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Die Steindorfer hängen wie fast alle Grafschafter am Katholizismus. Dieser ist nicht nur alleinseligmachend, sondern gewährt auch auf der beschwerlichen Reise zum Himmel manchen Tag, an dem man seinen Arbeitskittel ausziehen kann, den Sonntagsflausch umhängt, gemächlich sich eine Zigarre anraucht, ein Spielchen macht und einen Schnaps dazu trinkt. Was hatte man sonst von dem mühseligen Leben, wenn neben den Sonntagen, die ohnedies sind, nicht noch ein paar Feiertage wären!

Aber wenn man die Finger nimmt und sie herzählt, die schönen Tage, die mitten in der Woche kommen, einem leise die Hacke aus der Hand nehmen, den Pflug oder den Rechen, wie ein lieber Freund, der einem gern eine Freude bereitet, und recht ordentlich sagen: »Mein Guter, halt! halt! Verschnauf und laß deine Seele auch einmal Atem holen«; wenn man das zählt, bleiben leider noch einige Finger an den beiden Händen übrig, an denen kein Sonnenschein hängt.

Darum kann's niemand einem guten Christenmenschen übelnehmen, daß er dieser fehlerhaften Einrichtung etwas nachhilft und auf eigne Faust mitten in den Trubel der Woche so einen lachenden Tag pflanzt. Heilige hat es genug, so wird es nicht allzu schwer. Diese vernünftige Ansicht fand auch in Steindorf Anhänger, und obwohl der kleine Ort keine Kirche und darum auch keine Chorsänger hat, feiert man am 17. November jedes Jahres das Fest der heiligen Cäcilia.

Auch in diesem Jahre hat »Franke, der dicke Schenke«, der Gemeinde angezeigt, daß, wie üblich, von abends sieben Uhr ab die Feier vor sich gehe.

Der Gasthaussaal ist mit Tannengrün geschmückt, die vier Schirmlampen an der Balkendecke sind blank geputzt, und die stattliche Reihe der Bierfässer, die die ohnehin schmale Hausflur noch mehr verengen, zeugen von dem festen Vertrauen, das der Alte in die Andacht der Gemeindemitglieder zu setzen gewohnt ist.

Mit dem zunehmenden Dunkel treffen die Gaste ein. Als acht Uhr vorüber ist, füllt den Saal eine bunte, fröhliche Menge. Die vier Decklampen ringen schon verzweifelt mit dicken Rauchwolken. Zwei Burschen und zwei Mädchen mit weißen Schürzen und ebensolchen, Tüchern in der Hand traben an den Tischen auf und nieder. Sie sind in hoher Erregung und ziehen in einem Ernst der Mühsal Augenbrauen und Ohren in die Höhe. Bei einer Bestellung fahren sie erschreckt herum, als erhielten sie einen Schmitz mit der Peitsche, langen ein leeres Trinkgeschirr aus dem lärmenden Haufen und eilen zum Schenkhaus. Der »Melittenverein«, niemand weiß, wie die Musiker des Dorfes zu diesem Namen gekommen sind, sitzt in ruhiger Erwartung hinter den Gitterstäben des erhöhten Chores. Die Tanzlustigen sehen mit leuchtendem Gesicht nach ihnen hin und nicken ihnen freundlich zu. Als Gegendank nötigt dieser und jener Melitte seinem Instrument irgendeinen Ton ab. Die rechte Saalseite wird von den Verheirateten eingenommen. Die Väter sitzen da, schlagen auf den Tisch und erzählen. Die Mütter lächeln. Manche halten kleine Kinder auf dem Schoße, Mädchen oder Knaben von vier bis sechs Jahren, und geben ihnen Bier oder Schnaps zu trinken.

Auf der linken Seite sitzen die Ledigen; auf einer langen Bank die Mädchen, durchweg hübsche Gesichter, die Hände auf der Schürze gefaltet, die Front dem Saale zugekehrt. Die Burschen, zu dichten Haufen geballt, rauchen mit Aufbietung aller Kräfte, trinken fleißig, lachen und sprechen überlaut, um die Aufmerksamkeit der Mädchen zu erregen, denen sie manchmal aus ihrem Glase schenken.

Durch die offene Tür schauen viel sehnsüchtige Gesichter, Knaben, kaum der Schulbank entronnen; »Halbschädel« nennen sie die Bauern. Sie werden von den Aus- und Eingehenden verächtlich beiseitegestoßen und lächeln dazu, halten sich aber durch heimliches Rauchen und Schnapstrinken für diese Ausgeschlossenheit schadlos.

