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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Die ältesten Badenser hatten solche Ausfahrt noch nicht gesehen: Zweiundzwanzig mit der Elite der Badegesellschaft gefüllte Wagen, bespannt mit ausgesuchten Pferden, auf deren Köpfen hohe rote Püschel nickten, während die Hüte der Kutscher mit Tannenreisern geschmückt waren. So zog es die wundervolle, sanft ansteigende Iburgstraße hinauf, voran ein großer Wagen mit der Musik, welche, als der Forst nun den Zug aufnahm: »O Thäler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald« – intonierte.

Ja, du schöner grüner Wald! Heute war's keine poetisch-musikalische Phrase; heute war's volle, in heiliger Kraft prangende Wirklichkeit, die ihre Zaubermacht selbst auf Koras Herz übte, ihr wenigstens, wie sie so still den fröhlich Plaudernden gegenüber saß, auf Augenblicke die Last erleichternd, die sie vom Busen wegzunehmen nicht vermochte. Aber wie stimmte auch alles so ganz, so buchstäblich zu dem herzigen Text! Wie blauten so weit die Thäler! wie ragten so stolz die Höhen! wie schön und grün war der Wald! Als wäre er eben aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen und stünde stumm, erschrocken über seine eigene Herrlichkeit! Und wie wogte die wonnige Melodie durch die mächtigen Stämme, feierlich verklingend unter dem endlosen Gewölbe ineinander verschlungener Wipfel! Ja, wahrlich: – »Schlag' noch einmal die Bogen um mich, du grünes Zelt!«

Noch einmal! Und dann wieder das alte liebeleere Leben ohne Pflichten und ohne Rechte an der Seite der Mutter, die ja jetzt, zweifellos unter Hildes unwiderstehlichem Einfluß, wie umgewandelt und willens schien, durch Freundlichkeit und Aufmerksamkeiten aller Art wieder gutzumachen, was in den langen Jahren viel zu schlecht geworden, um jemals wieder völlig gut werden zu können. Das traurige, thatenlose Leben! Nein, das durfte so nicht fortgehen. Mit aller Energie wollte sie den oft gemachten Versuch erneuern, sich einen Wirkungskreis zu schaffen, in welchem sie die brach liegende Kraft, die ihr jetzt zur Qual war, sich zur Freude, anderen zum Nutzen verwerten könnte. Krankenpflegerin? warum nicht? es waren es ja andere arme, oder sonst glücklose adlige Mädchen vor ihr geworden – im Augusta-Hospital und sonst. Weshalb sollte ihr das Escheburg nicht vermitteln können, wie der unglückseligen Ellinor? Sie war ja gesund und stark und sie hatte Talent zur Krankenpflege – Escheburg hatte das ja erst neulich rühmend anerkannt.

Tiefatmend blickte Kora auf. Der Zug hatte Halt gemacht an einer besonders schönen Stelle. Mehrere Herren kamen an den Wagen, unter denselben Herr von Steinbach. Er, der jeden Fußbreit Landes kannte, deutete die sich kreuzenden Wege, nannte die Höhen und die Ortschaften in der Ebene. Ob die Damen von hier, wo die Chaussee eine Strecke ziemlich steil steige, nicht eine Promenade vorzögen? Hilde hüpfte sofort aus dem Wagen, gefolgt von Adalbert; Kora schützte Müdigkeit vor, um im Wagen bleiben zu dürfen. Der Zug setzte sich unter lauten Scherzworten und Hutschwenken hinüber und herüber wieder in Bewegung. Kora war froh, der Möglichkeit einer Promenade an der Seite Herrn von Steinbachs entgangen zu sein.

