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15

Sechs Wochen waren vergangen, die Kirmes von Alt-Walsdorf vorüber. Man befand sich im letzten Drittel des Oktober. Der Lahme hatte wieder einmal seinen guten Tag: er lehnte schon früh müßig am Brunnenhäuschen, nagte an der Unterlippe und kratzte mit dem Klumpfuß auf dem Bretterbelag. Es mochte gegen halb acht Uhr morgens sein, denn man hörte den Lärm der zur Schule gehenden Kinder von dem Kommunikationswege herüber und sich gegen den Erlengrund zu verlieren. Aus dem Walde stiegen Nebel und spannen sich in schwankenden Streifen zum Himmel auf, dessen schweres, einförmiges Gewölk sich immer mehr senkte, bis nur noch ein dünner Strich gelben Lichtes über der schwarzen Masse des Waldes lag. Bald war auch dieser spärliche Trost des Oktobertages verschwunden, und das Gewölk rann zur Erde wie trübes Spülwasser. Die Bäume auf dem Felde verschwanden, und die verborgene Sonne, die man zuletzt über dem Hedwigstein gesehen hatte, als gehe jemand mit einer Laterne die Berge hin, verbreitete eine bleiche Helle, gleich dem kümmerlichen Lichte einer Krankenstube. Der Lahme sah sein Haus undeutlicher werden, es war, als dringe aus allen Poren der Wände schwacher Rauch. Vor ihm und rechts der Wald des Freirichters: verschwommene, dunkle Wände.

Wenn das Scheunen wären, sann Exner, und Ställe und Schuppen, was für ein Hof das sein müßte! Oh, es ließe sich wohl etwas machen!

Nach einer Weile kam es ihm ein, das sei Tagedieberei, das Dastehen und Sehen, und er setzte sich langsam in Bewegung. Er ging an der Haustür vorüber, um im Schuppen Holz zu spalten. Da stand plötzlich der Schuster vor ihm wie aus dem Boden gewachsen.

»Na, läßt du dich wieder amal sehn! Wo kommste denn her?« fragte der Lahme erstaunt.

Klose senkte verlegen sein verschlafenes Gesicht, stotterte etwas und ging dann vorüber. Exner sah ihm hohnlachend nach, und weil in demselben Augenblick Marie auf der Türschwelle erschien, rief er spöttisch: »Siehch och, wir haben Besuch gekriegt.«

Der Trunkenbold lächelte das junge Weib an, trat an den Brunnen, pumpte sich Wasser in die hohle Hand und begann sich zu waschen, wobei er mächtig sprudelte und prustete. Exner war zu seinem Weibe getreten und fragte sie:

»Was will der Lumpen da?«

»Ich weeß nie.«

»Solche Bruder haben alle was an sich: die Kratze, Läuse oder so was.«

Marie bewegte die Achseln.

»Wo mag er denn geschlafen haben?« fuhr der Lahme fort zu reden. »Daß er mir aus'm Hause bleit; ich brauchte vrm Winter grade so een ...«

Er konnte nicht vollenden, denn aus dem Nebel auf das Niederstück zu erscholl vielstimmiges Geschrei:

»Gewonnen ... da is er ... haha! Fränzla, Hurra, Hurra!«

Mehr konnte man nicht verstehen. Zum Schluß wurde einigemal in die Hände geklatscht.

Der Schuster hatte beim Beginn des Lärmes seine Mütze vom Boden aufgehoben und schnell das Gesicht hineingetrocknet. Seine verwirrten, nassen Haare standen in Strähnen in die Höhe. So stand er da und horchte. Als alles still war, blickte er fragend zu den beiden zurück.

Exner rief ihm zu:

»Geh und siehch, was da für a Gepäcke is! Aber tu wie Tulpe. Ich schick dich nich.«

Der Angeredete gehorchte wortlos.

Marie nahm den Eimer, den sie niedergesetzt hatte, und ging in den Stall.

Um die Mundwinkel des Klumpen spielte ein böses Zucken, und gespannt horchte er hinaus.

Da hörte er übermütiges Lachen, woraus er schloß, daß der Schuster bei den Knechten angelangt sei.

Einen Augenblick glaubte er, sie machten sich über ihn lustig. »Ich wer's 'n anstreichen!« sprach er und stürmte einige Schritt vor.

An dem Brunnenhäuschen aber machte er halt und horchte wieder voll Erregung hin.