Kurz vor Anfang des Balles wird ein kleiner Tisch vor das Chor der Melitten gestellt, und ein junger Mensch nimmt an diesem überall sichtbaren Orte Platz. Der Fremde trägt einen modischen, grauen Anzug. Sein starker blonder Schnurrbart ist in kecke Spitzen gedreht, und die scharfen Augen mustern mit geringschätzigem Lächeln die Reihe der altfränkisch herausgeputzten Weiblein; den Mädchen nickt er mit vielsagendem Blinzeln zu. Dann erinnert er sich mit einem Zusammenfahren, daß er im Gasthaus sei und sofort trinken müsse. Da er keinen dienstbaren Geist erblickt, erhebt er sich, macht eine kleine Kniebeuge, um die Hose zu ordnen und geht dann mit Schritten, denen er durch ein Knicken der Beine Eleganz verleiht, nach der Mitte des Saales, alles aufs neue mit verletzendem Staunen musternd. Er ist seit vier Wochen von seiner dreijährigen Militärdienstzeit auf die einspännige Wirtschaft seines Vaters in dem vier Stunden entfernten Tannerau »mit den Knöpfen« zurückgekehrt und noch voller Nichtachtung des Zivilstandes und aller bürgerlichen Beschäftigungen, einer Nichtachtung, die er in die lächerliche Kopie eines Leutnants seiner Schwadron kleidet. Er geht in dem hellen Kreis der vier Decklampen mitten im Saal umher, zwei Finger der rechten Hand unter das festzugeknöpfte Jackett an der Brust, den Daumen der Linken in der Hosentasche eingehakt, und ist scheinbar in tiefe Gedanken versunken, aus denen er beim Vorübergehen der Personen mit einem zornigen Gesicht aufschrickt.

In Wahrheit labt er sich an der aufgeregten Neugier der Gäste, die gerade bei den Mädchen und jungen Burschen sehr stark und mit einer leisen Scheu verknüpft ist. Aber, seien es nun die großen Stiefel mit den Wülsten überflüssigen Leders allein; sei es das schlürfende Ausschreiten, das immer mit einem starken Schlag der Absätze abschließt; sei es die ganze Haltung oder die Art, den Kopf mit vorsichtiger Behutsamkeit aus dem Körper zu strecken, genug, irgendeiner der jungen Leute hat durch den plumpen Betrug hindurch sein wahres Wesen erkannt und ruft: »Der Lindentritt vom Plane!«

Das entfesselt ein tolles Gelächter. Der Graue macht eine leidenschaftliche Wendung nach dem Schenktisch hin, als habe er in seiner Güte nun doch lange genug auf die Bedienung gewartet, und schreit in den Lärm: »Kellner! verflucht, Kellnerr!! Eine Echte! 'n bissel anwärmen!!« Dann kehrt er gelassen an seinen kleinen Tisch, wendet dem Saal den Rücken und starrt auf die Melitten.

»Kellnär! verflucht, Kellnäär!! firn Böhmen ne Flasche voll Wein, aber gut voll!!« ruft es nach einer Weile aus der Mitte der Burschen.

Der Fremde reißt ruckartig den Kopf herum und verfärbt sich, ohne indes weiter auf das Gejohle, das diesem Spotte folgt, zu achten. Nach einer Weile bringt ihm ein Markeur helles Lagerbier und stellt es vorsichtig auf einen Fleck des Tisches, den er vorher mit dem Handtuch gesäubert hat. »Hm«, beginnt der Graue mit einem wütenden Blick auf das Getränk, »ich hätt' mirsch ja denken kennen, daß hier kein Echtes hat.« – »Was sind das fir Rotzleffel da hinten?« schreit er dann den Kellner an, daß es durch den Saal schallt. Der angeredete junge Mensch dreht das Handtuch krampfhaft und entfernt sich räuspernd, ohne zu antworten.

An dem Tische der jungen Burschen stößt man geräuschvoll an: »Nach, 's Echte schmeckt gutt, a wing dinne is ja, und in der Gurgel kratzen tut's auch; aber 's schadt nischt, 's kost bloß de Hälfte!« Der Fremde wendet sich aus Rache an die Mädchen: »Heute woll mr aber mal schneidig tanzen!«

Der Schenke ist schon in Erregung und beobachtet den Streit mit steigendem Zorn, weiß aber noch nicht, auf welche Seite er ihn entladen soll, und außerdem ist es ja auch erst Gerede.

Plötzlich schweigen die Stichelreden, und alles schaut nach der Tür. Der alte Förster, ein spindeldürrer Witwer, in sehr engen, grünen Hosen und einem grauen Vollbart, der wie ein Kuchen auf seinem Uniformrock liegt, nötigt ein sich sperrendes Mädchen durch kräftiges Schieben an den Achseln in den Saal.