Der gute, großmütige Mann! Ach, sie kannte ja nur zu genau die Entstehungsgeschichte dieser Partie! In Steinbachs, nicht in Udos Kopfe war die Idee dazu aufgetaucht, am Abend eines der letzten schönen Tage in Hildes Salon. Die Iburg hatte lange Zeit hindurch den Steinbachs gehört; seine eigenen Besitzungen lagen noch heute an dem Fuße derselben. Das wollte er den Herrschaften zeigen, sagte er; aber sie wußte wohl: ihr wollte er's zeigen – ihr allein. Und eine größere Gesellschaft müßte es sein – eine kleine Gesellschaft auf einer Ruine in einer weiten feierlichen Landschaft, das mache so leicht melancholisch! Und hatte damit doch nur vermeiden wollen, daß man seine eigentliche Absicht herausfände, wenn er die Einladung auf einen kleinen Kreis beschränkte! Und nun, als seine Ungeduld dennoch die Entscheidung vor der Zeit herbeigeführt, anstatt sich schmollend zurückzuziehen, war und blieb er der Protektor der Partie, nur daß er klüglicherweise Udo vorschob und demselben die Ehren des Tages gönnte, dessen Kosten er allein trug. Das wäre ja alles in dem anderen Falle gut und schön gewesen, und sie hätte Ursache gehabt, stolz zu sein. Jetzt fühlte sie sich nur grenzenlos gedemütigt, empfand ihr Dabeisein als eine so große Unschicklichkeit – sie hätte am liebsten aus dem Wagen springen und in den Wald laufen mögen, sich im tiefsten Dickicht vor all diesen lärmenden, vergnügten Menschen zu verstecken.

Wußte Escheburg von Steinbachs Antrag? Es fehlte das noch, um das Maß voll zu machen. Und es war nur zu wahrscheinlich. Adalbert, der davon wußte, war ja mit Escheburg wieder vertraut wie in der besten Zeit. Mußte Escheburg nicht annehmen, daß sie um seinethalben Steinbachs Werbung abgelehnt habe? Und Hilde schien es sich fast in ihr Köpfchen gesetzt zu haben, eine Sache zu beschleunigen, die für beide, Adalbert und Hilde, ein zweifelloses Faktum sein mußte, von dem sie nicht begreifen konnten, weshalb die Betreffenden ohne jeden ersichtlichen Grund daraus ein Geheimnis machten. Ach, würde denn die schreckliche Fahrt nie ein Ende nehmen!

Da hielten die Wagen abermals; die Fußgänger stiegen wieder ein; nun ging's in flottem Trabe weiter auf fast ebener Straße, und da hielt man vor dem mit Fahnen und Gewinden zu einer Porta triumphalis umgeschaffenen Burgthor, empfangen von der vorausgesandten zweiten Hälfte des Musikchors.

Und, wie es geschehen, sie wußte es nicht: vor dem langen Zuge, der sich auf Udos Kommando vor dem Thor geordnet hatte, war sie die erste Dame, die nun, an Herrn von Steinbachs Arm, den Burghof betrat, vor ihr her die aus Leibeskräften den Brautmarsch aus Lohengrin blasenden Musikanten. Es konnte ja kein Hohn sein – davor schützte sie die ritterliche Gesinnung des Mannes an ihrer Seite – aber sie empfand es wie einen Hohn. Und es war ja auch gewiß alles Wirklichkeit; und doch kam ihr alles vor, als geschähe es, als sähe sie es in einem schweren Traum, aus dem zu erwachen sie angstvoll vergeblich strebte.

Und dann plötzlich erfaßte sie ein grimmer Zorn über ihre mutlose Schlaffheit, die sie verhinderte, fröhlich zu sein, wo alle Welt fröhlich war. Sie bat Udo, ihr von dem Buffett unter dem prachtvollen Zelt ein Glas Champagner zu bringen, und leerte es zu Hildes Ergötzen auf einen Zug, und noch eines, das ihr der Eilfertige aus der klüglicherweise gleich mitgebrachten Flasche sofort wieder füllte. Es war ja ein lustiges Leben, und dumm und kindisch, es tragisch zu nehmen. Weshalb gegen die arme Poly die Empfind- und Tugendsame spielen? warum ihr nicht die Gunst gewähren, um die sie schon dreimal schüchtern gebeten hatte, ihr »ihren Renner« vorstellen zu dürfen, der »vor Begierde brenne, sie kennen zu lernen?« Nun, er schien wirklich zu brennen, der Herr Geheimrat mit seiner Burgundernase in dem schwammigen Gesicht, der fuchsigen Perücke und dem übelgepflegten roten, bereits mit grau, wie mit Asche besprengten Bart. ›Sie habe den Doktor Gönnich kennen gelernt? seinen quasi Zögling und vielgeliebten Freund? Den trefflichen jungen Mann? Diese Zierde der Wissenschaft, welche die Berliner Universität sich habe entgehen lassen? Aber er werde die Herren Mores lehren; ihnen zeigen, wer Herr im Hause sei, die Fakultät oder das Ministerium, so wahr er Renner heiße! Hörst du, Poly? Wo ist denn – richtig! Da hat die Frau Baronin Krell, geborene Rosa Golde, sie schon wieder erwischt. Ein entsetzliches Weib! sie und ihre dicke Frau Mama, von der sie übrigens kaum noch zu unterscheiden ist. Der arme Krell! ich möchte nicht in seiner Haut stecken! Ein so flotter Offizier! ein geistreicher Mensch in seiner Art, jahrzehntelang bei Hofe enfant gaté. Und nun! Diese Mesalliance! Alliance israélite? he?‹

