es ward erst grau um sie, voll Nebel, und wenn in ihrer Erinnerung die Stimme der geprüften Herrin nicht gar so leibhaftig aufgeklungen wäre, so hätte Marie wohl glauben müssen, es sei alles ein unbegreiflicher Traum geworden. Wirr und doch eine unfaßbare Sicherheit stand es um sie. Es war, als schlafe ihre alte Seele langsam ein, und die alte Hoffnung verschwand mit ihr dahin, die brennenden Gedanken an ein herrisches Leben, an Fülle und Reichtum auf einem weiten Hofe neben einem schmucken Bauer. Aber merkwürdig, als diese süßen Stimmen nicht mehr um sie erklangen, ward sie von keinem peinigenden Schmerz heimgesucht. Kaum schauerte sie zusammen. Wie erlöst kam sie sich vor, denn nichts stand mehr hinter ihr und peitschte die Verirrte in solch unwürdige Ecken wie in der letzten Zeit. Die Bitterkeit fiel gemach von ihr. Ein weißes, stilles Licht ging aus ihrem Auge, die Nüchternheit ihrer Betrachtung tat ihr unendlich wohl nach der verzerrten Hitze.

Sie sah alle Menschen sich mühen, alle gebückt unter Lasten, in Armut und Qual oder in Wohlleben und Gram. Ihre Herrin mit dem zerbrochenen Leben war emsig, lachte, gebar Kinder und liebte sie, trug ein schweres Los und starb nicht. Und wenn sie hinging, die hohe, schmale Gestalt, mit dem blassen, gefalteten Gesicht und den stillen, weichen Augen, deren langsamer Ernst so seltsam mit der Hurtigkeit des ganzen Gebarens kontrastierte, dann hatte Marie oft das Gefühl, als siehe diese Frau in einem unsichtbaren Lichte, und es kam ihr das erstemal die Möglichkeit eines tiefen Segens bei verfehltem Leben. Diese Ahnung einer unerbittlich ausgleichenden Macht hinter der Stückhaftigkeit alles Daseins leitete sie zu der Erkenntnis zurück, daß doch Gott ihr Leben zu seiner Angelegenheit gemacht habe.

Da lag sie eine ganze Nacht in einer schmerzvollen Wollust, sie hatte seltsame Gesichte, und als sie am Morgen erwachte, lächelte sie in ruhiger Erfülltheit.

Ohne Sorgen begab sie sich an ihre Arbeit. Wohl stieg ein Bangen in ihr auf, was werden solle, wenn ihr Vertrauen sich nicht erfülle. Aber sie erinnerte sich an Gottes große Liebe und Macht und legte den Zweifel zu der unnützen Qual ihres beendeten Kampfes. Mit stetem Schritt und sicherem Auge ging sie und »folgte ihm nach«. Trotzdem trug sie die große Einsamkeit mit Gott verschlossen in ihrem Herzen, das sie auch nach der tiefgehenden Wandlung dem Lahmen nicht öffnete.

Sie schritt jetzt nur ruhiger neben ihm her, wenn sie sich trafen, und nahm alle seine Worte ernst und freundlich hin. Und sah er sie erstaunt von der Seite an, dann antwortete sie mit stillem Lächeln.

Obwohl er sich dieser Veränderung freute, so fühlte er doch eine Gedrücktheit ihr gegenüber. Durch die Härte war sie seinem gewaltsamen Wesen verständlicher, näher gewesen; die geduldige Milde machte sie ihm unbegreiflich.

Aber wenn er sie anblickte, erstarkte doch seine rauhe Seele. Denn dieses in sich verschlagene Mädchen, blasser und seiner als sonst, lockte mit ihren tiefen, stillen Augen gegen seinen Willen Worte aus seinem Munde, die er noch niemand gestanden hatte als der eigenen heimlichsten Stunde. Ihre ungewöhnliche Schönheit riß ihn über das Maß seiner Vorsätze hinaus, daß er ohne Scheu vor ihren Augen die Balken seiner gewalttätigen Pläne auseinanderfügte.

Immer nahm er sich vor, nicht zu sprechen; immer unterlag er, und nie genoß er die Sicherheit des Mitteilsamen, wenn er wieder von seiner Zukunft geredet hatte, denn nie gelang es ihm, die Glut in ihren Augen zu entzünden, die seine Seele erfüllte. Ein bitteres Lächeln, ein verlorenes Starren ins Weite, ein duldsamer Laut war alles, womit sie die Gebrochenheit an dem verriet, was der Lahme ersehnte.

Aber einmal wurden ihr des Klumpen Machtgelüste unerträglich.