»Immer rein, immer rein! solche kenn se heute dahier gut gebrauchen!« redet er gedämpft und schaut verliebt unter den Brillengläsern auf sie. »Das is recht, immer los, Herr Förster, recht, 's fengt glei an«, mischt sich der Schenke erfreut über den plötzlichen Umschlag der Stimmung in die Angelegenheit und vollendet mit einem Schmunzeln auf das Mädchen hin: »Ein Dingel, wie 'ne Kersche!«

Die Köpfe der Gesellschaft fahren in die Höhe, erstaunt über den plötzlichen Abbruch der Feindseligkeiten. Als sie das Mädchen erblicken, zischelt es durcheinander: »Die schlesche Marie!«

Die Burschen an den Tischen werden vergnügt, und Marie steht noch nahe am Ausgang allein, weil der Förster hinweggeeilt ist, seine Sachen unterzubringen, und weiß nicht, wo sie sich hinsetzen solle, oder ob sie nicht lieber wieder hinausgehe. Sie bereut es, dem Förster nachgegeben zu haben; aber sie fühlt sich von den Blicken, die auf sie gerichtet sind, zurückgehalten.

Eben hat sie die Macht dieser neugierigen Augen über sich gebrochen und wendet sich unmerklich, um unbeachtet wieder hinauszuschlüpfen, da zählt der graubärtige Obermelitt schnarrend: »Eins, zwei, drei!« und die Musik setzt ein, die Töne eines veralteten Marsches fahren belebend unter die Gäste, Marie fühlt sich von hinten umfaßt und gewahrt, erschreckt herumfahrend, den alten Förster, der in feierlicher Umständlichkeit etwas durch die Nase redet und dabei ihren Körper ohne weiteres in seinen Armen zum Tanz zurechtrückt und sie dann durch den Saal zu drehen beginnt. Wie auf Verabredung beteiligt sich anfangs niemand am Tanze. Die Burschen sehen gespannt dem Paare von ihren Plätzen aus zu.

Der Alte denkt, man achte sein wichtiges Staatsamt, und bemüht sich, eine möglichst imposante Figur zu machen, indem er in streng soldatischer Haltung durch den Saal trabt, hin und wieder zierlich mit den Beinen nach hinten ausschlagend. Der Graue verschlingt Marie mit den Augen. Die Musik schweigt, nur eine Klarinette gibt einen scharfen Seufzer zu. Die Burschen klatschen und schreien: »Bravo!«

Der Grünrock, mitten im Saale neben Marie stehend, verneigt sich dankend und führt dann das Mädchen nach kurzem Überlegen an den kleinen Tisch des Grauen, mit einem herrischen »Gestatten« herantretend. Der Fremde fährt salutierend in die Höhe und stammelt mit verbindlichem Lächeln: »Ah, ja, ja!« verbeugt sich und rückt an die Kurzseite des Tisches. Dann schaut er schnurrbartstreichend im Saale umher, ob auch alle sein schneidiges Auftreten bemerkt haben.

Aber nun wogt der entfesselte Tanz. Einige hüpfen wie Irrlichter durch die wirbelnden Wogen, tauchen kreisend auf und verschwinden wieder. Dieser schiebt sich langsam, steif wie ein wandernder Stamm hin; jener galoppiert im Laufschritt vor und zurück und reibt dabei seine Stirn an der der Tänzerin. Dieser setzt alles daran, ein Fragezeichen zu imitieren; jener hängt alle Augenblicke zappelnd zwischen Himmel und Erde. Der Baß knurrt, das Horn hustet heiser und unregelmäßig, die Klarinette gellt schrill wie jemand, dem ein Gewächs aus dem Leibe geschnitten wird, und wetteifert mit der Violine, die ein schmerzvolles Wimmern von sich gibt. Dazu wirbelt die Trommel, als schütte jemand zur Feier des Tages Lesesteine in ein Holzschaff. Die Melitten betreiben mit äußerster Anstrengung ihre Kunst. Der Wirt blickt bewundernd zu ihnen hin.

Die Augen der Weiber bemühen sich, jedem Paare nachzueilen. Die Familienväter schlagen mit der Faust und dem Absatz den Takt, und die Halbschädel avancieren vor Staunen in den Saal. Die Stimmung ist im Fluß; jeder tut das seinige mit ganzer Seele. Als die Burschen nach einem Tanz auf ihre Plätze zurückkehren, staunen sie nicht wenig, auf der Bank den Klumpen und neben ihm Schuster-Guste, hinter dem Tisch sitzend, zu treffen. Sie haben jeder ein Glas Lagerbier vor sich stehen, und der Lahme hört dem Schuster zu, der heftig gestikulierend auf ihn einspricht.