Und der Geheimrat lachte über seinen Witz und ließ sich Kora, die er entschieden bezaubert hatte, von Herrn von Steinbach, der ihr die Gegend von einem Altane zeigen wollte, nur entführen, wenn er dabei sein dürfe. Es schlossen sich aber noch andere an, in erster Reihe Frau Rosa und ihre Mama, die überall sein mußten, wo es etwas zu sehen gab. Und zu hören! Herr von Steinbach wußte alles so schön zu erklären! – Das Straßburger Münster könne man heute nicht sehen? wegen der Sonnenblende? Wie schade! Das kleine Nest da ist Steinbach? und da stammen Sie her? hörst Du, Rosa? – Und Erwin von Steinbach, der das Straßburger Münster gebaut hat, ist Ihr Vorfahr gewesen? Gott, wie interessant! Hast Du gehört, Mama? – Und das gehört alles Ihnen bis zum Straßburger Münster? hast Du gehört, Rosa? – Nicht ganz bis zum Straßburger Münster? noch fünf Meilen in der Luftlinie entfernt? nun ja, in der Luftlinie! Hörst Du, Mama! – Sie brauchen sich nicht über meine Rosa und mich zu mokieren, Herr Schwiegersohn! Woher sollen wir wissen, daß etwas in der Luftlinie so viel weiter weg ist, nicht wahr, Rosa?

Hier war die Stelle, wohin sie Herr von Steinbach hatte führen wollen, ihr seine herrliche Heimat zu zeigen und das reiche Erbe seiner Väter und dann zu sagen: willst du es mit mir teilen?

Nun, da er lachen konnte über die Albernheiten dieser Damen in diesem Moment, der die Karikatur des Augenblickes war, den er erträumt hatte, warum sollte sie es nicht ebenfalls? Dürfen nur die Männer sich souverän wegsetzen über die Dummheit der Menschen und die Tücken des Geschicks? Oder ist es auch einer Frau erlaubt, die Narren zu Narren zu halten und dem Schicksal zu trotzen, wenn sie den Mut und die Kraft dazu hat? Vor allem zu lachen, wo es etwas zu lachen gibt!

Warum nicht über den Bänkelsänger da, der sich, Gott weiß wie, in die Festgesellschaft gedrängt hat, und um den sich nun die Festgesellschaft drängt? Eigentlich ist es ja ein recht trauriges Bild: der alte verlebte zahnlose Mann, der – tänzelnden Schrittes sich vorwärts und rückwärts bewegend, auf einer verstimmten Guitarre klimpernd, an welcher die Risse im Resonanzboden mit Papier verklebt sind, – mit pomphaften Winkeloper-Gesten den banalen Text begleitet: »Das macht die Liebe, die süße Liebe!«

