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19

Die Hand ihres Gottes lastete schwerer als je auf dem armen Weibe. Während sie so lag und schluchzte, kam ihr der Gedanke, ob es nicht besser sei, aus dem Leben zu gehen. Wies nicht Gott selber sie deutlich nach dem Tor des Todes hin, da seine Heimsuchungen nicht von ihr ließen? Vielleicht war ihr Leben ein Widerstreben gegen seinen Willen, eine Sünde und darin zu verharren nichts als Vermessenheit.

Das Haupt aufgerichtet, mit unverwandtem Auge sah sie in diese Tiefe.

Aber war sie allein? Riß sie ihr schuldloses Kind, das so nahe vor der Geburt stand, nicht mit in die ewige Verdammnis?

Eben jetzt, da sie betäubt den grausen Weg hinsah, wie Erschöpfte das Haupt gegen den Sturm lehnen, kämpfte das Ungeborene in ihrem Leibe, wie ein Lamm wider den Strick dessen ringt, der es zur Schlachtbank führen will.

Ohne weiter zu überlegen, wischte sie die Tränen aus den Augen, und gehorsam, willenlos ließ sie sich von der Faust Gottes weiterstoßen auf dem Wege, den sie nicht erfaßte. Sie entzündete das Feuer im Ofen, stellte ihr Frühstück auf und versank demütig in ihre Not. Ohne dem Denken ins Gesicht zu sehen, ging sie einher.

»Wie Gott will, halt still« und »Gott schlägt mit einer Hand und vergilt mit hundert«, diese und ähnliche Sprüche geheiligter Altenweisheit beruhigten sie in ihrer Seele, daß ihr wilder Schmerz sich in jene dumpfe, fiebernde Gelassenheit verwandelte, mit der Verurteilte aus dem dunklen Kerker auf alle Geräusche draußen lauschen.

Ihr Mann war nach dem Niederstücke zu fortgegangen, also konnte er nur in der Richtung nach Landeck hin seinen Weg genommen haben. Natürlich, wenn er entfliehen wollte, so konnte er nur so hoffen, über die Grenze zu kommen, ehe die Polizei die ganze Schwere seines Verbrechens erkannt und sich zu seiner Verfolgung aufgemacht hatte. Sie begann zu Gott zu beten, daß er seine Flucht gelingen lasse, damit ihrem Kinde und ihr die Schande erspart bleibe. Um sich aber gewiß zu sein, stieg sie in die Sommerstube hinauf und suchte im Schrankschube nach dem Sparkassenbuch. Es war verschwunden. Das Zeitungspapier, worin es sonst eingeschlagen gewesen war, lag zu einem Ballen zusammengeknüllt in einer Ecke. Gott sei Dank! Um elf Uhr spätestens konnte er das Geld auf der Sparkasse erhoben haben, um fünf Uhr nachmittags war er über der Grenze. Erleichtert und zugleich betrübt darüber, daß es so weit mit ihr gekommen sei, wegen eines solchen Vorkommnisses befriedigt zu sein müssen, begab sie sich wieder in die Wohnstube, und ihr Herz füllte sich zum Zerspringen mit all den marternden Möglichkeiten der Zukunft.

Der Wintertag war klar geworden. Der Nebel hatte sich in die Hohe gezogen. Sein weißes Licht wandelte still durch die Fenster, und alle Gegenstände sahen aus, als flösse intensiver Mondschein darüber. Manchmal fiel eine große Schneeflocke durch die Luft, langsam und unentschlossen, wie wohl in der stehenden Stille eines Maitages weiße Blütenblätter säumend zur Erde wanken. Dann war wieder nichts als das Wogen dieser milchweißen Helle vor dem ferneren Walde zu sehen.

»Du?« fragte Marie in die schöne Gestorbenheit hinein ihren Gott und ihr Schicksal, »du? ... du? ...« erstickend, hilflos.