»Nu da schlägt's voll'ds fufzehn«, schreit der Witzbold unter ihnen, der rote Klenner, ein vierschrötiger Holzknecht mit kleinen, blinzelnden Augen unter wulstigen Brauen, »heute is alles meglich! Paßt uf, entweder kriegen Freirichters Pferde über Nacht Hörner, oder der Schenke tritt sich of a Bauch; irnd was passiert heute. Da is ja gar Karle da! Nu, gutn Abend, alle zwee!«

Alles lachte aus vollem Halse, setzte sich zu den beiden an den Tisch, und nach einer Weile begann man, ohne Namen zu nennen, allerhand Scherzreden, die sich offenbar auf den Klumpen bezogen. Der zog sein mürrischstes Gesicht, und als das nichts half, ergriff er das Glas, trank einen langen Schluck und hieb es dann auf den Tisch, daß das Bier umherspritzte. Das machte die Übermütigen stutzig. Unter leichtem Wortgeplänkel zogen sie sich von dem Lahmen zurück und widmeten dem Bier, dem Tanz und den Mädchen wieder ihr ausschließliches Interesse. Der Klumpen atmete erleichtert auf und befühlte seinen Hals.

»Verdammtes Zeug, so ein Kragen!« knurrte er mißvergnügt. »Is'n der Schlips noch drane?« »Freilich«, antwortete der Schuster, »wie's sein muß. Wenn se dich sieht, du siehst just aus.«

»Du sollst mr davo nich reden!« »Nu, deswegen sein mr doch hergekommen.«

»'s Maul sollste dadriber halten, wenn's jemand hört.«

Dann starrte er trübe vor sich hin. Er fühlte sich unbehaglich unter den vielen kinderfrohen Menschen und fragte sich, wozu das eigentlich alles sei.

»Du mußt a wing uftaun«, begann der Schuster wieder an ihm zu schulmeistern, »lustig sein, trinken, da und dort hin reden, dich umtun. Sonst ...«, er machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann setzte er sich näher zu seinem mürrischen Ohr. »Ich weeß Bescheid. Wie ein Jude muß eener reden. Aso hans die Mädel gerne.«

Der Lahme erlag dem qualvollen Gefühl, von allen ausgeschlossen zu sein, und erhob nach einer Weile sein Gesicht, um irgendeine hämische Bemerkung zu machen, ließ aber kalt den Kopf sinken.

Der Schuster hatte ihn zum Besuch des Cäciliaballes beredet, weil er sich erst den nötigen gesellschaftlichen Schliff holen müsse, ehe er daran denken könne, mit Marie anzufangen. In Wahrheit aber lag dem armen Schuster das meiste daran, auf des Lahmen Kosten mal ordentlich zu tanzen, zu trinken und zu rauchen. So stieß er wieder mit ihm an.

Der Klumpen schluckte Verwünschungen über den »Saufsack« in sich und verfiel, ohne das Glas zu berühren, noch tiefer in seinen Kummer.

Der Schuster winkte einem Markeur, und als dieser nicht hörte, erhob er sich mit dem leeren Trinkgefäß und wanderte, bald an diesem, bald an jenem Tisch seine Späße anbringend, zum Schenkhaus, ließ sich das Seidel füllen, leerte es hastig, begehrte noch ein zweites und begab sich dann trällernd wieder an seinen Platz.

»Nach«, stieß er plötzlich den Klumpen an die Seite, »da sieh, wie der, der mit dem grauen Anzüge, mit der Marie redt, und wie se lacht! Sieh drsch an, a so wird's gemacht.«

Der Lahme schielte unter seinen gesenkten Brauen nach dem kleinen Tische hin und musterte den Fremden lange und scharf.

»Ein Zappelmann is das«, erwiderte er dann in grimmiger Verachtung, »was der kann, kann ich schon lange. Mit eener Hand hau' ich dr den zusammen wie een jungen Hund. Dadruf kannst du dich verlassen.« Er trank und stieß einen rauhen Laut des Hohnes aus, den Schuster von der Seite ansehend. Dieser saß schweigend da, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und blies lange Rauchwolken von sich. Er war plötzlich wie verwandelt und starrte verloren auf Marie. Sein Gesicht trug dabei einen tiefen Zug des Leidens.