Der Bänkelsänger ist irgendwie verschwunden, aber sein Refrain hat eingeschlagen. Ueberall in der Gesellschaft, die nun wieder durcheinander wirrt, hört Kora: »Das macht die Liebe, die süße Liebe!« Es ist ein Schibboleth Sprachliche Besonderheit, durch die sich ein Sprecher einer sozialen Gruppe oder einer Region zuordnen lässt. (Das Wort ist hebräischen Ursprungs.) geworden. Man ruft es, wenn man sich begegnet, lachend einander zu. Die drei Gleichen, die sich einander untergefaßt haben, trällern es englisch in denselben falschen Tönen: 'tis love that does it; sweet love that does it! Verfasser des Textes ist Mister Fred Swalwell aus Manchester, ein flotter rothaariger junger Mann, der den lächerlichsten Kontrast zu seinem schweigsamen dunkeln brasilianischen Vetter bildet, und mit dem bereits Udo Hand und Handschuh ist. Udo bittet, Mister Fred mit einer Dame bekannt machen zu dürfen, die Mister Fred in den Briefen seiner drei Kousinen einstimmig als the sweetest of all, the most lovely and tiptop genteel bezeichnet ist. Der Major von Liebe findet endlich Gelegenheit, ihr Herrn Kammerherr von Pustow vorzustellen, der sich ein Verbrechen daraus macht, dies nicht bereits vor vier Wochen selbst gethan zu haben, als ihm das Glück wurde, dem gnädigen Fräulein ein Taschentuch, welches ihr auf der Promenade entglitten war, wieder zu überreichen. Ob er sich die Freiheit nehmen dürfe, ihr seinen jungen Freund, den Legationsrat von Binz, zu präsentieren, der gleicherweise vor Begierde sterbe » la belle« kennen zu lernen, die endlich heute aus den » bois dormant« sich zu den Menschen gesellt habe? Uebrigens ein Scherzwort, für das der Erfinder, Herr Assessor von Lengsfeld hier – ebenfalls einer seiner jungen leichtsinnigen Freunde – selbst um Verzeihung bitten werde.

Kora sah sich von einem Kreise von Herren umgeben, der sich immer noch vergrößerte: alten und jungen, unter denen, alt oder jung, kein Dutzendmensch war; keiner mindestens, der nicht irgend etwas, das zur Unterhaltung, zum Amüsement beitragen mochte, mit guter Laune, oft mit entschiedenem Witz, immer mit anmutiger Sicherheit und gesellschaftlichem Takt vorzubringen wußte. Und wenn sie für jede Frage eine Antwort fand, jeden Scherz mit einem Scherz erwidern, einen lustigen Angriff parieren, einen ernsthaft behaupteten Nonsens mit ein paar Worten dem Gelächter preisgeben konnte – beim Himmel, die zwei Gläser Champagner, welche sie vorhin getrunken, waren es doch nicht! Es war nur, daß sie durchs Leben gegangen war, eingesponnen in ihre Träume von einem Glück, das nirgends existierte, von Thaten, die nie geschehen konnten; von Menschen, die überall sein mochten, nur beileibe nicht auf dieser Erde, die doch auch wieder so schön war, – so schön sein konnte, daß ihre wirklichen Zauber die phantastischsten Träume beschämten. Oder war es nicht zauberhaft schön dieses Schauspiel des drüben hinter dem duftig blauen Wall der Vogesen versinkenden Sonnenballs mit all dem Glanz, den ihr scheidender Blick über den Himmel, die fernen weiten Thale, die nahen Gründe, die umragenden Berge, über die epheuumsponnenen Trümmer goß, auf denen die schauende Gesellschaft in andachtsvollem Schweigen stand? Mußte man nicht von Herzen in die bewundernden Rufe einstimmen, als nun, wenig später, aus den Bergen der volle Mond sich erhob, sein mildes goldenes Licht über die abendlichen Fluren hin zum Aether hinauf sendend, an dessen hochschwebenden Wolken eben erst der Purpursaum verblich? Und der sich nun auf Erden wieder zu entzünden schien in der roten Glut, die sich urplötzlich über den ragenden Turm, die zerbröckelnden Mauern, den Burghof breitete, um sich alsbald in ein mystisches Grün zu verwandeln, aus welchem, ehe es noch erloschen war, eine Feuerschlange aufzischte, im Zenith lautlos in regenbogenfarbige, erdwärts sinkende Sterne zergehend – das Signal zum Souper in dem mit bunten Lampions taghell erleuchteten großen Zelt inmitten des Burghofes?

