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25

Bald saß Marie allein und wußte bald nicht mehr, warum sie danach verlangt hatte.

Wie ihr der Verzicht auf den Tod gekommen war, weil es sich nicht mehr lohnte zu sterben, so wurde auch ihr Leben etwas, was sich nicht lohnte.

Verschollen trug sie ihre Seele in sich. N!ur der dunkle Gang, durch den dies Wesen sich von ihr verirrt hatte, starrte in ihr Inneres herein. Allein auch an diesem grausen Tor riefen die Gedanken nicht mehr nach ihrer ungetreuen Mutter, die sie in der Not verlassen hatte. Denn sie waren gleich dem Rauch in der Kälte vergangen, und eine Ruhe war an ihre Stelle getreten, die Marie befähigte, alles zu sehen, zu hören, alles wahrzunehmen, ohne nach dem Sinn und Zweck zu fragen.

Die schwarze Balkendecke hing noch dräuend wie sonst über dem Zimmer; aber das Bauer in ihrer Mitte beherbergte nicht mehr das fröhliche Zwitschern des Stieglitzes.

»Husch!« machte die Einsame, nachdem sie es lange aufmerksam betrachtet hatte, um den Vogel aufzuscheuchen, der vielleicht auf dem Boden des Käfigs nach verspritzten Körnern suchte.

»Husch! – Husch! – Husch!« wiederholte sie noch einigemal gleichgültig und betrachtete dabei das Muster ihrer blau gedruckten Hausschürze.

Als sich nichts rührte, nahm sie das Drahthäuschen herab und fand das Tierchen tot auf dem Boden liegen, das rot geringelte Köpfchen in die aufgeblasenen Federn gedrückt. Man hatte es verhungern lassen. Denn das Unglück nährt sich vom Schweigen.

»Tot«, sagte Marie langsam, ging und warf den Käfig samt dem Vogel in den Schnee.

Dann saß sie wieder nieder, und ihre Hände lagen wie abgeschnürt im Schoße. Sie fühlte es wie ein Geborgensein, daß nichts als der stille Atem in ihr aus und ein ging.

Das Kind erwachte. Sie wärmte Milch, schmeckte sie ab, gab ihm zu trinken, wiegte es auf den Armen, summte immer den gleichen toten Ton zwischen den Zahnen und hatte weder Abscheu noch Gram.

Weil der Knabe nicht schlafen wollte, saß sie und schaukelte mit dem Fuße die Wiege. Sie zahlte indessen die Töpfe im Schrank, die Nägel in der Wand, und ehe sie sich erhob, bemerkte sie ein Loch in dem Anwurf.

»Da is ja der Putz aus'm Wechsel gefallen«, sagte sie und ging an die Arbeit, als könne es nicht anders sein, als daß so eine Entdeckung den Menschen ansporne. Sie fegte die Stube, holte Futter, wusch Geschirr und Wäsche. Alles tat sie genau, still, pünktlich wie ein abgerichtetes Tier. Klappernde Kugeln liefen ihre Tage durch das Haus. Ihre Nächte waren leere Betäubungen.

Alles Frühere sah sie, alle zerschellte Sehnsucht, alle ringende Süße, die Zertrümmerung ihres ganzen Hoffens. Aber die blutlose Erinnerung weckte nie etwas auf, das sie zornig emporgerissen oder weinend hingeschmiegt hätte. All ihr Leben lag in ihr gleich einem Häufchen dürren Laubes, das der Wind in eine tote Ecke gekehrt hat.

Nur wenn Kathe und Joseph das Wasser brachten, glommen schwache Wellen letzten Daseinsschmerzes in ihrem Herzen auf.

Unbezwingliches Weh schnürte ihre Kehle beim Eintritt dieser beiden lieben Menschen, gramvolles Stottern zerbrach die Worte ihres wirren Gespräches, und gingen sie wieder, so kniete das arme Weib auf die Bank, drückte die Stirn an die Scheiben und sah mit der dumpfen Bitterkeit einer Ausgestoßenen auf die Spuren der Füße im Schnee, bis der Wind alles verwischt hatte.