In der Ferne klangen Schritte auf, die sich hastig dem Höfchen näherten. Marie trat vom Fenster zurück in die Mitte der Stube, um möglichst unauffällig den Ankömmling mustern zu können, und sah gleich darauf Käthe, ihre Schwägerin, eilig an dem Brunnenhäuschen vorüber der Haustür zustreben. Sie trug einen Korb am Arme, war sonntäglich gekleidet, und ihre Wangen waren von dem schnellen Gange gerötet. Marie hatte kaum Zeit, an den Herd zu treten und, einen Quirl ergreifend, sich den Anschein zu geben, als sei sie in emsiger Tätigkeit, als das Mädchen auch schon, vor der Stubentür angelangt, sich den Schnee von den Füßen stieß und dann geräuschvoll hereinkam. Weißer Dunst, wie ein Wolf, quoll vor ihr her, wälzte sich über die Diele und verschwand, als verkrieche er sich unter der Bank.

Im Augenblick wußte Marie, daß sie Kathe nichts von dem Vorgefallenen merken lassen dürfe, um größeres Unglück zu verhüten, und launig erwiderte sie auf den Gruß des Mädchens: »Ja, ja, die Kälte macht schnelle Füße!«

Dabei verfolgte sie Kathe, die mit ihrem Korb nach der Bank hinging, mit totblassem, mißtrauischem Gesicht und dachte: Was wird nur werden?

»Du haste recht, das beißt ja orndtlich unter de Nägel«, sprach das Mädchen und legte, ohne sich umzuwenden, eifrig alte Kleider aus dem Korbe. Dabei redete sie hastig.

»Gell, immer wunder dich, eine ganze Lade bring ich mite. Nu ja, ma kann doch nie aso durchs Dorf gehn«. Du kennst'n wohl noch nicht, nu nee, 's kann ja auch nich sein. Er is doch erscht zu Michaeli vo a Soldaten heemgekommen, Schreiber Gusta Seffe. Ach, was ma a so dumm is! Aber dir kann ich's doch sagen ...«

Endlich gab sie es auf, sich hinter Worten zu verstecken, und sah zu Marie zurück.

Die saß auf der Ofenbank, ganz starr und hielt den Quirl mit der Hand krampfhaft wie eine Waffe.

»Nee ha, Marie!« rief Kathe fassungslos.

Das junge Weib erhob sich sogleich, kam aufrecht herüber und begann mit Lächeln das Arbeitskleid Kathes zu befühlen:

»Gude, reene Wolle, gell och, Kathe. Oh, die hält! Ich hatt amol een Porganrock, das war das reene Eisen ...«

Sie konnte nicht weiterreden, der Laut erwürgte in ihrem Halse, sie hob das Gesicht und sah das Mädchen verzweifelt an. Da stürzte sich Kathe an ihre Brust, und verschlungen, am Leibe bebend, standen die beiden lange da.

Als sich ihre Herzen verständigt hatten, zog Kathe ihre Schwägerin auf die Bank und begann, liebevoll kosend, ihre welken Hände zu streichen.

Marie hatte gar zu gern gewußt, warum das Mädchen zu ihr gekommen sei, wagte aber aus Furcht, irgend etwas zu verraten, nicht zu fragen.

»Gell, Karla ist herbe zu dr?« begann Kathe mitleidig.

»Nu, ihr wißt's ja alle ...«

»Un mit dem verdammten Gerichte immerfort.«

»Auch das.«

»Wenn is'n heute dr Termin?«

So, so. Da hatte sich also Marie getäuscht. Er war aufs Polnische zu.

»Ja, hat er das gesagt?« fragte sie gleichgültig.

»Mir nich, aber Seffen.«

»Nee, nee, Kathe. Dir kann ich's ja sagen. Er is nach Landeck und er hebt's Geld vo dr Sparkasse.«

Sie hatte die Empfindung, ausgesucht schlau gewesen zu sein.

»Wie is dr denn?«

»Ganz gut.«

»Fühlst dich nich schwach?«

»Ach Gott, nu je.«

So redeten sie eine Weile leere Worte, indessen ihre Seelen heimlich zitterten wie Grashalme, die im Winde eines Abgrundes stehen.

Plötzlich schrie Marie auf: »Nee!«, riß sich empor und trat an den Tisch. Draußen ging der alte Freiwald vorüber.

»Hast's gesehn?« fragte das arme Weib und faßte hart des Mädchens Hand.

Da trat der Greis auch schon über die Schwelle und wünschte mit heller Stimme guten Morgen.