Wie war sie gerade neben Escheburg zu sitzen gekommen, unter der von Palmen umgebenen, blumenbekränzten Kaiserbüste in der Mitte der geschlossenen Längswand, zu ihrer Rechten Adalbert, während Escheburg Hilden zu seiner anderen Nachbarin hatte? War Escheburg jetzt erst gekommen? sie hatte ihn doch vorher nicht gesehen, weder im Zuge, noch später bei den Streifereien in den Ruinen? – Er sei am Burgberge herumgeklettert, eine Pflanze zu suchen, die gerade hier wachsen solle. – Nun, er suche ja immer, womöglich etwas, das nicht zu finden sei; zum Exempel den Stein der Weisen! – Der wohl von den lustigen Vögeln hier keinem aus dem Schnabel fallen wird. – Ei, warum denn nicht? die Weisheit ist nicht bei den Verständigen, im Gegenteil bei den Einfältigen; warum also nicht bei den Vögeln und bei denen erst recht! bei ihnen, die nicht säen und nicht ernten und nicht in die Scheuern sammeln, sondern alle Tage lustig ihren Herrgott loben, der sie ja doch ernährt! Lustig in den Tag hinein leben, das ist die Hauptsache, das einzig Richtige. Nicht wahr, Hilde? nicht wahr, Adalbert?

Ich sage nicht nein, liebe Kora. Und wenn ich ja sagen kann von ganzem lustigen, seligen Herzen, und Hilde auch, wem verdanken wir's, als Euch lieben beiden? Und wenn Ihr nun noch ein übriges thun und uns vollends glücklich machen wollt, so sagt's endlich einmal hier vor uns beiden ehrlich heraus, was ihr doch jedem von uns einzeln habt sagen können, als es galt, uns auf den rechten Weg zu helfen. Escheburg, Mann, zudem ich schon, ein kleiner Junge, als zu meinem Ideal aufgesehen habe, könntest Du wirklich, wo es sich um das Glück Deines Lebens handelt und um das einer andern, das Dir teurer ist, als Dein eigenes, könntest Du wirklich zögern –

Adalbert kommt nicht weiter. An dem Tisch auf dem rechten Flügel, an welchem Mister Swalwell mit den drei Gleichen und ihren Liebhabern unter Udos spezielleren Freunden sitzt, ist ein großer Lärm entstanden, und jetzt hat sich der alte Herr erhoben und spricht in würdevoller Haltung, ohne zu stocken in seinem behaglichen Englisch:

Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, allen denen, welche sich dafür interessieren – und ich hoffe, daß es nicht wenige in der Gesellschaft sind – die Mitteilung zu machen von der Verlobung meiner jüngsten Enkelin Miß Kate Swalwell, Tochter des Mister James Swalwell von Manchester, meines verstorbenen einzigen Sohnes, mit dem ehrenwerten Herrn Udo Wolfsberg, Leutnant in Seiner Majestät, des Kaisers Wilhelm des Ersten von Deutschland glorreicher Armee. Meine Damen und Herren, wenn, wie ich hoffe, einige unter Ihnen sind, welche nach deutscher Sitte mit einem alten Manne anstoßen und ihr Glas leeren wollen auf ein Ereignis, das ihn glücklich macht, so bitte ich, dies zu thun, und danke Ihnen zum voraus.

Hip, Hip, hurra! ruft Mister Fred Swalwell von Manchester, den Tisch mit den Händen bearbeitend; und hoch! und hoch! erschallt es aus der Gesellschaft, die von ihren Sitzen aufgesprungen ist und den würdigen alten Herrn in der Mitte der drei verlobten Paare umdrängt, während das nun vollzählige Musikchor Tusch auf Tusch schmettert, daß der Burghof erbebt und es aus den Bergen drüben widerhallt.

Man ist zu den Plätzen zurückgekehrt und hat sich bereits gesetzt oder ist im Begriff sich zu setzen. Auch Kora hat wieder Platz genommen und blickt vor sich nieder, in banger Erinnerung der letzten Worte Adalberts, als sie hinter sich seine Stimme – er hat sich wohl über sie gebeugt und sie wagt nicht, sich umzusehen – im Flüstertone zu ihr und Escheburg, der stumm ihr zur Seite sitzt, sagen hört: Kinder, wenn ich nicht glauben soll, daß Ihr mit uns ein wunderliches Spiel getrieben habt – man drängt von allen Seiten in mich – es ist ja ein offenbares Geheimnis und geht von Mund zu Mund – Escheburg, darf ich?

Kora erstarrt das Blut in den Adern – eine Sekunde, die ihr zur Ewigkeit wird – ein Aufschlag des Auges seitwärts zu Escheburg – sein ernstes, Bejahung lächelndes Gesicht – und schon ertönt ob ihrem gesenkten Haupte Adalberts helle Kommandostimme, die den Lärm sofort schweigen macht:

Meine Damen und Herren! Auch das Glück kommt selten allein. Ich habe die Ehre, Ihnen hier noch ein verlobtes Paar vorzustellen: meine geliebte Schwägerin, Fräulein Kora von Remberg, und meinen Freund und Herzensbruder, Professor Heinrich Escheburg!