Dann bückte sie sich wieder nach dem Staub ihres Werkes. Bei jedem Besuch der beiden wiederholte sich dieser peinigende Anfall. Die Not steigerte sich so, daß es sie zuletzt forttrieb. Kathe und Joseph fanden einst das ganze Haus leer. Nur der Wechselbalg schnurrte aus den Kissen. Nach langem Suchen fanden sie Marie im Schuppen hinter den Reisigstoß gekauert. Blaß, verängstigt, am ganzen Leibe bebend, ließ sie sich aufrichten, in die Stube führen, sah lange mit stumpfen Augen umher und duldete mit einem qualvollen Lächeln der Ratlosigkeit alle Fragen nach dem Grunde ihres rätselhaften Betragens. Endlich, als beide, schon entmutigt, sich wieder an ihre Arbeit begeben wollten, sagte sie zaghaft:

»... das Reisig... das Reisig...«

Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen.

Bei jeder Wasserfahrt wiederholte sich der gleiche Vorgang; nur wechselte Marie das Versteck. Manchmal, wohl wenn sie von ihrer Ankunft überrascht worden war, begnügte sie sich, unter die Bank oder den Tisch zu kriechen und das Gesicht der Erde zuzukehren. Unter gütlichem Zureden und endlich unter Anwendung von Gewalt mußte sie hervorgezogen werden und verharrte dann, auf das ärgste verschüchtert, blaß und bebend in einer Ecke.

»Ich kann mr nich helfen. Es überfällt mich halt ne Angst, wenn ihr kommt«, sagte sie einst unaufgefordert und sah in blöder Not an ihnen vorbei.

So verfiel langsam ihr Leben wie ein unbewohntes Haus; denn ihre Seele, die in den Qualen eines zu schweren Schicksals verschollen war, schweifte an unbekanntem Orte und wollte nimmer zurückkehren.

Maries Gesicht verlor jeden Ausdruck, ihre Stimme den Klang. Die Haut wie verlegenes Linnen, das Haar, brüchig und glanzlos, hatte nichts als die Fülle von seiner ehemals goldigen Schönheit behalten und glich mehr dem blassen, feinen Gras auf den Waldblößen im Spätherbst. Kaum konnten die Lippen noch die weißen Zähne bedecken; ihr Leib vertrocknete. Welk und zierlich wie ein verkümmertes Mädchen im ersten Jahre der Jungfräulichkeit, bewegte sie sich doch mit der Unsicherheit des hohen Alters. Gleichgültig gegen sich, teilnahmslos gegen ihre Umgebung, ging sie immer in demselben Kleide umher, das ihr viel zu weit geworden war und nun an dem mageren Körper schlotterte.

Als werde sie von der Außenwelt durch einen wüsten Gürtel von solcher Ausdehnung getrennt, daß alle Kunde aus dem Leben herüber nur als Spiel unverständlicher Geräusche und Farben an ihre Verödung rührte, nicht anders war diese Verschollenheit der Seele bei lebendem Leibe zu erklären.

Stundenlang konnte sie vor der Wiege des hungernden Knaben stehen, sein mißtöniges Gekreisch hören und mit stierer Gespanntheit hinsehen, um dann plötzlich sich umzukehren und den Ofen voll Holz zu stopfen.

Sie vergaß die Kühe zu füttern und zu melken, und wenn die Tiere schmerzvoll brüllten und stampften, lief sie ans Fenster und sah gespannt hinaus, als habe ihr jemand gerufen, oder riß die Tür auf, um ein Erwartetes einzulassen. Niemals erfüllte sich der Schatten ihrer Hoffnung, doch nie auch verließ sie die dumpfe Geduld. Nach jeder Enttäuschung ging sie auf die Bank und strickte gleichgültig an einem Strumpfe weiter, der nur eine lange Röhre war, weil es ihr nicht einfiel, zu schränken oder abzunehmen.