»Schuster«, raunte der Lahme, weil er eine unbestimmte Empfindung hatte, dieses auffällige Betragen könne ihn bloßstellen; aber der Schuster rührte sich nicht. »Schuster«, wiederholte er und trieb, da sein Freund noch nicht hörte, die Faust in seinen Oberschenkel. »Du sollst nich in eem Biegen of se sehn!«

Schuster-Guste fuhr herum und lächelte glücklich wie abwesend. Plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht:

»Laß mr de Vögel fliegen, ma kriegt se doch nie«, sagte er und schüttelte die schwere Stimmung von sich ab. »Trink, trink, Karle, trink, sag ich dr! Nee, nee, da hab' och gar keene Bange, ich bin ein armes, unglickliches Luder.« Der Klumpen glaubte, der Schuster sei betrunken, weil er so wirr redete, und fuhr grob auf: »Guste, ich seh's, wo's hinwill, 's Beste is, ich geh heem!«

In demselben Augenblick trat der Kellner an den Tisch und sah den Klumpen groß an.

»Na, was willst du?« purrte er dem jungen Menschen ins Gesicht. Der Kellner lächelte. »Putt, putt sollste machen«, erwiderte er und bewegte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand auf dem Tisch, als zähle er Geld. In demselben Augenblicke wurde er von hinten gestoßen, daß er halb über den Tisch flog. Die Burschen kehrten vom Tanz zurück und suchten erregt ihre Plätze. Die meisten hatten zornige Gesichter.

»Die Zähne im Halse ahinter muß ma dem Esel schlagen!« schrie ein kleiner Mensch mit gelbem Gesicht und schwarzen, straffen Haaren.

»Ja, ja, wenn er aus Zucker wär, spräch ich: alla faß, Tone, friß a«, höhnte der lange Klenner.

»Och, du lamscher Labander, hat er dich nich auch gerannt, he? und du hast drsch eingesteckt, da höhner du andre«, gab giftig der Gelbe zurück. Der Schuster fuhr schlichtend dazwischen: »Laßt das Gezanke! Was hat's denn? Wer stößt denn?«

Und nun erzählte man ihm von dem Grauen, wie er sich frech benommen, daß er beim Tanzen jeden anrenne, »lappsches Zeug« rede und in einem fort mit Marie tanze, als habe er sie gepachtet. Kein andrer komme an das Mädchen, und sie gehöre doch nun mal nach Steindorf. Es sei eine Schande für alle, sich von einem Fremden so etwas bieten zu lassen.

Aber da trat Scholz Joseph, ein Knecht des Freirichters, auf die Seite des Grauen: »Was geht uns die Schlesche an, die herrsche Prise, wegen dem Mensche rihr ich keen Finger.«

»Hiels Maul«, fiel ihm Klenner ins Wort, »das verstehste nich, weil du kee Ehrgefühl hast. Ein Affe biste.«

Schuster-Guste nahm die allgemeine Erregung in seine Hand.

»Seid ihr alle einverstanden, da laßt mich machen. Ich hab nich umsonst in Berlin uf dr Chausseestraße jearbeet, ick weeß, wat een Panoptikus is. Laßt mich machen, ich weer'm den Kohl versalzen ohne Prigel, daß er abzieht wie een begoßner Pudel.«

»Ich bin der Meinung, daß man dem Zappelmann einfach die Ohren runterreißt.« Damit mischte sich der Lahme in den Disput.

Allein die meisten waren der Ansicht, den Schuster machen zu lassen, und sollte es schlimm gehen, so sei draußen vor der Tür noch immer Zeit zum Hauen.

Übermütig lachend, in der angenehmen Erwartung eines tollen Streiches, standen alle auf und traten zum Tanz an.

Die beiden blieben allein am Tisch zurück, der Lahme und der Schuster. »Und ich?« fragte der Klumpen, als der Tanz in vollem Gange war. »Du?« antwortete der Schuster, »verlaß dich of mich, nie lange dauert's, und die Marie sitzt zwischen mir und dir.«

Der Lahme erbleichte in frohem Schreck, bewegte aber ungläubig den großen Kopf. »Aber Trinken muß ma, da derf ma eene Mark nich ansehn. Knausern geht da nich.« »Hab' ich nich ...?« »Ja, ja, freilich haste bezahlt, aso meen ich's ja och nich. Aber jetze fängt's erscht orndtlich an. Und dann wirstes sehen, daß ein Glücke fir dich war, daß mr heute sein hergegangen. Das hab' ich mir freilich nich träumen lassen, daß de Marie wird selber da sein.«

Beide blickten wie auf ein Zeichen nach dem kleinen Tische vor dem Chor der Melitten hin und sahen, wie der Fremde Marie an der Hand dahinführte, weil eben eine Tour beendet war.

