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8

Die tödlichen Blitze pflegen aus dem blauen Himmel zu fallen, und oft bricht eine Wolke, die allein in der Höhe zieht, harmlos und ruhig, kaum so dunkel, daß über unser Stübchen ein leises Dämmern kommt, oft bricht diese stille Wolke plötzlich los, der Sturm springt mit der Wildheit eines Löwen auf, der in der Glut geschlafen, und in wenigen Augenblicken hat der schreckliche Guß einen Strich blühenden Landes in eine Einöde verwandelt.

Kein Grün weit und breit, wie riesige Schaufeln graben die Fluten die Krume weg bis auf den toten Stein; die Wege verschwemmt; die entwurzelten Bäume liegen zerpeitscht umher, und selten besucht ein Vogel diesen getroffenen Ort, bald auch schwingt er sich mit einem scheuen Schrei davon. Und die Menschen finden kaum die Stelle, wo noch eben ihre Früchte der Reife entgegenwogten; ihr Hoffen zerrissen wie ihr Haus; wo ihr Herz sonst rüstig läutete, tragen sie den dumpfen Schmerz einer unheilbaren Wunde.

Ein so schnelles Wetter hatte die Seele Maries verheert, und von der ganzen Welt ihrer blühenden Hoffnung war nichts geblieben als ein dumpfes Gefühl.

Umsonst bemühte sie sich die folgenden Tage, ihre Lage zu überschauen. Sie kam dabei nicht weiter als zu einer schweren Trauer, und immer, wenn doch noch eine Kraft, die in einem Winkel der Seele zurückgeblieben war, sich leidenschaftlich aufrecken und nach Widerstand rufen wollte, sank sie in Erinnerung an ihre Flucht zurück in Schwermut. Es kam ihr nicht einmal der Gedanke, nach der wahren Bedeutung aller Erlebnisse zu fragen, sondern sie empfand nur, öffentlich beschimpft, verleumdet, entheiligt worden zu sein, wie geschändet. In Gram ging sie umher.

Der Freirichter sah ihre Gebrochenheit und stellte es ihr anheim, zu gehen, wenn sie wolle. »Wohin soll ich gehn?« sprach sie müde, »meine Geschwister sind alle im Dienst, und mei Onkel! – – – Was sollte ich da sagen, warum ich komm? Nee, nee, Herr, ich seh's, es gieht bloß auf eene Weise, daß ich rauskomm ...«

Um sie zu schonen, hatte man sie von dem übrigen Gesinde getrennt und ihr eine einsame Arbeit in dem alten Auszugshause angewiesen. Dort schaufelte sie das in den verwahrlosten Zimmern aufgeschüttete Getreide um. Aus dem Hofe drang das tiefe Brummen der Dreschmaschine gedämpft durch die geschlossenen Fenster.

Hier war es so still, das Leben aus allen Winkeln gewichen. Verlassene Spinnennester hingen in den Ecken, zerflatterte, bestaubte Erinnerungen eines verschollenen Lebens. Ruhlos rührte ihre Schaufel in dem Getreide, der Haufen wurde nicht kleiner.

So erging es ihrem Sinnen.

Zuletzt kam sie zu der Überzeugung, Gott habe ihr diese Prüfung gesendet, und beschloß als gläubige Katholikin, Sonntag zu den heiligen Sakramenten zu gehen und nach der Kommunion um Erleuchtung zu beten. Sie wußte, daß in diesem heiligen Augenblicke der Ewige oft unmittelbar zu der reinen Menschenseele redet. Wie das Wasser dem Wehr zufließt, leiser als sonst, so rüstig, daß man kaum das Zögern unter der Oberfläche bemerkt, so ging sie dem Tag der Entscheidung entgegen. Niemand wußte von ihrer Absicht; niemand sah sie in der Frühe des Sonntags davongehen.

Es war noch ganz finster, eine nasse Kälte, alles erfüllt von dichtem Nebel, dessen rauhe Feuchtigkeit binnen kurzem Gesicht und Hände mit kleinen Tröpfchen übersäte. Nur an dem Schall ihrer Schritte merkte sie die Nähe der Häuser, die noch alle dunkel dalagen.