Zum Weihnachtsfeste brachte Kathe einen Baum, Eßvorräte, Äpfel und Nüsse in das einsame Haus am Walde. Nach zwei Tagen stand noch alles unberührt auf dem Tische. Das Bäumchen hatte das Weib zerhackt und im Ofen verbrannt.

Endlich führte Joseph die vollständig verwahrlosten Kühe in seinen Stall. Als Kathe Miene machte, auch den Wechselbalg aus der Wiege zu nehmen, krallte Marie ihre mageren, blassen Finger in den Arm des Mädchens und sah sie mit drohender Wildheit an.

In der Tiefe ihres Auges allein glomm ein letzter Schimmer von Beseeltheit, ein schwaches Leuchten furchtsamer Erwartung. Das auch vielleicht bestimmte Kathe, das Kind wieder in die Kissen zurückzulegen und einen letzten Versuch zur Rettung ihrer unglücklichen Schwägerin zu machen. Sie ging zu Frau Wende, erzählte ihr alles und bat sie, Marie doch einmal zu besuchen. Ihr, von der die Beklagenswerte »immer große Stücke gehalten habe«, werde es vielleicht am ehesten gelingen, den stummen Wahn zu zerstreuen, der über ihr lastete.

Die Freirichterin sagte nicht ja noch nein und begleitete Kathe hinaus. Unterwegs begegneten die beiden Wende, der, vor sich hingrübelnd, vorüberschreiten wollte, bei dem Klange von Kathes Stimme auffuhr und sein Weib zornig ansah.

»De Exner Kathe hat wegen kleen Schweinla zugefragt«, sagte Frau Wende eilig zu ihrem verdrossenen Manne, »aber ich hab'r gesagt, daß mr mit den Sauen das Jahr gar kee Glück haben.«

Wende schüttelte zustimmend den Kopf, murmelte etwas in seinen braunen Bart und ging weiter.

Vor sich und ihrem Manne verheimlichte es Frau Wende, daß ihr Herz bereit war, dem unglücklichen Weibe beizuspringen. Vor sich: weil sie den Vorwurf nicht loswurde, an diesem grausen Geschick mitschuldig geworden zu sein. Vor ihrem Mann: weil er es nie zugegeben haben würde, daß sie einen Fuß in das Haus seines Widersachers setze, vollends jetzt, da der ganze Rechtshandel nicht die erwartete Entwickelung genommen, sondern ein zu jähes Ende gefunden hatte. Unzufriedener als je, gallig und verbohrt hielt er die Zügel der Wirtschaft in Händen. Seine scharfen, versteckten Augen sahen mißtrauisch auf alle Ausgänge seines Weibes, der er eine geheime Sympathie mit der Exner-Sippschaft in seinem summarischen Haß zutraute.

Aber wie das nun einmal ist. Dies Verheimlichen vermehrte den Drang der Frau Wende nach dem Trostgange noch mehr, und, als sei der günstige Zufall zu seiner Ausführung sicher ganz nahe, so legte sie die bestimmten Kleider zusammen, buk verhohlen Striezel und Kuchen und wählte in der Vorratskammer Fleisch und Würste aus. Denn sie gedachte aus Schonung, ihre Tröstungen unter der Form des in der Grafschaft üblichen »Wochenbesuches« anzubringen.

Endlich schickte es sich. Am 23. März früh verließ der Freirichter den Hof, um in seiner Eigenschaft als Schulvorsteher in Leschkowitz an einem vom Landratsamt anberaumten Termin in Schulsachen teilzunehmen. Aus den vielfältigen Anordnungen und der unnötig oft mit drohendster Miene wiederholten Versicherung, seine Rückkehr erfolge in zwei, höchstens drei Stunden, entnahm sein Weib, daß er den ganzen Tag ausbleiben werde, und begann schon mit den Vorbereitungen zu dem Ausgang, als seine Droschke kaum knarrend hinter der ersten Bodenfalte verschwunden war. Bald befand sie sich auf dem Wege. Noch lag Schnee, aber er war brüchig und von schmutzigem Weiß, von den südlichen Lehnen zum Teil verschwunden. Das ewige Leben der Natur verwandelte sich wieder einmal und begann sich auf seine herrlichste Form vorzubereiten. Das graue Gewölk des Winters klaffte auseinander. Aus dem blauen Himmel, dem unendlichen Schoße Gottes, sanken die ersten Träume des Frühlings auf die Erde nieder und umgaben alle Dinge und Wesen mit lichtem Schimmer. Die Waldbäume des Hedwigsteines und des Rollenberges sahen scharf und trutzig aus wie Soldaten vor dem Kampf. Die jungen Bäumchen des Feldes standen süß und schamhaft wie Mädchen vor dem Ankleiden. Ihre Zweige glitzten und blinkten im frohen Licht, als ob sie ein goldenes Haar wären.