»Karle, was willste denn?« fragte sie schneidend, »is draußen drinne?«

»Was denn drinne?« erwiderte er in leidenschaftlicher Roheit. »Freilich drinne! Alles will ich drinne haben. Achte müssen a mal of meiner Tenne dreschen; ein Hof wie der Freirichter; Kühe, Reihe um Reihe; Pferde wie de Bohlen, ich wer's euch schon... Das alles is ehe noch draußen; aber es soll mir drinne sein, da verlaß dich of mich.«

»Das denkste! Wer macht denn alles, he?«

»Ich, wer soll's denn machen?«

Das redeten sie im Anfange des Dezember, eines Sonntagnachmittags, miteinander, während sie auf einem einsamen Feldwege vor dem Wald des Rollenberges hin und her gingen. Es war trübe und feucht, ohne Schnee. Ein blasser Nebel stieg aus fernen Flußtälern und schwebte in der Höhe dahin. Hin und wieder, ganz in der Weite, tauchte das Schneegebirge auf, nur wie hingehaucht in ein milchweißes Licht, als dämmerten die Gestade jenes trostlosen Landes herüber, in dem nach katholischem Glauben die armen Seelen auf ihre Seligkeit warten müssen.

Marie blickte hinaus mit Augen, wie ein Mensch wohl sieht, der mit dem Stock Hieroglyphen in den Sand schreibt, die niemand deuten kann, kaum sein eigenes gefangenes Leben.

»Siehst du den Kirchturm da drüben?« fragte sie wie im Traum.

»Nee!« antwortete er mit absichtlicher Plumpheit.

»...und Bardorf dorte und Wirrwitz mit dem weißen Schlosse und Leschkowitz mit der Kirche und dem Pfar... weeßte, Leschkowitz?«

»Ach Marie«, antwortete er nach langem Hinsehn, »laß dich – Ja, das siehste? – Laß dich nich auslachen, das is doch nischt wie Gewölke.«

»Und doch is alles da, das große Bauern-Bardorf und Herrn-Wirrwitz und Leschkowitz mitsamt dem scheen Pfarr. Verstehste das? – Gefressen hab' ich das alles in mir und wieder ausgebrochen ein mich. Deswegen is bei mir drinne, aber wie ein Traum, der nie, nie war – weil – er war. Red' nie mehr davon, Karle, red' nie mehr von dem wie vorhin und ofte! Wir wern uns zwee Kühe kaufen und Schweine, meinetwegen auch een Ochsen, und halten, was wir haben. Das is alles. Nee, nee!«

Sie bewegte den Kopf, als schüttle sie endgültig etwas ab. Trotz der müden Worte trug ihr Gesicht den Ausdruck sicherer Überlegenheit. Sie ging aufrechter als sonst weiter und achtete lange des Klumpen nicht, der mit schwelender Seele neben ihr holperte, sie von Zeit zu Zeit verstohlen ansah und immer bitter in sich hineinredete: »Herrsche Prise, wart och!«

Endlich wandte das Mädchen das Auge auf ihn und sah, daß er ein bleiches, verwittertes Gesicht habe, gleich einem verwaschenen Stein. Sie hatten sich im Gehen gewendet, und Steindorf lag vor ihrer Stirn drunten in seiner flachen Mulde und blies aus kleinen Essen blasse Rauchfäden in das leere Geäst der Obstbäume.

»Ja, dort is 's Fuchsloch?« fragte Marie, um das peinliche Schweigen zu brechen, und wies nach rechts. Der Klumpen nickte schweigend. »Aber ma sieht ja 's Höfel nie?«

»Weil dr Hübel drfür is und de Bäume«, erwiderte er endlich dumpf.

»Ich dächte«, sagte Marie nach einigem Sinnen, »es war' Zeit, daß ich a mal dein Bruder und de Schwester kenn'lernte.«

»Ja...ch!« Der Klumpen riß den Kopf herum und sah sie betroffen an.

»Sefflan und die Kathe – die beeden?... hm.«

»Is dir das etwan nie recht?« fragte Marie, die nichts von der Feindschaft gegen die Geschwister wußte.

»Nee, nee!« erwiderte er unter höhnischem Lachen, »nachdem ich das vo dir gehört hab', is freilich auch dazu Zeit ... setze...«

Plötzlich begann der Lahme zu laufen, daß die Steine unter seinem Klumpfuß flogen. An einer Wegscheide wartete er auf sie.

Sein Gesicht war gespannt und bebte von verhaltenem Zucken.

»Na«, fragte die Herangekommene, »was hat's denn?«

Er sah eine Weile über ihren Scheitel ins Leere. Der Ausdruck seiner Miene war schmerzvoll. »Marie«, bat er stotternd, »... siehch och ... du weeßt gar nich, was die ... wenn ich...« Dann stockten seine Worte.