Auf einmal wich der Nebel zurück, und das Feld lag klar da. Der Schuster stand mit gesenktem Kopf vor den drei Knechten, die eifrig auf ihn einsprachen. Dann hoben sie den Kopf und sahen herüber. Sie mußten ihn erblickt haben, denn wie auf Kommando schrien alle:

»Haha, gefunden! Hurra!«

Exner fluchte knirschend und rührte sich nicht.

Als er den Kopf wieder etwas vorzubeugen wagte, sah er nichts mehr, denn der Nebel hatte alles verdeckt.

Dann kamen stolpernde Schritte.

Der Schuster stand vor ihm und sprach:

»Nuch, die wern gleich trinken, Schnaps, zwee Liter. Die Knechte han gewett'! Und Fränzla, dr Elfer, hat se verbüßt. Er wollt's nie glauben, aber's seinr da, zwee, ich hab' se gesehn.«

»Was denn?«

»Steene.«

»Steene?«

Der Lahme wiederholte es mit verhauchender Stimme.

Aber schnell besann er sich wieder und lachte verächtlich:

»Steene! Haha! Nu ja, Steene! Da brauchten se nich zwee Monden fahren. Obendruffe hat's genug.«

»Ach nu, Karl«, was ich dr sage, Grenzsteene!« entgegnete Klose. »Ich wer doch Grenzsteene kenn'; 's hat Kreuzla droffe, richtige Kreuzla.«

Einer trat dicht an den Säufer heran und sah drohend zu ihm nieder.

»Guste, geh nei ei die Stube, iß, trink und wärm dich. Aber das rat ich dir, das rat ich dir, verstehste mich? Se haben keene gefunden.«

Damit ließ er ihn stehen und ging ins Haus.

Der Schuster blieb zurück und sagte nach langem Sinnen leise vor sich hin:

»Nu, ja, ja. Aber mag's sein, 's hat 'r eigentlich doch.«

Rings begann das Geläut von Glocken. Das Gewirr von Kinderstimmen lief nicht allzu weit vorüber.

»'s is Mittag, de Kinder komm' aus dr Schule«, murmelte er dann, schüttelte sich vor innerm Frost und ging zögernd dem Lahmen nach. Er fand ihn hinter dem großen, weißen Ecktisch vor einer dampfenden Schüssel sitzen und mit dem Löffel klappern.

»Komm und setz dich«, sagte Exner und fuhr in seiner Beschäftigung fort.

»'s wird Schnee aus dem Nebel kommen.« Mit diesen schüchternen Worten nahm Klose Platz.

Der Lahme hob den Kopf. Aber der Blick seiner Augen war ausgelöscht, sein Gesicht blaß und leidend, von Zeit zu Zeit kam eine wilde Entschlossenheit darin auf und machte die groben Zuge kantig.

»Hat'n der Schenke den Rathmann-Rappen wirklich gekauft?« fragte er und starrte vor sich nieder.

»Ich weeß nich«, antwortete der Trinker und strich an seinem Schnurrbart. Der Lahme lachte böse auf.

Endlich hob er den Löffel auf und begann begierig zu suppen.

»Iß, Schuster! Franke bleit zeitlebens ein Esel«, sprach er zwischen dem Schlucken zu Klose, der mit abgewandtem Gesicht dasaß und nun trödelnd und widerwillig auch zulangte.

Der Lahme aber warf den Löffel wieder hin, klemmte die Hände zwischen die Knie und verfiel in Grübeleien.

Das folgende Gericht, gekochte Klöße in irgendeiner Soße, rührte er nicht an.

Als ihn sein Weib schüchtern aufforderte, doch einmal zu kosten, richtete er sich auf, sah an ihr vorbei und redete rauh zum Schuster hinüber: »Guste, iß dich satt, a so viel, wie de kannst. Drnach gehste ei a Schuppen und hackst Holz kleen.«

Der Angeredete nickte stumm, schluckte schnell alle dargereichte Speisen hinunter, dankte kaum hörbar und machte sich auf. An der Tür drehte er sich um und fragte:

»Aber, Marie, wenn ich dir noch soll was machen, da brauchst de's bloß zu sagen.«

»Nee, Schuster, nee, geh och.«

Nach einer Weile scholl träges Schlagen vom Schuppen her.

Der Lahme stand auf, ging erregt in der Stube auf und ab und warf verstohlene Blicke auf Marie.