Als sie sich einmal umdrehte, sah sie hinter sich in ferner Augenhöhe einen blassen Streifen in der Nacht, der von Zeit zu Zeit erlosch, als sei es der Atem eines trabenden Pferdes im Lichte einer verborgenen Laterne.

Sie hielt sich an der Grabenwand hin, wo sie die Stämme der Chausseebäume sah, die wie Seile aus der Höhe herabzuhängen schienen. Aber kein Trappeln, kein Pferdegeschnauf drang in dem Nebel auf, der sich lautlos aus der kalten Erde wand. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie an jener Stelle, von wo sie das Nahen eines Gefährtes erwartet hatte, einen blassen Schein in der Luft, wie die weiße Wand eines fernen Hauses.

Nun wußte sie, daß es das Licht des untergehenden Mondes sei, und fuhr fort, im Hinschreiten über die Sünden nachzudenken, die sie zu beichten hatte. –

Es war ganz finster in der Kirche. Eine kalte Moderluft erfüllte das niedrige Schiff, das in der Dunkelheit wie eine geräumige Höhle aussah. Da und dort saßen Beter zusammengesunken vor ihren kleinen Wachslichtern, und wenn der Odem ihres Mundes wie ein blasser Rauch durch den roten Dunstkreis strich, konnte man meinen, sie seien ermüdete Flüchtlinge und kauerten vor Feuern, deren winzige Flamme sie aufzublasen bemüht waren, um sich die Hände zu wärmen, die blaß, wie erfroren, dalagen. Manchmal husteten sie unterdrückt, und ihre Augen standen regungslos wie Glaskugeln in dem starren Glast der kleinen Flamme.

Der Altar lag noch ganz finster, dumpf glomm das ewige Licht durch das rote Ampelglas.

Marie ward es schläfrig und schwer. Wie betäubt sank sie in eine Bank und vergrub das Gesicht in die Hände. Als jemand laut hustete, stand sie auf und ging, als sei sie gerufen worden, nach der Sakristei, wo die Beichtstühle standen. Auf der Schwelle begegnete ihr der Kirchvater, der vorsichtig ein Kerzenstümpfchen trug, dessen Licht er mit der Hand schützte. Sie trat zur Seite, und er hob erstaunt sein friedliches Greisenangesicht zu ihr empor. Mit einer stechenden Bewegung seiner freien Hand deutete er auf den nächsten Beichtstuhl und flüsterte:

»Hochwürden kommt glei!«

Dann trug er mit langsam-würdigen Schritten seine hohe Gestalt in das Dunkel der Kirche.

Marie achtete kaum auf die beiden Meßknaben, die hinter der geöffneten Doppeltür eines Schrankes sich die weißen Chorhemdchen überwarfen, trat vor das Gitter des Beichtstuhles und begann eifrig aus ihrem Buch zu beten. Während sie so hingebend Wort um Wort las: von der Schlechtigkeit der Menschennatur, ihrer Ohnmacht und Sündengier, Kreuz um Kreuz schlug, war es ihr, als seien die Sätze ein monotoner Luftzug, der mit leerem Schall ihre Seele betäubte. Ihr Inneres ward eine Dämmerung.

Und sie mußte doch andachtsvoll beten, um von Gott eine glückliche Wendung ihrer Not zu erlangen.

Sie schloß das Buch, wie um sich von der dumpfen Macht dieser Blätter zu retten, sah traurig zu Boden und bemühte sich, das Beichtgebet zusammenzubringen. »Ich armer, sündiger Mensch ...«, murmelte sie in einem fort und kam nicht weiter.

Im Schiff der Kirche klangen weiche, lange Schritte auf. Der alte Bauer, der zur Ehre Gottes Kirchvaterdienste verrichtete, machte ihr ein Zeichen mit seinen eisgrauen großen Augenbrauen und sah dann scheu durch die Tür der Sakristei.

Wie ein siedender Wasserstrahl ergoß sich die Angst in Mariens Körper. Er kommt, dachte sie, und stotternd rang sie um das Gebet.

Die Schritte hielten vor dem Altar.

Gleich darauf erschien Pfarrer Langer eilig und unvermutet in der Kerzenhelle der Sakristei und hielt ohne weiteres neben dem Greis, der ihm die heiligen Gewänder überlegen sollte.