Von Zeit zu Zeit fuhr ein Wind auf, gleich einem dröhnenden Hornstoß, dem aus fernen Tälern verschwommener Erzklang antwortete, das Waffengeklirr eines heranrückenden Heerbannes. Dann war die Luft von verhaltenen Liedern voll, und um alles rieselten die Schauer naher Verzückung deutlicher. Diese Zeichen der nahen Auferstehung umgaben Frau Wende auf ihrem Gange zu Marie.

Darum auch war der Eindruck, den das unglückliche junge Weib samt ihrer ganzen Umgebung auf sie machte, gleich einer Erschütterung, die den erwogenen Plan zu weiser Einsprache gänzlich über den Haufen warf. Schon das Höfchen war übersät mit Reisigästchen, verstreutem Stroh und Heu, die Hausflur ungefegt. Unter der Stiege zum Boden lagen Wannen und Schäffer, zerdorrt, auseinandergefallen, übereinandergeschichtet wie altes Gerümpel. Die Reifen standen heraus.

Trotz mehrmaligem Klopfen rührte sich nichts in der Stube, die bei ihrem Eintritt ausgestorben schien wie das ganze Haus. Übelriechende, verwohnte Luft füllte sie. Die Wiege in der Mitte war mit einem schmutzigen Laken zugedeckt. Um den Ofen lag ein wirrer Haufen Stroh, das in einzelnen Halmen auch über die ganze Diele verschleppt war.

Die Freirichterin drückte zögernd die Tür hinter sich zu, wartete ein wenig, richtete endlich ihre knochige Gestalt entschlossen auf und wünschte auf gut Glück: »Guten Morgen.«

Niemand rührte sich. Nur hinter der Wiege huschte ein Geräusch taktmäßig hin und her. Nach zwei Schritten tiefer in die Stube bemerkte sie ein mageres, weibliches Wesen, das auf den Knien lag und mit einem trockenen Lappen das Bein der Bank reinigte. Frau Wende glaubte, es sei irgendein Aufwartemädchen, das man dem beklagenswerten Weibe zur Hilfe beigesellt habe.

»Wo is'n de Frau, Mädla?« fragte sie, und als die Person nicht darauf achtete, sondern gleichmäßig mit dem Lappen auf und nieder wischte, rief endlich die Großbäuerin, so laut sie konnte:

»Trotsch du, hörste nich!«

Nach einer Pause stellte die Person ihre Tätigkeit ein, sah forschend den Lappen an, als sei sie nicht ganz sicher, ob er geredet habe, und drehte sich dann um.

Es war Marie. Noch verschrumpfter, noch verwahrloster. Die Kleider trug sie um den Leib gewürgt, wie man eilig ein Bündel schnürt. Nun legte sie den Lappen mit übertriebener Vorsicht nieder und sah angestrengt an Frau Wende herauf und herab.

»Nu, he, Marie! Du bist ja grausam fleißig. Da könnte ees ja 's ganze Häusel forttragen, du rührst dich nich. Komm och jetze her und gönn' dr a wing Ruh'.«

Marie verharrte in der Stellung eines Menschen, der, in undurchdringliche Nacht gehüllt, von Geräuschen umgeben wird, die er nicht verstehen kann. Zuletzt kniff sie gar die Augen ein, als gelte es, mit dem Blick in ganz weite Entfernungen einzudringen.