Als sie mit dem Melkgerät das Zimmer verlassen hatte, blieb er stehen und horchte. Nun fiel die Klinke der Stalltür in die Haspe. Er wartete noch eine Weile, dann schlich er leise zur Tür hinaus, an der Wand hin, in den Schuppen.

Dort setzte er sich auf einen Holzklotz.

Der Schuster drehte sich um, schlug das Beil ins Scheit und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Willst mr helfen?« fragte er und ließ sich auf dem andern Holzklotz nieder.

Exner atmete tief.

»'s wird ein kalter Winter wern, Schuster«, sprach er nach einigem Sinnen und sah zum kleinen Türchen hinaus.

»Ja, ja, 's kann sein, a trockner, denn 's sackt nischt wie Nebel raus.«

»Wirste nich heemgehn?«

»Was sollte ich'n dorte!«

»Essen und schlafen.«

»Nu ja, satt essen, a warm Stübla han, derheeme sein... siehch och, das is etzunder fr mich noch nischte. Es is no nich reif fr mich. Ich ha etz noch anders zu tun.«

Dann trat langes Schweigen ein. Klose sah traurig vor sich nieder.

In des Lahmen Gesicht arbeitete es. Darauf begann er mit leiser Stimme:

»Möchst dr een andern Rock kaufen. De Hosen sein au zerlumpt. Aus a Stiefeln guckt 's Stroh.«

»Ja, woher nehmen un nich stehlen.«

»Ach, wer redt denn vo stehlen.«

»Oder rauben, derschlagen.«

»Das alls nich.«

Wieder trat eine Pause ein. Dann begann der Lahme abermals gedämpft:

»'s hat dich geforkelt, armer Kerle. Aber ich bin dei Freund.«

Plötzlich wurde er erregt.

»Bin ich ein schlechter Kerle, zahl ich nich meine Steuern, laß ich mei Weib hungern, ha ich nich Kühe wie de Bohlen... Schuster, bin ich nicht ordentlich, scharf un gerecht?!«

Er war unwillkürlich laut geworden.

Die Stalltür knarrte. Dann hörte man Schritte ans dem Hofe.

»Schuster, hack, schlag, hau zu!« eiferte er.

Dieser griff langsam nach dem Halme.

Aber die Tritte verloren sich im Hause.

Beide nahmen ihre vorherige Stellung wieder ein.

»Karla«, fragte der Schuster, als alles wieder still war, den Lahmen, »is denn a Weib nich wie ne Katze?«

»Da haste recht, wie ne Katze!« bekräftigte Exner, und in sein Gesicht gruben sich Falten einer bitteren Wut.

»Ich meen', ma muß scheen' tun mit'r, wenn se eem Freede machen soll«, verwies es ihm Klose, senkte aber sogleich unter dem bohrenden Blicke des Lahmen verwirrt seine Augen.

»Was willst'n du damit sagen, he?« fragte der Klumpen, und seine Stimme bebte in Zorn. »Kümmer ich mich etwa um deine Lumpenklaft oder dei Schwester, die Stoppelhengstpaule?«

Dann saß der Ungefüge lange unbeweglich, und seine Augen lagen brütend im Leeren.

Der Schuster hockte wie gezüchtigt auf seinem Platze.

Endlich sah er den Lahmen unterwürfig an.

Von diesem Blick ward die Stille zwischen den beiden leichter, und der Lahme nahm das Gespräch wieder flüsternd auf:

»Siehch, Guste, ich bin dei Freund, ein richtiger Kerle – isnich aso? Du mußte mit solchem Zeuge »ich noch of mich neistoßen, nee! Siehch, 's hat bei mr Platz, ich schmeiß dich nich naus, und wenn du den ganzen Winter nich fortgehst. Kriegst essen, zu trinken, ich ha noch a gut Röckla, 's hat au noch Hosen und Stiefel ... Du machst a paar Handgriffe ...«

Der Schuster wurde blasser, die Falten seines Büßergesichtes furchten sich einen Augenblick tiefer, dann bekam es den Schimmer von einer Seele, die ihre tiefste Sorge los wird.