Marie ergriff seine Hand und fragte schnell:

»Nu, Freiwald, auch schon da?«, um zu zeigen, daß sie alles wisse.

»Wohl nie schon!« Freiwald legte seine Pelzmütze auf den Tisch und strich sich seine spärlichen Haare über den Kopf. »Er is doch schon fort. Hm. Nee, nee, nie schon. Ich sollte doch um siebne da sein, un etze is schon halb achte. Nach, 's is och gut, daß a nie da is. – Aber was habt ihr'n mit'm Borne gemacht? 's is ja ein höllscher Gestank um das Häusel.«

»Ach deswegen«, fuhr es Marie durchs Hirn, und es überkam sie eine namenlose Angst.

»Marie! Marie! Was is dr denn!« riefen beide fast zu gleicher Zeit, da sie sahen, wie Maries Gesicht sich mit einer graulichen Blässe überzog, und das Mädchen packte sie am Arme.

»Nischt, 's is schon gut. Mir wur bloß weech.«

Kathe und Freiwald wechselten mitleidsvolle Blicke. Der alte Brunnenbauer glaubte daraus zu entnehmen, das Mädchen meine, man tue am besten, gleich an die Arbeit zu gehen.

Indem er die Joppe ablegte, dies und das umständlich ordnete, zupfte und legte, wie ein greisenhaftes Leben es nur immer säuberlich tun kann, redete er aus dem gemütvollen Unterstrom seiner Seele zu jedem Handgriffe in Absätzen, die er mit einem Schmecken verband:

»'s is eigentlich a ganz schlechte Zeit zu der Arbt. – Weil etze im Winter dr Erdgeist de Oberhand hat über a Wassergeist. – Gegen de starken Queller, na, da kann er ja nischt ausrichten. – Nie zuviel. – Aber de Faden, de armen kleen Fadenla! An die macht er sich schon. – Un euer Born hat den Zug noch nich, a pfeift, ma mecht sprechen, noch nich of'm rechten Loche. – Jedoch aber, de Hauptsache, ich find' den Puls – drnach helf ich'm schon.«

Die Frauen aber standen, hörten ihm zu und folgten seinem Trödeln mit aufmerksamem Auge.

»Ja, ja, ihr Weibla, da hat's euch a so Sachen!« Damit wandte sich der Greis den beiden zu und lächelte liebenswürdig. »Zum Beispiel der Gestank, 's kann eene Katze sein, irnd a Zeug, was de vrbeigangen is un nundergestürzt. Ma muß ja de Bretter manchmal heben, ma muß se; das is ganz ei der Ordnung. Ja, ja. Aber merschtenteels is doch's Wasser alleene, was de fault und stinkt. Denn das Wasser is auch lebendig und springt und flißt, alls. Sterbt auch und fault auch wie alls, was de etze is und ehe nie is. Dazwischen is de Verwandlung.«

Kathe ging und sah in den Ofen.

Der Alte verstand den Wink.

»Freilich, hast recht, Käthe. Was nich geht, muß ma stoßen. Aber weger dem bißla Gesinne arbt ma ja eigentlich bloß. Das is wie der Faden, cm dem ma sich weiterfühlt.«

Er hatte eine Prise Tabak genommen und ging frohen Mutes der Tür zu:

»Na, da kommt och ei Gotts Namen!«

»Ja, ja, 's is gut. Kommt. Was nutzt alles!« sprach Marie aus einer Betäubung heraus und wandte sich mit gewaltsamer Anstrengung auch dem Ausgange zu. Allein, kaum stand sie in der Hausflur, als sie hastig umkehrte:

»Geht och! Ich bin glei bei euch ... oder wartet – oder geht. – Aber kommt mr ja nich nach.«

Ihre Stimme flutete aufgelöst, verwirrt, trotz ihres Bestrebens, gleichmütig zu erscheinen.

Der Greis sah starr auf die Tür, die sich huschend geschlossen hatte, und wiegte den Kopf bekümmert hin und her.

»Kathe, paß of die uf, da is nich alles, wie's sein muß. Die wird mangolsch oder is schon«, flüsterte er dann.