»Du, Marie, du!« drang die Freirichterin wieder auf sie ein.

Die Angeredete erhob sich rasch, lief aufgeregt in der Stube umher, las eine Handvoll Strohhalme zusammen, blieb dann ratlos stehen und sah umher.

Frau Wende hatte ihr Körbchen auf den Tisch gestellt und sich auf einen Stuhl niedergelassen.

»Da komm och her zu mir«, redete sie der Verirrten gütlich zu, »das Aufräumen kannste ja dann immer noch machen.«

Maries Gesicht verlor den starren Ausdruck und ward weich. Sie näherte sich wie ein folgsames Kind und nahm Frau Wende gegenüber Platz, das Stroh immer krampfhaft in der Hand haltend.

»Siehch och, da hab' ich dr Würste mitgebracht, a Stücke Fleesch, a weng Kuchen und Striezel. Das Gebäcke is mir freilich nich gut geraten. Denn mit den Bierhefen is eben nischte. Iß och jetze tüchtig, du bist gar zu sehr runter.«

Während sie, das sprechend, den Korb in eine herbeigeholte Schüssel leerte, saß Marie still da, in gespanntem Aufhorchen. Die Hand hatte, vom Zwang befreit, das Stroh fallen lassen. Frau Wende nahm ihren Sitz wieder ein und richtete, in Erwartung einer Entgegnung, ihre Augen auf Marie, die den Körper vorneigte und mit stumpfem Blick angestrengt nach der Freirichterin hinsah, als sitze diese nicht klar und deutlich vor ihr, sondern sei von tiefem Dämmern eingehüllt kaum sichtbar.

Frau Wende war von diesem seltsamen Betragen beunruhigt und ergriffen zugleich. Ehe sie aber zu neuen Worten kommen konnte, gab Marie die Bemühungen, durch die Schatten ihres zertrümmerten Lebens zu dringen, auf, erhob sich, wischte den Schweiß von den Fensterscheiben, ließ sich wieder nieder und faltete die Hände im Schoß.

Das Licht fiel glitzernd über den Tisch.

»De – Sonne – scheint – scheen – – sehr scheen«, sagte sie nach langem Hinsehen mühsam, mit einem Klang in der Stimme, wie er unter dem Bogenstrich Ungeübter aus Geigen kommt, die jahrelang unbenützt im Kasten gelegen haben.

Die Freirichterin deutete mit Recht diese Worte als ein Zeichen beginnender Anteilnahme und fragte, um sie zu vertiefen, nach dem Ergehen des Kindes.

Marie lauschte interessiert den Worten ihrer früheren Herrin nach wie dem Laut einer fremden Sprache.

Es zeigte sich auf ihrem blassen, verlöschten Gesicht, in ihren stumpfen Augen kein Verstehen, sondern nach einer Weile kam ein Zug in ihr Antlitz, wie Schlafende lächeln, wenn man sie kitzelt.

Frau Wende wiederholte ihre Frage, rüttelte sie endlich am Arm und wies leidenschaftlich nach der Wiege. Da stand endlich die Arme wie unter der Wirkung eines Stoßes auf, ging zum Lager des Wechselbalges, zog die Decke ab und stand dann wie versteinert.

Das Kind war noch magerer geworden. Sein faltiges Gesicht ähnelte mehr dem eines uralten Mannes und war von grauen Haaren ganz überzogen, als sei es von Schimmel bedeckt.

»Nu he, was machst du denn mit dem Kindel?« fragte die Freirichterin, die versucht war, es aus der Wiege zu reißen.

Auf diese lauten Worte versuchte das kleine Wesen die Arme zu bewegen. Es war aber so schwach, daß sich seine ausgehagerten Händchen nur aufwendeten. Dazu gurrte es kraftlos. Seine faltigen Lider hoben sich aber nicht; man sah nur die Augäpfel darunter beben.

»Aber Marie!« begann Frau Wende wieder, entrüstet über den erbarmungswürdigen Zustand des Unholdes.