Mit zitternden Knieen erhebt sie sich und findet sich in Hildes Armen und dann in Adalberts, und dann steht Herr von Steinbach vor ihr und flüstert ihr mit einer Stimme, die vor Rührung erbebt, zu: Diese Revanche müssen Sie mir verstatten: Gottes Heil und besten Segen über Sie, mein teures Fräulein! Und dann stehen die drei Gleichen vor ihr und wollen alle drei zu gleicher Zeit geküßt sein, während Udo ihr die rechte Hand küßt und Mister Fred und Mister Temistokles Swalwell sich ihre Linke streitig machen. Und so drängen sie alle heran mit ehrerbietigen, lächelnden Mienen und herzlichen Worten zu ihr, die durch eben diese Gesellschaft wochenlang gegangen ist, wie sie geglaubt hat: unbeachtet und ungekannt. Was kann sie, was darf sie anders thun, als auch lächeln, küssen, Hände drücken, Dankesworte stammeln, und dabei stetig vermeiden, Escheburg anzublicken, der zusehen mag, wie er für sein Teil durch diese Komödie kommt, die er nicht den Mut gehabt hat, zu verhindern, als es noch Zeit war. Eine tolle Komödie, in der Scene auf Scene, Bild auf Bild wechselt, als sähe sie alles in einem Rausch: tanzende Paare in dem Zelt, wo doch noch eben getafelt wurde; und dann ein langer Zug von Männern, Frauen und vielen Kindern in Landestracht, der aus dem Wirtschaftshause sich entwickelt mit Herbstblumen, Aehren und Früchten, jedem eine Gabe reichend, erschrocken sich zurückziehend vor einer Zigeunerbande, die plötzlich zwischen dem Gestrüpp einer halb versunkenen Mauer hervorbricht in phantastischem Kostüm mit Zimbeln, Geigen und Guitarren und ein wildes Wesen führt, bis eine Schar geharnischter Männer, dem Turm entsteigend, mit langen Schwertern und ragenden Hellebarden den Burgfrieden wieder herstellt und den Platz säubert für die Fackelträger, welche von allen Ecken auftauchen und Spalier bilden, durch welches die Gesellschaft unter Vorantritt der Musik zum finstern Schloßthore hinauszieht zu den Wagen, die draußen auf dem Vorplatze harren, über welchen die jetzt zusammengeworfenen Fackeln ein taghelles Licht verbreiten.

Der lange Zug hat sich endlich in Bewegung gesetzt. Im Trabe geht's eine tüchtige Strecke durch den dunklen Wald. Aber nun ertönt's aus verschiedenen Wagen zugleich: Halten! – Man ist an der großen Steigung angelangt. Da kommt man zu Fuß schneller hinauf, und die Nacht ist so schön, und wie soll man so lange stillsitzen nach all der Lust! Wer im Wagen bleiben will, mag's thun; aber auf der Seite drüben, wo die Kreuzung ist, muß gewartet werden! Das versteht sich; den ganzen Weg nach Baden hinab will man nicht laufen. Also en avant! und auf Wiedersehen!

Auch Kora ist ausgestiegen, sie eine der ersten, glücklich der Baronin Krell und Frau Mama Golde zu entgehen, die während der ganzen Zeit unisono wütend auf den Baron Krell eingezankt haben, so oft er auch gebeten, sich in Gegenwart der fremden Dame doch ein wenig zu menagieren. Sie weiß kaum noch, wie sie in die schreckliche Gesellschaft geraten. Oder doch, sie erinnert sich, daß sie vor Adalbert und Hilde, die hinter ihr her gerufen haben, geflohen und in den ersten besten Wagen gesprungen ist. Jetzt hat sie sich auf die Seite in den tiefen Schatten der Bäume gedrückt; niemand hat auf sie geachtet. Schon sind die Wagen im Walde verschwunden; jetzt auch die letzten Fußgänger. Nun ist sie allein – Gott sei Dank! Und hier führt ein steiler Fußpfad, den sie kennt, fast in gerader Linie bergab bis zu einem Punkte tief unten auf der Chaussee. Sie kann lange vor den Wagen da sein. Oder besser, sie trifft die Gesellschaft nicht wieder und kann sich, zu Hause angekommen, in ihre dunkle Kammer flüchten und sich da ausweinen – die glückliche Braut!