Der alte Bauer hob seine Hand über das Ohr, strich behutsam an den weißen Haaren hin, die dort in die Form einer Schnecke gedreht waren, und flüsterte, es sei noch wer da. Ohne zu antworten, griff Langer unwirsch selbst nach dem Humerale, um dem Alten damit anzudeuten, daß dazu jetzt nicht Zeit sei.

»Sie wern, Hochwirden, es is nämlich eene Magd, aus Steendorf, wie mr scheint. Sie mechten woll«, redete der Kirchenvater unterdrückt.

»So!« antwortete der Pfarrer und drehte sich nach ihr um. Er erkannte ihre Schönheit und dachte: Aha, das is auch wieder eine solche. Dann legte er die Stola um.

Marie kniete vor das Gitter und wandte dem Priester ihr Gesicht zu.

Nachdem Langer eine Weile mit auf die Brust gesunkenem Kopfe dagesessen hatte, als bete er, richtete er sich auf und bezeichnete Marie unter Murmeln mit einem großen Kreuz.

»Ich armer, sündiger Mensch ...«, begann das erschrockene Mädchen, und weil sie das Gebet durchaus nicht konnte, stieß sie tuschelnd die Luft durch die Nase im Rhythmus der Worte, die ihr entfallen waren.

Als sie zu Ende war und mit dem Sündenbekenntnis beginnen wollte, wozu sie tief Atem holte, ermahnte sie Langer mit schneidender Sanftmut: »Sprich lauter!«

Marie fühlte das Mißtrauen in dieser Aufforderung, und zitternd begann sie mit dem Bekenntnis ihrer Schuld. Je weiter sie damit kam, desto zwingender empfand sie, der Pfarrer müsse glauben, sie verheimliche ihm Schweres, wenn sie nur das erforschte Übel beichte. Sie erinnerte sich auch, daß kein Mensch den Zustand seiner Seele kenne. Es war ihr plötzlich, als könne sie vielleicht alle Sünden begangen haben, von denen sie je in einem Beichtspiegel gelesen hatte.

Nach kurzem Zögern, währenddessen Langer sie mit einem harten Blick gestreift hatte, bekannte sie alle Menschenschwäche, deren ihr Gedächtnis nur habhaft werden konnte, als ihre eigenen Fehler, um sich das Erbarmen des Priesters und die Gnade Gottes zu verdienen.

Erschöpft hielt sie endlich inne und sah flehend auf den Pfarrer, der vor Zorn ganz blaß war und sie von der Seite ansah.

»Hm, hm«, machte er dann. »Sind das alle Sünden?«

Marie nickte.

Langer richtete sich auf, als sollte er ersticken, und schluckte gewaltsam. »Das sechste Gebot!« sprach er dann mit krampfhafter Weichheit.

Marie erkannte die Verachtung auf seinem Gesicht und dachte: Es ist alles verloren, ich muß eis Wasser.

»Das sechste Gebot. Wie heißt das sechste Gebot?« fragte Langer wieder bebend. »Du sollst nicht Unkeuschheit treiben«, antwortete er endlich und sagte es in ihr bleiches Gesicht wie eine Anklage. »Wie alt ist er? – Du wirst dich doch nicht so weit vergessen haben, ein Kind zu verführen?! Antworte! Wie oft seid ihr sträflich zusammengekommen?«

Aber er bekam keine Antwort. Marie hatte den Kopf gesenkt, und der Atem seines Mundes bewegte nur die blonden Haare, die durch das Gitter quollen. Es war, als gehe ein Glanz von ihrem schuldlosen Haupte aus. »An deinen Haaren hat dich der Teufel in den Pfuhl der Lust geschleift«, fuhr er fort. »Nun verhärtete er dein Herz mit der Scham, die du ihm so leicht hingabst.«

Marie hob das Gesicht und sah eine Weile starr in sein Gesicht.

»Herr Pfarr«, flüsterte sie dann, »ich bin unglücklich. Das is alleene. Sonst is nischt wahr.«

Ihr Atem streifte seine Wange gleich dem Brodem kochenden Wassers.