»Ach, 's is zwar mei Bruder, aber ...«, bitter brach das Mädchen ab.

»Ich darf mr keen Vorwurf machen. Dr alte Freiwald tut, was a muß«, sagte der Brunnenbauer zu sich und versiel in Sinnen.

Nach langer Pause hob er den Kopf, und als er zur Haustür hinausgesehen hatte, begann er wieder mit gedämpfter Stimme: »'s is ein häßlicher Tag worn! Grau und alls eigesackt. Siehch och, wie's schneit, als wollt's alls begraben!«

Mit ernstem Gesicht sahen beide in den Wintermorgen, dessen Klarheit schon wieder einer trüben Helle gewichen war, die der dichte Tanz großer Flocken ganz erfüllte. Und obwohl sie nichts hörten, es war ihnen doch, als empfänden sie ein weiches, melancholisches Summen, die müde, bedrückende Melodie des Schneefalles, in deren Bann sie in tiefes Schweigen versanken.

Da schwamm ein Laut durch die Stille, kam und ging, wie das Stöhnen eines angeschossenen Wildes durch den Wald streicht.

»Hast's gehört, Kathe?«

Die Gefragte nickte.

»Kam's nich aus der Stube?«

Das Mädchen hatte genau gehört, daß es aus der Stube gedrungen war, in der Marie weilte, zuckte aber die Achseln und schwieg.

»Dahier is ja auch der Stall«, antwortete sie endlich irreführend.

»Nu, 's war auch möglich.«

Dieser geflüsterten Unterhaltung wurde ein Ende gesetzt, da Marie wieder unter der geöffneten Tür erschien. Sie schritt aufrecht, gestärkt; ihr bleiches Gesicht trug die Züge verklärten Ernstes, wie Krieger aussehen, die von der Einsegnung weg dem Kampf entgegengehen.

Der Greis und das Mädchen hatten auf den Laut der aufgehenden Tür sich nach dem Ausgang zu in Bewegung gesetzt. Marie folgte ihnen.

Als dann die zusammengebundenen Leitern in dem Brunnen standen und der Alte im Begriff war hinabzusteigen, schickte Marie ihre Schwägerin auf den Heuboden nach Futter.

Sie selbst wollte in die Stube zurückkehren.

Der Greis nickte ihr zu, kehrte ihr dann den Rücken, schlug ein Kreuz und hob den rechten Fuß auf den ersten Sprossen. Davon wurde sie tief und schreckhaft ergriffen, daß ihr Herz ganz laut zu schlagen begann. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu rühren, und die Erinnerung, sie stehe auf demselben Fleck, auf dem gestern ihr Mann seine Hände nach dem Schließeisen des Wachtmeisters hatte ausstrecken müssen, vermehrte ihre Furcht, daß es ihr war, sie sinke unter Summen in den Boden.

Freiwald verschwand in der Tiefe.

Regungslos starrte das arme Weib auf die Öffnung zehn Schritt vor ihr, aus der die grauen Leiterbäume heraufstarrten. Um nicht hinfallen und an ihnen in wahnsinniger Angst rütteln zu müssen, wandte sie ihre Augen auf die fallenden Flocken. Sie flohen einander und nahten sich, und jedesmal, wenn sie sich berührten, war es ihr, als explodierten sie unter Geknister und Blitzen. Alles um sie zischte und zuckte und glomm in Milliarden greller Pünktchen.

Sie heftete ihren Blick wieder auf die Leiterbäume vor ihr.

Fast unmerklich glitten sie hin und her.

Der Alte war noch unterwegs.

Jetzt standen sie ruhig.

Er war auf dem Grunde.

Plötzlich fuhren sie mit scharfem Ruck zur Seite, ein mummelnder Laut quoll aus der Tiefe.

Marie packle mit beiden Händen ihre Brust.

Nun!!! –

Immer deutlicheres Knirschen steigender Schritte. Keuchen. Die Mütze des Mannes. Endlich sein runzliges, schreckentstelltes Gesicht.

Marie reißt es die Arme in die Höhe.

Mit dem ausgeschleuderten, schrillen Schrei: »Dr Schuster!« bricht sie zusammen und liegt da wie ein Häufchen abgetragener Kleider.


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