Sie wendet sich in den Fußpfad und ist bereits ein Streckchen hinab geklettert, als sie ein Geräusch hinter sich vernimmt. Es muß ihr jemand gefolgt sein. Entsetzt steht sie still. Umkehren kann sie nicht, ohne an dem Verfolger vorüber zu müssen; zu fliehen wäre Wahnsinn – in ein paar Sprüngen würde der Mann sie erreichen; ein Hilferuf – wer sollte es hören!

Auf einmal ist alle Furcht von ihr gewichen, ob ihr Herz auch seinen wilden Schlag fortsetzt und die Glieder noch zittern. Wenn er nur einen Funken von Liebe für sie fühlt, so muß er es sein!

Und da steht er vor ihr: Ich bin's, liebe Kora. Ich habe Sie erschreckt, aber auch ich hatte Not, mich weg zu stehlen. Wir müssen uns doch endlich einmal aussprechen.

Kora hatte in der klopfenden Brust nicht Atem genug gehabt, dem Freunde antworten zu können; sie hatte nur die Hand, die er ihr entgegengestreckt, ergriffen mit einem hastig festen Druck, der von ihm erwidert wurde, als stünden sie beide an eines Abgrunds Rand und müßten sich einander halten, um nicht hinunter zu stürzen. So blieben sie eine Weile regungslos, einer auf des andern schwere Atemzüge lauschend, einander prüfend, in die ernsten Gesichter blickend, von denen jedes dem andern in dem Licht des Mondes seltsam bleich und feierlich erschien. Dann hatte er schweigend ihre rechte Hand mit ihrer linken vertauscht und führte sie so den steilen Abstieg hinab, bis der Pfad ebener wurde und sie ihm leise ihre Hand entzog.

Sie gingen noch ein paar Schritte, dann begann er mit gepreßter Stimme:

Fräulein Kora – liebe Kora, wir sind in einer der seltsamsten Lagen, in die zwei Menschen von Geist und Herz geraten können. Wie wir hinein geraten sind, wir wissen es wohl. Um zwei geliebte Menschen aus der Verstrickung zu lösen, in der sie zu Grunde gegangen wären, haben wir uns tief und tiefer verstricken lassen; haben wir, nicht vor den Augen unsrer Lieben als Lügner dazustehen, uns zuletzt auch vor den Augen der Welt zu etwas bekennen müssen, das dadurch ja doch nicht wahr wird, das darum ja doch eine Unwahrheit bleibt – für uns, die es schließlich allein angeht, und die wir nun zu suchen haben, wie wir auch vor der Welt die Unwahrheit wieder los werden. Ich denke, bis dahin sind Sie mit mir einverstanden?

Er schwieg, ihre Antwort erwartend; aber der Pfad war an dieser Stelle wieder schwierig geworden, sie hatte nach seiner Hand gegriffen. Ihre Hand festhaltend, sprach er weiter:

Da ist uns denn eine Aufgabe gestellt, welche zu lösen recht hart ist, härter, als wir es wohl beide verdienen, die wir doch nur das Gute gewollt haben. Aber das ist so Menschenlos, und so wollen wir uns nicht weiter darüber beklagen, was ja auch müßig wäre, sondern zusehen, daß uns die Last, die wir uns aufgeladen haben, nicht gar erdrückt. Vor allem nicht Sie, die Sie, als Frau, den Druck viel schwerer empfinden müssen – innerlich; und auch der Welt gegenüber in einer viel schwierigeren, viel peinlicheren Situation sind. Ich, als Mann, nun ich habe meine Arbeit, die große Trösterin in allen Herzensnöten; und dann unsereinen, besonders wenn er recht bärbeißig thut mit krauser Stirn und zugekniffenem Munde – den verschont man schon mit indiskreten Fragen: wie stehts? wie lange wird denn das noch dauern? worauf wartet ihr denn eigentlich? und dergleichen mehr, womit Euch armen Frauen zugesetzt wird, besonders wieder von den Frauen. Denn, sehen Sie, liebe Kora, darüber dürfen wir uns nicht täuschen: so Knall und Fall können wir der Sache nicht ein Ende machen. Eine Zeitlang werden wir die Situation bestehen lassen müssen. Und daß sie Ihnen nicht allzu schwer, daß sie Ihnen so leicht werden soll, wie es unter diesen Umständen nur eben menschenmöglich ist – nicht wahr, liebe Kora, so viel Gewandtheit, Takt und Lebensklugheit trauen Sie dem gelehrten Bären doch schon zu?

