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22

Wir können uns gegenseitig nicht helfen. Die natürlichste Bemühung um das Wohl anderer besteht in dem ehrlichen Streben nach dem Besten unseres Lebens.

Marie lag und schwieg. Niemand sagte sie von den Vorgängen in ihrer Seele. Auch Kathe berührte mit keinem Wort das Unglück des Hauses. Die Aussprache der beiden, die wie ausgeschlossen in der Waldeinsamkeit hausten, bestand in einem tiefen Blick, einer Gebärde, einem Kuß, einem Handdruck. Maries Genesung setzte unverkennbar ein, und auch Kathe sank tiefer in ihr Leben, als endlich die letzte grauenvolle Beängstigung von ihr genommen und der schwarze Sarg mit den leiblichen Überresten des Schusters aus dem Höfchen geholt worden war.

Es erfüllte sie Kraft und sogar eine Art frohen Mutes. Alle Geschäfte glitten ihr glatt durch die Hände, und wenn ihr Bruder Joseph kam, so spannen sich die Fäden geheimen Hoffens weiter. Der Gute traute sich nun schon vorsichtig auf den Zehen in die Stube, während er in den Tagen des schwersten Dranges nach einigen flüchtigen Worten in der Hausflur mit ermutigendem Handschlag von ihr gegangen war, den Weg um die Scheuer nehmend, damit das arme Weib bei seinem Anblick nicht an frühere, bessere Zeiten erinnert würde. Er sah wenigstens einmal in der Woche »zum Rechten«. Wenn die beiden Geschwister gründlich die Führung des Hauswesens beraten hatten, saßen sie eine Weile still beieinander, bis Joseph den Kopf hob und schalkhaft lächelnd schöne Grüße »vo eem justen Menschen« an Kathe ausrichtete, der ihm zufällig auf dem Wege begegnet sei. Einigemal hatte sich wirklich Schreiber Seffe, der Sohn des Nachbars, um Kathe erkundigt, und nun überbrachte der Gute auch unaufgetragene Botschaften, um seiner Schwester eine Freude zu machen in diesen trostlosen Wochen. In dem Geplänkel, das die Verschämtheit des Mädchens dann hervorbrachte, konnte er auch von der glücklichen Wendung seines langjährigen Liebeshandels sprechen. Er hatte nun doch den Mut gefunden, um das Rollinger Mädchen anzuhalten. Zwar bedrückte es ihn gar sehr, daß alles zu seinem Unglück ausschlagen könne, weil die Werbung auf den Tag der Auffindung des Schusters gefallen war, aber die zwei frommen Menschen beruhigten sich bald bei dem Gedanken an ihre Schuldlosigkeit und Gottes Gerechtigkeit. Wenn Joseph aber nach allem dennoch immer Zweifel an der Berechtigung zur Liebe inmitten eines so schweren Schicksals äußerte, so machte ihn Kathe darauf aufmerksam, daß beide diese Liebe nicht gesucht hätten, daß sie vielmehr als ein Fingerzeig gnadenreicher Fügung zu betrachten sei, bei der unglücklichen Schwägerin in Mitleid auszuharren, und so schieden sie allemal mit dem gegenseitigen Versprechen, alles der Vorsehung anheimzustellen und indessen nichts zu versäumen in Stall und Stube, in Scheune und Schuppen.

Ging Kathe nach dieser langen Abwesenheit zu Marie in die Schlafkammer, so sah die Kranke das Mädchen unter Kopfnicken mit einem bitteren Lächeln an, als wolle sie sagen: Ich nehme dir's nicht übel. Kein Drängen aber vermochte sie zu einer Erklärung dieses Gebarens zu bringen, sie bat nur, man möge doch ja die Tür offenlassen, damit sie ihr Kind mit den Augen besuchen könne.

Das hatte man in aller Stille taufen lassen, nachdem von der jungen Mutter durch List sein Name erkundet worden war. Die Hebamme hatte dazu geraten, weil zu erwarten stand, daß das heilige Sakrament der Taufe einen heilsamen Einfluß auf die Seele und das Leben des Kleinen ausüben würde.

Allein er blieb, auch nachdem er in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen war, so stumpfsinnig wie vorher. Meistens lag er mit geschlossenen Augen da. Auf kurze Augenblicke öffnete er die wulstigen Lider und blinzelte umher. Nach beendeter Mahlzeit schnurrte er vor Behagen wie ein Kater.