»Also verfallen bist du?« sprach er endlich kalt, weil er glaubte, sie habe sich schuldig bekannt. »Wie lange trägst du die Frucht der Sünde? Ich meine, wie lange du es fühlst!?«

Maries Gesicht war auf die Brust gesunken. Ihre Haare zitterten von den Schlägen ihres Herzens. Als er in maßloser Erregung diese beiden Fragen an sie richtete, hörte er etwas fallen und sah gleich darauf ihre Hände krampfhaft in die Gitterstäbe greifen.

Aber er kannte diese »Hurenmenscher« und ließ sich von ihnen keine Komödie mehr vormachen. Er redete Marie nun ins Gewissen, wie er es bei Gefallenen gewohnt war. Er vergaß, daß er im Beichtstuhl sitze.

Der Kirchvater drängte die Ministranten in die Kirche. Bald erfüllte Langers Stimme die Sakristei. Er spie aus, nannte sie Dirne, verhieß ihr ein verfluchtes Leben, eine gepeinigte Ewigkeit und warf ihr endlich die Absolution verächtlich wie einen Brocken zu. Sie hing wie ohnmächtig mit ihren Händen an dem Gitter des Beichtstuhls und rührte sich auch nicht, als der Pfarrer mit lauten Schritten zur Messe in die Kirche hinausging. Nur beim Schall des Eingangsgeläuts zuckte sie zusammen.

Der Kirchvater hatte, der Gewohnheit gemäß, Langer bis an die Tür der Sakristei begleitet.

Dann kehrte er zurück und sah nach Marie. Die kniete jetzt in aufrechter Steifheit da und schaute unverwandt in den leeren Beichtstuhl.

Er hustete einigemal, um sie zum Verlassen der Sakristei zu bewegen.

Marie begann mit beiden Händen das Gitter abzutasten.

Voll Mitleid trat er hinzu und sagte liebreich:

»Mädla! Du, Mädla!«

Sie wandte ihm das Gesicht zu und blieb in der knienden Stellung, als habe sie ihn nicht verstanden.

»Komm och un gieh etze nei! Horch, de orgeln schon«, sprach er dringender.

Da erhob sich Marie, lehnte sich an die Mauer und starrte verstört den Greis an.

»Gell, er hat mich nicht losgesprochen?« fragte sie regungslos.

»Ach, freilich. Er begeht's bloß immer aso. Laß gut sein, 's hat auch noch een Herrgott, und der nimmt's verleicht nich aso nette. Komm och, Mädla, komm du!« Zitternd griff er an seine Haarschnecke und reichte ihr das Gebetbuch vom Boden herauf.

Wie gegen einen Berg schritt Marie in der Kirche hin auf ihren Platz zu; die Klänge der Orgel brausten um ihre Ohren gleich einem Toben, die Bankköpfe verschwanden immer mehr unter ihr, nun reichten sie ihr nur noch bis an die Knie. Mit hastigem Griff erhaschte sie einen und kam glücklich fallend auf einen Sitz.

Die Beter vor ihr fuhren herum und sahen sie mißbilligend an. Marie hatte keine Empfindung dafür. Eine tote Kapsel lag um ihr Herz, und alles Äußere war weit fort von ihr, ganz belanglos. Der Gesang schwoll an und erstarb, der Geistliche und die Ministranten drehten sich beim Kerzenschein zum Schall einer Klingel vor dem Altar maskenhaft hin und her, die roten Lichtpünktchen vor den Betern schienen die Bänke auf und nieder zu hüpfen, und wenn der Kantor vom Chore herabsang, dann verschwand aller Schein, und es war eine menschenlaute Nacht um sie, die mit der Gleichgültigkeit einer Verurteilten alles bemerkte und immerfort dachte: Der Pfarrer! der Pfarrer!, drohend und anklagend.

Auf den Schall der Glocke erhoben sich viele der Gläubigen vorsichtig in ihrer Bank und wanderten der Kommunionbank zu. Marie, noch immer zweifelnd, ob sie der Absolution teilhaftig geworden sei, stand gleichwohl auch auf, ergriff mit der Rechten das Gebetbuch wie einen wurffertigen Stein, und im Bewußtsein ihrer Reinheit war sie entschlossen, dem Priester den Leib des Herrn, wenn es nicht anders sein konnte, mit Gewalt zu entreißen. Gefaßt, mit fest geschlossenem Munde, trat sie an den Tisch des Herrn und neigte ihren Kopf über das weiße Linnen, das Gebetbuch krampfhaft mit den Händen umklammernd. Der Geistliche näherte sich ihr langsam von der rechten Seite.

»Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam, Amen«, murmelte er und legte die Hostie in den Mund der Kommunikanten, die sofort nach Empfang des Geheimnisses den Kopf tief auf die Bank neigten.

Das Herz pochte ihr zum Zerspringen.

»Herr Gott erbarme dich meiner!« flehte sie in einem fort.

Nun war Langer bei ihr.

Unnatürlich weit reckte sie den Hals auf und streckte wie lechzend ihre Zunge aus.

Die Augen glommen in starrem Glanz. Ihr Gesicht war scharf und verlangend wie das eines Hungrigen. Der Geistliche dämpfte seine Stimme, wie um den Segen der Worte abzuschwächen, und reichte ihr die Hostie.

Sofort schloß Marie den Mund über der heiligen Speise. Kaum verneigte sie sich. Die Zähne aufeinandergepreßt, ohne zu atmen, eilte sie auf ihren Platz zurück und vergrub das Gesicht in die Hände.

Die Hostie klebte an ihrem Gaumen fest, sie schien anzuschwellen, und je heftiger sie schlang, desto mehr verengerte sich der Hals.

Marie erinnerte sich an den Sünder, der, an dem Leib des Herrn erstickt, wie von einem unsichtbaren Streiche gefällt, hingeschlagen war.

»Lieber, lieber Herr Jesus«, betete sie und stieß endlich in Verzweiflung die Hostie mit dem Finger hinunter.

Nach wenigen Augenblicken ergoß sich Wärme in ihren Leib. Die Seele ward schimmernd, wie perlendes Licht floß das Blut in ihren Adern, ihr Herz sang. Die Augen geschlossen, die Wangen glühend in Verzückung, lag sie da und genoß das Wunder der Menschwerdung Gottes in ihrem Körper.

Lange schon schwieg die Orgel. Die Kirche war leer geworden. Nur in einer verborgenen Ecke hockte ein altes Weiblein und buchstabierte halblaut aus ihrem Gebetbuch.

Marie war es, als gingen, leise streichend, lange Gewänder weit, weit über ihr hin, und obwohl sie die Augen bedeckt hielt, sah sie alles.

Die Heiligen traten aus dem Rahmen und wandelten durch die Gänge, ihre langen Locken hoben sich bei jedem Schritt.

Plötzlich ward es ganz, ganz still. Über die Leiber der Heiligen in den Gängen kam ein Bann, und alle standen starr. Alle blassen Stirnen kehrten sich horchend in die Höhe. Und ferneher, aus unendlichen Regionen kam ein Raunen und ward immer deutlicher.

Der Herr naht. –

Wie von zögernden Winden getragen, hörte sie seine Stimme. Sie war alt und halb erloschen von den Jahrtausenden.

»Gehe hin und folge ihm nach«, sprach es über sie hin.

Sie ward wie gelähmt von diesen Worten. Ein Brausen entstand vor ihren Ohren und verlor sich in den Höhen. –

Als sie endlich ihr Gesicht zu erheben wagte, lag das graue Licht des Morgens in den Wölbungen der Kirche. Es war leer und dumpf wie immer. An nichts erkannte sie, daß der Herr durch diesen Raum gegangen sei.

Der heilige Johannes schrieb eifrig in sein Buch und lächelte dazu, während ein schwarzer Vogel zu seinen Füßen die Augen verdrehte. Dieser Heilige hatte die Hände über dem Unterleib gefaltet und machte ein trauriges Gesicht, als quäle ihn dort etwas; jener suchte mit Inbrunst jemand in der Ferne und spitzte den Mund, als pfeife er.

Trostlos rang sie noch eine Weile im Gebete gegen ihre unheiligen Augen und machte sich dann betrübt auf den Heimweg.

Am Nachmittag gab sie, wie Gott es ihr befohlen, dem Klumpen das Jawort.


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