»Paß uff, so machen s'es in Berlin.« Der Schuster ergriff heftig das Glas, leerte es, atmete schwer aus, stieß die andern beiseite und schritt quer durch den Saal direkt auf den kleinen Tisch zu.

Der Klumpen fluchte voll Bewunderung. Die andern Burschen verfolgten gespannt den ganzen Vorgang. Der verteufelte Schuster redet mit dem alten Förster, sogar mit dem Grauen, und dann beugt er sich zu Marie nieder und spricht lachend an ihrem Gesicht hin, wobei er abwechselnd elegant die Füße nach hinten bewegt. Das Mädchen nickt endlich. Da wirft er sich in die Höhe und klatscht in die Hände.

Der Obermelitt stößt anführend in die Trompete, und die andern Instrumente folgen. Ein Galopp prasselt durch den Saal. Keiner der Burschen rührt sich, um ja nichts von dem Folgenden zu verlieren. Der Schuster ergreift Marie und schießt wie ein Pfeil dahin.

Das muß man sagen, er kann's wie keiner! Jetzt jagt er links um den Saal, dann wieder rechts wie ein Roß, mit scharf klappernden Hackschritten; nun wirbelt er in der Mitte auf einem Fleck; dann gängelt er mit wiegendem Oberleib das Mädchen vorwärts, darauf zurück, jetzt eilt er wippend umher; bald sprengt er wie ein Reiter; bald dreht er mit ausgebreiteten Armen wie eine Windmühle; er trippelt wie eine Bachstelze, kollert hin wie ein Puter und scharrt tänzelnd wie ein Hahn. Die Melitten schielen über die Notenblätter auf ihn hin und erregen sich an seinem Feuer. Der Takt wird schneller, wilder. Endlich wütet jedes Instrument in wilder Leidenschaft. Im Taumel der Raserei bricht das Stück jäh ab.

Der Schuster stampft auf und bleibt eine Weile erschöpft stehen. Die Burschen brechen in einen Jubel aus: »Hoch, Schuster! He, Musik, hoch! Hoch de Marie!« Die Melitten blasen einen Tusch.

In diesem Lärm führt Klose das Mädchen zurück. Seine Augen schimmern, er drückt ihr heiß die Hand, und in Verzückung flüstert er ihr zu: »Mariela, Mariela, ach Gott, Mariela!« Das Mädchen verstand seine Worte nicht, aber den Druck seiner fiebernden Hände, riß sich los und lief die paar Schritte zu ihrem Sitz, allein und schnell.

Der Schuster folgte ihr mit einem langen Schritt und hatte schon die Rechte erhoben, sie sich neckend wieder einzufangen, als der alte Förster sich nach ihm umwandte und mißbilligend sprach: »Schuster-Guste, wissen Se, so was is nich Tanz, das is Mord.«

Das riß den Schuster aus seinem Rausch; er fuhr mit seiner rechten Hand weiter in die Höhe und kraute sich in den Haaren seiner Schlafe, während er aus Verlegenheit eine tiefe Verbeugung machte und ging. Der Graue lächelte geringschätzig, dann beugte er sich zu Marie und fragte sie laut: »Aber den nächsten Tanz tanz' mir wieder. Solche alte Schuhe kann man nich lange riechen.«

Im Wegschreiten hörte der Schuster diesen Spott, und mit dem Zorn des Rivalen trat er zum Tisch des Klumpen, wo man ihn froh umringte. »Laßt och sein! Aber 's is noch nich alle, nu fängt's erscht an«, sagte er, sich zum Klumpen durcharbeitend.

Es folgte eine lange Auseinandersetzung, in der der Schuster mit Aufbietung aller Redegewandtheit und seinem Vorrat an krausen Gesten den Klumpen endlich überzeugte. Der Lahme zog in einem Moment, da die Aufmerksamkeit der meisten Burschen sich woanders hin richtete, den Geldbeutel aus der Tasche, grub unentschlossen darin umher und reichte dem Schuster etwas, das dieser aber nach einem prüfenden Blick abwies. Schmerzbewegt legte der Lahme noch etwas hinzu, und der Schuster stand auf und bestieg triumphierend das Chor der Melitten. Nach einer kurzen Verhandlung mit deren Oberhaupte erdröhnte ein Trompetenstoß, und der Obermelitt verkündigte: »Eine halbe Stunde Freitanz für de Steindorfer!« Dann trat eine lange Pause ein.