Unter leidenschaftlichen Atemzügen wartete er eine Weile und lief unvermutet wieder davon, einen tief eingefahrenen Weg zwischen hohen Mauern, dann die saure Wiese querend, und Marie folgte ihm, langsam und ruhig. An dem kleinen Hügel, der das Fuchsloch von Steindorf scheidet, an der Kreuzung der schnürschmalen Steige, hielt er wieder, und als das Mädchen vor ihm stand, sagte er nach einigen kämpfenden Atemzügen mit mühsamer Beherrschung: »Da sein mr nu! Siehch, Marie, das is der Weg eis Dorf, und da geht's nuf zu den beeden. Dorte bin ich, und dorte bin ich nich! – Jetze mach's, wie de willst.«

Ohne zu antworten, schritt sie an ihm vorüber, dem kleinen Gehöft zu. Sprachlos vor Staunen sah ihr der Klumpen einen Augenblick nach. Dann schrie er: »Marie!« Es klang wie der Ruf des Brunsthirsches, den ein Stärkerer vom Mutterwild abgeschlagen hat.

Das Mädchen wandte sich um und sagte mit Überwindung: »Nu ha ich das Gemäre satt. Was soll denn das sein?! Jetze komm, oder ich geh of der Stelle heem, und dann...« Ohne Zögern, wie geknebelt, folgte ihr der Ungefüge.

Joseph und Kathe empfingen Marie mit der Gleichgültigkeit, in die Bauersleute ihre Unsicherheit zu kleiden gewohnt sind. Die einfache Freundlichkeit und natürliche Klugheit der zukünftigen Schwägerin verwandelte die abwartende Haltung der beiden guten Menschen schnell in offenes Vertrauen.

Man ging in dem Gebäude umher, durchschritt den Hof, musterte den Viehbestand und warf einen Blick in die gefüllte Scheuer. Überall bemerkte Marie, daß rüstige Hände in frohem Fleiß, Ordnung und Sauberkeit walteten, und hielt mit verständigem Lobe nicht zurück. Zuletzt saß man um den Tisch vor dem Kaffee und plauderte, als sei Marie nie eine Fremde gewesen.

Der Klumpen war einsilbig und verdrossen. In seinen Augen lag ein lauerndes Zwielicht, und hin und wieder entstellte ein hämischer Zug sein blasses Gesicht.

Als die Uhr auf neun rückte, erhob sich Marie zum Heimweg. Der Lahme folgte ihr mit der Schweigsamkeit eines mißtrauischen Wächters.

An der Hoftür fiel Kathe dem Mädchen um den Hals, küßte sie und sagte verschämt: »Marie, nimm mir's nich übel, ich bin dr manchmal gar ein böse Ding. Denk', ich dachte, du bist stolz, weil du a so schön bist. Aber nu seh ich, wie de Leute lügen. Nee, ich weeß nich, wie ich's Gott danken soll.«

In Liebe schieden die beiden, und Marie schritt in einer wohligen Luft hin, ihre Seele lag im Licht.

Plötzlich packte sie der Klumpen, dessen ungleiche Schritte immer hinter ihr gewesen waren, am Arm und riß sie herum. »Jetze sag's, ob de mir gut bist!« sprach er in kraftloser Wildheit und zitterte am ganzen Körper. Sein massiger Leib war ganz nahe an ihr. Das erstemal seit dem Unglück seiner Kindheit, das seinen Leib und sein Leben verstümmelt hatte, öffnete sich sein unterjochtes Herz und schrie nach Liebe, nach Zärtlichkeit und freundlicher Gemeinschaft. »Mariela, Mariela«, stammelte er, ohne zu wissen, was er sprach.

Eine Weile stand das Mädchen wie betäubt von der Sehnsucht seiner Seele. Dann sagte sie in kalter Trauer: »Du weeßt's ja, daß mir aneinandergeschmiedet sein.«

Damit streifte sie seine kalte Hand von ihrem Gelenk ab und ging mit kurzem Gruß von bannen.

Der Lahme stand noch lange wie ein Stein an demselben Fleck. Als sie, auf dem Rücken des Hügels angekommen, sich umwandte, sah sie ihn dem Walde zuschreiten.

Kurz vor Beginn der Fasten gingen die beiden fernen Menschen die Ehe miteinander ein. Es war eine geräuschlose Hochzeit.

Außer Joseph und Kathe nahmen nur einige Verwandte an dem gedruckten Fest teil. Der Schuster war ausgeblieben. Marie saß in dem schwarzen Seidenkleid hinterm Tisch, still wie immer. Der Lahme aß, als dürfe nichts übrigbleiben.

»Ein scheenes Wetter a unserm Ehrentage«, sagte er zwischen der unermüdlichen Kauarbeit zu ihr, »gell och, Marie! De Sonne finkelt, dr Weg eben, keen Schnee, de Luft ruh'g, ha?«

Da mußte sie alle Gewalt zusammennehmen, nicht in lautes Weinen auszubrechen.


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