Durch nichts belohnte er Kathens sorgsame Pflege. Nein, er wurde immer häßlicher. Der moderweiße Flaum über dem ganzen Körper war dichter geworden. Sein Kopf bedeckte sich mit einem Haarbusch, dessen Strähnen über die Stirn hinwuchsen. Das Mädchen sah den Kobold oft furchtsam von der Seite an und dachte mit Schrecken des Augenblicks, da sie ihn in die Arme der Schwägerin würde legen müssen.

Unter allen nur erdenklichen Kniffen hielt sie Marie hin, deren mütterliches Verlangen mit der Zunahme der Kräfte immer hartnackiger wurde und durch allerhand kleine Listen sich den Anblick des Kindes zu verschaffen suchte. Als letzte Gründe, wenn der Vorrat der Ausflüchte erschöpft war, führte Kathe die Schwäche Maries und das ausdrückliche Verbot der Hebamme ins Treffen und erreichte damit immer die Beruhigung der Aufgeregten, die dann alle Stunden nach Nahrung verlangte, um sich schneller zu kräftigen und so die Tage der marternden Sehnsucht abzukürzen.

Man hatte in letzter Zeit das bevorstehende Weihnachtsfest als den Tag festgesetzt, an welchem Marie das erstemal aufstehn und zu dem Knaben geführt werden sollte. So war von nichts anderem als von der Feier dieses Heiligen Abends die Rede, wie man die Stube schmücken wolle, den Christbaum, das Kind, und ob der Kleine wohl schon nach den Lichtern sehen würde. Nach solchen Gesprächen lag dann die junge Mutter mit glückumwölkten, feuchten Augen, ihre Lippen redeten verzückte Worte, und die seligste Freude rötete ihre Wangen. Daneben hatte sie beunruhigende, schreckhafte Träume und verlangte nach dem Erwachen angstvoll den Knaben zu sehen. Versagte es ihr Kathe, so wich tiefe Trauer stundenlang nicht von ihr. Das Mädchen erkannte, daß sie nun nicht mehr lange widerstehen durfte, und machte ihr die Hoffnung, durch ein gutes Wort bei der Frau Klesse eine Abkürzung der Trennung um Tage zu erwirken.

Doch wir Menschen halten immer nur die Fäden in den Händen, das Schicksal aber webt, wie es will, und der Tag, an dem die sehnsüchtige Mutter zu ihrem Kinde hinlief, kam über die Schwelle, ohne daß Kathe ihn erkannte.

Sie stand am Bette Maries und nahm die geleerten Teller fort. Das junge Weib sank lächelnd zurück und begann von dem Knaben zu sprechen.

»Lacht er'n schon?« fragte sie.

»Nu, er fängt jetze an. Wenn ich'n streichel, da rafft er schon manchmal an den Lippen.«

»Wem is er'n ähnlich?«

»Das... du weeßt ja, das sieht ma bei dem Alter noch nich genug.«

»Aber die Augen.«

»Nee, ich sag nischte. Du wirst ja sehn.«

»Jetze! Du, allerliebste Kathe, tu mir den Gefallen!«

Das Mädchen schüttelte ernst den Kopf.

»Marie, blei liegen, 's sein doch bloß noch Stunden. Er leeft dr ja nich fort.«

Marie streifte die Decke von ihren Armen, die sich schon rundeten, und hob sie triumphierend in die Höh':

»Siehch och, nich aushalten! – Kathe!«

Dann faltete sie die Hände und sah sie mit Augen am, in denen man ihre kniende Seele schaute.

Das Mädchen stellte den Teller auf den Stuhl und beugte sich im Schmerz ihres Mitleids über die arme Mutter:

»Mariela, gell, wart och noch a bissel. Siehch och, de Klessen muß doch erscht kommen.«

Sie küßte sie, und wider Willen traten ihr Tränen in die Augen. Voll Sorge drückte sie ihr Gesicht seitwärts in die Kissen, um die Verräter des Elends zu verbergen. Aber wie ihre Stirn sich hinschob, mußte ein heißer Tropfen auf das Gesicht Maries gefallen sein. In hartem Stoß schob die beängstigte Mutter die Weinende von sich und sah ihr scharf ins Gesicht.