Diese Außergewöhnlichkeit versetzte selbst die Männer an den Tischen in hohe Aufregung, die jungen Burschen aber waren glücklich in ihrem Übermut. Der Klumpen erschien ihnen wie ein Heros. Der achtete aber auf kein Lob, auf keinen staunenden Ausruf, sondern saß steif da, mit aufgestemmten Ellenbogen, und starrte stumm mit grimmig verkniffenem Gesichte in den Lärm. Der Schimmer seiner kleinen Augen war böse, wie Verachtung.

Der Graue stierte ab und zu düster ins Leere und zwang sich dann zu krampfhafter Lustigkeit mit Marie.

Als die Melitten endlich ihre Instrumente wieder erfaßten und der Schuster entschlossen auf Marie zuschritt, schrie der rote Klenner: »Geh und hol' dir den Besen!« Die Musik verschlang das wiehernde Gelächter des ganzen Saales. Der Graue ward bleich vor Wut, biß die Zähne zusammen, rauchte, daß die Funken flogen, und trank hastig und viel.

Bei jedem Tanz wiederholte sich der gleiche Spott. Endlich konnte sich der Graue nicht mehr halten und schrie in den verstummten Saal: »Hoch lebe das Paschen, Holzstehlen und Raubschützen! Das brengt noch was ei!«

Die Sache nahm eine Wendung, wie sie dem Schuster nicht paßte. Er überlegte, was zu tun sei, um alles zu dem Ende zu führen, das er seinem Freunde versprochen hatte. Aber da brach der Wortkampf noch erbitterter los. Aus der Ecke erschallte es: »Ei Tannerau geht alles fechten bis of a Scholzen. Der bleit drheeme und flickt de Bettelsäcke.«

Der Fremde fragte schreiend den Förster: »He, Sie missen's am besten wissen, dahier melkt alles de grine Kuhe!« Der Förster, der die Worte ganz genau gehört hatte, gab sich den Anschein, als habe er die Anrede nicht auf sich bezogen, nahm einen tiefen Schluck aus dem Glase, unterbrach sein Trinken plötzlich und fragte ihn dann, wie belustigt: »Meinten Sie mich, junger Mann?«

»Nu freilich, 's hat doch weiter keen Förster nie hier ei'm Saale.« Das sagte er patzig; aber nur weil er sich durch eine freundliche Antwort lächerlich zu machen glaubte.

»Wo haben Sie Ihr Taschentuch?« fragte der Förster in amtlicher Art, ohne sich seinen Ärger anmerken zu lassen. Der Graue wurde verwirrt, riß sein Schnupftuch heraus und schüttelte es dicht vor des Försters Nase: »Da! Haha, das hab' ich noch nie gewußt, daß dahier een Taschentuch a so was Seltnes is.«

»Ich dacht', Sie hätten keins«, erwiderte der Förster jetzt mit schneidendem Sarkasmus. »Denn Ihrer Nase sieht man's nicht an, und bei der Gelegenheit können Sie sich auch hinter den Ohren abtrocknen.« Und als der Fremde zu einer Grobheit ausholte, kam über den alten Grünrock die lange zurückgehaltene Wut. Seine Halsadern schwollen daumendick an.

»Halten Sie's Maul«, schrie er und sprang auf, »wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der Königliche Förster Knölle aus Steindorf, und wo der is, da hat's nischt von Holzstehlen und Raubschützen ...«

Auf einen Wink des Gastwirts blies die Musik einen Tusch, während welchem die beiden Männer auf einander einschrien. Dann ging die Fanfare in einen Tanz über.

Der Schuster trat heran und bat Marie um einen Tanz. Als sich das Mädchen erhob, riß der Graue den Kopf herum und maß sie einen Augenblick mit zornfunkelnden Augen, um sich dann zurückzuwenden, wer hinter seinem Stuhle stehe. Er kannte den Schuster, schrie: »Immer los!« und versetzte dem Mädchen unter dem Ausruf: »So ein Mensch wär's wert, daß ich mich ... so 'ne Darre!« einen so heftigen Stoß in die Seite, daß sie einige Schritte taumelte und dann in zähem Fall hinschlug.

Die Musik verstummte wie mit einem empörten Aufschrei. Ein Augenblick starrer Beklemmung folgte der Roheit. Alles sah schweigend auf das Unbegreifliche.

Ein Schrei, ähnlich dem, mit welchem ein wild gewordener Stier die Ketten seines Standes sprengt, zerriß die Stille. Dumpf fiel ein Tisch zur Erde, Gläser zerschellten am Boden, und mit holperndem Schritt eilte der Lahme vor das Chor. An dem kleinen Tisch hielt er an. Sein Gesicht war aschfahl; seine Augen standen wie tot im Weiß, nur ihr Zittern verriet Leben. Durch den halbgeöffneten Mund stieß rauschender Atem. Zorn schüttelte die ganze knochige Gestalt. Der Fremde bemühte sich zu lächeln, wurde aber bleich bis hinauf in die feuchten Haare. Ein Stutzen. Ein sekundenlanges Sichmessen. Nun sauste wie ein riesiger Stein des Lahmen Faust auf den Kopf des Grauen.