»Karla«, stotterte er, »wenn's em Gott eim Himmel hat, der lohn' dir's. Vielleicht, wenn's Frühjahr is, bin ich alls wieder los und laß den Draht fliegen.«

»Nu aber sei vernünftig und verlaß dich nich wie ein Bock bloß of de Hörner. Verstehste, alls, was ich gesagt hab', bleit. Guste, war'n das Grenzsteene, die Freirichters Knechte gefunden han, war'n das Grenzsteene? Wenn du mich noch weiter ärgerst, ich weeß nich, was ich mache, ich erwürg' dich.«

Exners Stimme zitterte; er war aufgestanden und hatte sich dem Schuster langsam genähert. Nun schüttelte er seine große Faust vor des Trinkers Gesicht, und seine Mienen entstellte eine tödliche Verzweiflung.

Entsetzt wich der Säufer zurück. In Angst verwirrten sich seine Gedanken. Ohne daß er es wollte, hatte er schon geantwortet:

»Nee, Karla, nee! Keene Grenzsteene, Steene wie alle andern, die der Herrgott wachsen läßt.«

»Na siehste, das wüßt' ich ja, du Narrnsack! Is das etwan 'ne Sünde, wenn ich een Krappen vo Steen hierhin schmeiß oder dorthin, is Steen nich Steen? Könnten für die Klumpen nich andre dorte steh«? Haha! – 's is Nacht – dr Nebel steht – die Hacke geht leise – hinter dr Mauer gehn Leute, aber niemand sieht was – raus de Brocken, raus! – ei a Born – 's Wasser gluckt, siebzig Ellen tief – ma hört nischt fallen – ei a so eem Loche sehn drei Brillen nischte. De Spitzhacke lehnt hinterm Bornhause, wo de Blutbretter sein. Wenn dr Hahn kräht, is alles vrbei.«

Der Lahme sprach fliegend; in seinen Augen lag eine bohrende Wildheit, so kalt, so entschlossen, daß des Verkommenen Seele davon betäubt wurde. Er sah nichts vor sich, in seinem Innern lag es wie summender Nebel. Eine dumpfe Empörung gärte in ihm, aber sein Wille war nach allen Seiten zerstoben. An seiner Statt wirkte ein fremder Drang, unerbittlich, starr.

Schwer, wie im Zwang eines drückenden Traumes verloren, ließ er seine Hand in die dargebotene Rechte des Lahmen sinken.

Als er sich umsah, war er allein.

Er erhob sich eilig, zu entfliehen, kehrte vor dem Türchen um, ging zurück, setzte sich, stand auf, drückte das Beil aus dem Scheit, hob es, um zuzuschlagen, warf es hin und starrte lange auf den Holzklotz »...'s is Nacht«, murmelte er willenlos, »dr Nebel sieht – de Hacke geht leise – de Brocken raus – 's Brett is locker – dr Born is tief – ma hört nischt fallen...« er bebte, sein Herz gefror, aber sein Bewußtfein drehte sich, als sitze er auf einem sausenden Karussell, und wie er die Augen seiner hilflosen Seele über dies Tanzende, Graue schickte, tauchte eine Lichtgestalt aus der trostlosen Weite in ihm auf, kniete nieder, hob die Hände bittend und sah ihn aus großen Augen angstvoll an. Ihr Leib war von Züchtigung und Gram entstellt. Es war dasselbe Bild, vor dem seine arme Einsamkeit in Büßerqual, in peinvoller Inbrunst so oft stammelnd gelegen hatte.

Noch einmal sah er hin in sich. Da wußte er, daß das, was er sollte, jenes war, was er wollen mußte.

Bereit setzte er sich auf den Holzklotz, stützte den Kopf in die Hände und wartete. –

Da rauschte der Wald auf. Nebel flog zur Tür herein: es dämmerte.

Er hob den Kopf, sah prüfend hinaus und ließ ihn dann wieder sinken: es war noch zu licht dazu.

Neben ihm, im Stall, begannen die Kühe zu stampfen, die Schweine rannten quiekend gegen die Bretter des Kobens. Dann sprach begütigend eine weiche Stimme. Darauf hörte er gleichmäßig die Milch in die Blechgelte plärren. Einigemal gingen noch die Türen. Der Lahme holperte in den Hof und kehrte gleich wieder ins Haus zurück. Dann war alles lautlos.

Nur ein leises Nieseln in der toten, tiefen Nacht und vom Walde her ein wühlender Laut, als rühre sich ein Schlafender in seinem Bett.

Der Schuster stand auf, fuhr sich unter einem tiefen Atemzug durch die Haare und schlich dann vorsichtig aus dem Schuppen.


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