»Kathe... Kathe!... warum... warum flerrst du denn? fragte sie dann stockend, überlegte einen Augenblick und fuhr dann dumpf fort:

»Denkt ihr denn, ich seh' nich das und jes eim Tage und ei der Nacht Dinger, daß mir de Haare ge Berge gehn un mei Herze sich harte knüllt wie ein Steen! du! Hach! Wenn ich mein Gott nicht hätt', vo dem ich mehr weeß wie ihr alle... Kathe, sag du's ruhg, mir schadt nischt, mich hat mei lieber Herrgott richtig of d'r Hand.«

Kathe hatte schon die Tränen aus den Augen gerissen und lachte rührend:

»Mariela, da soll eem nich weech ums Herze wern, wenn eene Mutter a so um ihr Kind betteln muß. Siehch, wegen mir hättst's schon lange. Aber was tät's nutzen? 's wür dich packen, daß dich's mitnähm. Wer weeß denn? Nach, und was sollte denn das arme, liebe Jüngel ohne Mutter?«

Eine Weile lag Marie und sah mit großen, blicklosen Augen, indessen es an ihre Seele griff mit den tiefen, verschwommenen Lauten eines fernen, unruhigen Wassers.

Mit tiefem Atemzuge schüttelte sie es ab, streckte den Arm aus und preßte Kathes Hand mit innigem, dankbarem Drucke:

»Du hast recht, was wär' mei Jüngel ohne mich! Siehch, ich wer nischt nie meh sagen, 's wird wohl kommen. – Ach, und wenn ich gesund bin... 's wird alles wieder wern, denn siehch, dr Himmel is mei Zeuge, wenn's mir nachgegangen wär'... was red' ich denn? – Geh und sing' mr a Wiegenliedel: ›Heia popeia Windelkind‹ oder ›Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du‹. Du hast noch nich eemal gesungen.«

Kathe ging.

Bald darauf schwangen die Bogen der Wiege, man hatte den Knaben seit Tagen aus dem Korb genommen, knarrend über die Diele. Das Mädchen sang dazu leise, mit leidbebendem Munde. Der verhaltene Schmerz verlieh den Tönen eine ergreifende Tiefe. Endlich zerfloß das Lied in der Stille, und Kathe schlich leise in den Schuppen, um Holz zu holen. Das Einklinken der Tür störte Marie aus ihrer seligen Versunkenheit. Sie wandte den Kopf. Das Lied verstummt. Die Stube leer. Die Uhr pickte in die Stille: »Komm, komm, komm, komm.« Lockend wie ein silbernes Stimmchen.

Da übermannte sie die Sehnsucht nach ihrem Kinde. Der Wind mummelte im Schnee draußen dumpfe Drohungen. Aber Marie fühlte sich aufgehoben. Schon berührten ihre Füße den Boden. Ihre Augen maßen die Entfernung bis zur Wiege. Sie stand bebend am Ofen. Ein weißes Linnen lag über das schlafende Kind. Einen Augenblick dachte sie noch an Kathe, die durch ihren ungehorsam beleidigt sein werde.

Aber nur einen Blick darauf werfen! Nur einen einzigen Kuß! Und hob das Linnen. Schnell, schnell! Kathes Schritte!

Einen Kuß...

Sie erblickte den Wechselbalg, riß das Linnen in den Mund und brach stumm zusammen. –

Kathe fand einen Menschenleib neben der Wiege, starr, langhinliegend, auseinandergereckt von der Folter des Elends. Sie faßte Marie in den Achselhöhlen und schleifte sie über die Schwelle. Die Fersen schlugen wie totes Holz auf. Dann lag die Fühllose endlich auf ihrem Lager. Aber das Linnen ließ sie nicht los aus ihren kalten Fäusten, zwischen den zusammengebissenen Zähnen.

»Das wird dei Tod sein, armes Weib«, sprach Kathe tonlos.

In ihrer Hilflosigkeit kniete sie neben das Bett und betete.

Da schlug Marie die Augen auf, riß mit einem Ruck das Linnen aus dem Munde und starrte verständnislos darauf. Dann sah sie mit stierem Blick auf Kathe.

»Was soll nu das Beten, hahaha!!!«

Mit knirschend-wundem Lachen drehte sie sich von Kathe ab, schaute auf die weiße Wand und rührte sich nicht.

Schauernd ging Kathe hinaus und schloß in Furcht die Tür hinter sich.

Nach einigen Minuten hörte sie ihre Schwägerin wieder schreiend, leer und hart lachen. Das erschütternde Lachen der Verzweiflung.


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