Lautlos, blutüberströmt, brach er zusammen. »Das is vom Bettelmann!« »Und das is vom Holzdiebe!«

Mit diesem zweiten rauhen Ruf packte der Klumpen den Ohnmächtigen und warf ihn in mächtigem Schwünge auf die Hausflur.

Und dann sah er erstaunt an sich nieder wie neugierig, als betaste er mit seinen Blicken nicht sich, sondern etwas Fremdes.

Da fiel sein Auge auf die ohnmächtige Marie. Mit dem Gesicht gegen die Erde lag sie da wie eine Tote. Aus ihrer Stirn sickerte Blut und bildete eine kleine Lache.

Er betrachtete sie aufmerksam, ohne sich zu regen. Dann lächelte er glücklich, und endlich unter einem rauhen Jubelruf beugte er sich nieder, hob das Mädchen auf, hielt sie gegen das Licht und bedeckte das blasse, schöne Gesicht mit heißen Küssen.

Sein Leib bebte, als er sich behutsam mit seinem Raube der Saaltür zuwandte und im Dunkel der Hausflur verschwand.

Kaum war er draußen, so sprang der alte Förster Knolle in die Mitte des Saales und rief mit Kommandostimme: »Silentium!«

Er war gewissermaßen der oberflächlichen Amtsführung durch den Grauen bezichtigt worden und glaubte als Staatsbeamter sich verpflichtet, die öffentliche Ordnung zu verteidigen, kurz, ihn trieb es, seine berühmte Rede zu halten.

»Silentium!« wiederholte er mit drohender Stimme, da sich Stimmengewirr erhob, und murmelte in den Bart: »Ich wer euch die Kappe mal lausen, ihr verfluchten Hunde!« »Silentium!« brüllte er das drittemal. Aber niemand sah erst auf ihn hin. Man saß an den Tischen und unterhielt sich heftig gestikulierend. Knölle sah sich betroffen um; endlich raffte er sich doch auf und hielt seine Ansprache über Keilerei, Anstand, Demangthie, rabiate Rotzlöffel, Wildzaun, Kultur, Nadelhölzer, Bismarck, Holzabfuhr, Luther und schloß mit einem dreimaligen Hoch auf »Seine Majestät, den allergnädigsten Kaiser«. Darauf begab er sich in soldatischer Haltung an seinen Platz. Die Melitten bliesen einen Tusch, der Wirt bedankte sich für die »scheene Rede«, und bald drehten sich die Paare wieder unter den rotleuchtenden Deckenlampen hin.

Der Klumpen hatte Marie bis ans Tor des Freirichtergutes getragen und, weil sie das Bewußtsein noch immer nicht wiedererlangt hatte, ihre Stirn mit dem Reif des Grases bestrichen. Endlich, mit einem gähnenden Laut, öffnete sie die Augen und blickte erstaunt um sich.

»Was willst'n du da?« sprach sie zu dem Manne, der, neben ihr kniend, sie umschlungen hielt und fortwährend murmelte: »Mariela, wach uf, wach uf.« Sie riß sich los und sprang erschreckt auf; auch der Klumpen erhob sich. »Sei och stille, siehch, Mariela«, redete ihr der Lahme zu, »ich bin Exner Karla vo dahier«, und nun erzählte er ihr alles, was sich zugetragen hatte. Sie erinnerte sich an den Vorgang, unterbrach ihn mit den Worten: »Da bin ich noch lange nie ›Mariela‹, verstehste! Ich dank dr scheen fir alles, und dadermit is gut«, drehte sich um und drückte prüfend auf die Falle der kleinen Hoftür, um hineinzugehen. Der Lahme faßte sie am Arme: »Mariela, siehch och, ich dächte, es wird dich halt nie viel nutzen, denn ich ...«

»Ach du! Hab' ich der nie gedankt?« »Nach, iberleg dir's; du mußt –. Sonntagnachmittag kommst de zum Klose Schuster, gell och. Da kenn mr ja 's andere bereden.«

»Was bildst du dir denn ein!« erwiderte Marie entrüstet.

»Um dreie rum; ich wart auf dich«, sprach der Klumpen leise, aber bestimmt, und als er sah, wie das Mädchen, ohne zu antworten, hinter der kleinen Hoftür verschwand, machte er sich ohne Mütze schweigend auf den Heimweg.


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