Allein die Verirrte rührte sich nicht. Mit steifen Armen auf den Rand der Wiege gestützt, die Achseln heraufgedrückt, den Kopf dumpf vorgereckt, war es, als hänge sie an Stricken in der Luft, ein Bündel, kein Mensch mehr.

Ihr Gesicht trug den Ausdruck vertierter Pein.

»Es wird dir verhungern. Siehst es denn nich?« rief Frau Wende wieder.

Marie hing regungslos über dem Abgrund ihres Lebens. Die Freirichterin ging und reichte dem Knaben selbst die Flasche, der so heißhungrig darüber herfiel, daß die eingesogene Milch immer zur Hälfte wieder aus seinem breiten Munde herausfloß und den abgezehrten Hals hinunterlief.

»Trink, trink, liebes Kindel«, eiferte kosend Frau Wende, die alle Scheu vor dieser grotesken Häßlichkeit vergessen hatte und nur mehr den hilfsbedürftigen Menschenwurm sah, »immer trink, armer, armer Kerle, du. Ja, ja, mir wern dir schon geben. Laß gut sein.«

Süß, streichelnd, mit jenem tiefen Erbarmen eines Mutterherzens, das fast wie erfülltes Glück klingt, redete sie.

Da stieß Marie unvermutet einen qualvoll stieren Schrei aus, der gar nicht enden wollte.

Frau Wende umfaßte sie, fühlte ihren ganzen Leib beben, führte sie von dem Kinde weg ans Fenster, saß bei ihr und stützte sie, bis die alte Ruhe wieder Besitz von ihr genommen hatte.

Aber es war doch nicht mehr die gleiche Starrheit in ihr. Eine Wand schien durchbrochen, und mit stehendem Blick, voll unsäglicher Klage, sah sie unverwandt ihre frühere Herrin an.

»Bis du stille«, tröstete diese, »nee, nee! Fürcht' dich nich, du bist bei mir. Laß gut sein, dei Mann kommt a so bale nich wieder raus, nee, nee, der sitzt. Dem hab'n se sei Jahr weger den Grenzsteenen ufgebrummt. Und wenn er wird das runter haben, da wern se'm a Zips weger'm Schuster schleißen. Laß du's gut sein«, wiederholte sie immer von neuem, streichelte das welke Gesicht, das sich an ihre Brust grub, und umfing den Leib, der unter ihren Worten leise erschauerte wie ein Baum vor fern hinstreichenden Winden.

Als Frau Wende schwieg, lag die Arme an ihrer Seite, und ihr Atem wurde immer stürmischer, angstvoller.

»Mariela, immer wein' du. Laß du's raus. Wir sein dir alle gut, 's ganze Dorf. Da hat's keen, Haus um Haus, Hof um Hof, dem's nich leid tat um dich. Vor allem der ale Freiwald. Schade, daß er tot is. Denk', vorige Woche habens'n begraben.«

So tröstete die Gute, und weil Marie bei Erwähnung des alten Brunnenbauers sichtlich den flutenden Atem zurückgehalten und ruhiger geworden zu sein schien, glaubte sie am besten zu tun, die Geschichte des Greises zu erzähle«. Er habe wohl durch die Auffindung des Schusters einen Stoß bis ins Mark erhalten.

Denn seit der Zeit habe er ohne ersichtliches Leiden gekränkelt. Endlich sei seine Seele lächelnd, schmerz- und kampflos, wie ein stilles Wasser, hinübergeflossen in den unbekannten Brunnen, der die Rinnsale aller Menschenleben auf ewig aufnimmt. Seine letzten Worte seien ein herzlicher Gruß an sie gewesen.

Während der Erzählung hatte sich Marie aufgerichtet. Beim Schlußsatz rückte sie von ihrer alten Herrin hart weg an den Tisch hin, und es war, als sinne sie über das Gesagte nach.

Die Freirichterin sah, daß ihr Besuch nicht umsonst gewesen sei, nahm sich vor, bei gelegener Zeit wiederzukommen, und ging davon, da Marie durchaus auf nichts mehr achten wollte.


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