Es sollte wohl heiter herauskommen, aber die tiefe, sonst so wohllautende Stimme war ein wenig rauh, und durch die Hand, mit der er ihre Hand noch immer gefaßt hielt, trotzdem der Pfad jetzt wieder verhältnismäßig eben war, ging ein seltsames Beben. Es war augenblicklich auf dem schmalen Pfade zwischen den dichten Wänden halbwüchsiger Tannen ganz dunkel, aber durch den Ausgang des Pfades, wie durch eine offene Thür, blickten sie in die Dämmerung des Mondes, die grüngoldig über der Waldschlucht lag, durch die eine Quelle, manchmal aufblinkend in Silberglanz, zwischen Gestein und nickendem Farnkraut zu Thal rieselte. Als möchte er ihr, was er ihr noch zu sagen hatte, lieber hier im Dunklen, als draußen in der Helligkeit sagen, verlangsamte er den Schritt und fuhr fort, während seine Stimme jetzt bebte, wie die Hand, in der ihre Hand lag:

So werden ein paar Wochen dahingehen, vielleicht Monate, – unerfreulich, trübselig, aber sie werden dahingehen. Und dann wird ein Tag kommen, wo wir den Leuten sagen: wir hätten uns geirrt, Freundschaft für Liebe genommen, oder dergleichen; und die Leute werden sagen: wie doch auch sonst leidlich gescheite Menschen gelegentlich so dumm sein können! Dann werde ich irgend etwas in meiner Wissenschaft vorbringen, woraus die Leute sehen, daß ich wenigstens nach dieser Seite noch nicht ganz von Gott verlassen bin. Und Sie, liebe Kora –

Sie waren nun doch an den Ausgang des Pfades gelangt und standen still, in dem Dämmerschein zwischen dem Dunkel, das hinter ihnen lag, und dem Licht, das sich vor ihnen breitete, einander in die bleichen Gesichter und die feuchten Augen blickend:

Sie werden einen Mann finden, – keinen, der Ihrer völlig würdig wäre – ich kenne keinen solchen und ich glaube auch nicht, daß einer existiert – aber einen würdigen Mann doch, und der auch zu Ihren jungen Jahren besser paßt, und –

Er konnte nicht weiter sprechen. Sie hatte, ihm ihre Hand entziehend, beide Arme um seinen Hals geschlungen und ihre Lippen fest auf seinen Mund gepreßt.

Und nun ruhte ihr Kopf an seiner Brust:

Jetzt schickst Du mich nicht wieder weg! nicht wahr, jetzt nicht mehr? jetzt ist es keine Lüge mehr; jetzt darf ich aller Welt sagen: ich liebe ihn! Dich! Dich! Du Guter! Du bester aller! Und du liebst mich? Sag mir's, daß Du mich liebst!

Ich liebe Dich und habe Dich immer geliebt. Und nur nicht gewußt, daß es Liebe sei, was mir war wie die Luft, die man atmet, und ihrer nicht Acht hat und müßte doch ersticken, bliebe sie uns aus – nur ein paar dumpfe Herzschläge lang. Ach, Liebste, wie dumpf hat mein Herz geschlagen all diese Tage hindurch, und gar vorhin, als Adalbert uns fragte, und die Möglichkeit, Du könntest sagen: nein, ich will es nicht! über mir hing, wie ein blankes Schwert an seidenem Faden; und eben, eben erst – großer Gott, als ich wieder log und that, als könnte ich weiter leben ohne Dich, und dachte, Du würdest mich beim Wort nehmen, und was dann wohl aus mir werden sollte!

Das hast Du gedacht? Du? von mir, die ich fast gestorben bin vor Furcht und Scham: er wird glauben, daß die andern Dich nur gezwungen haben, zu sagen, was Du freiwillig nie gesagt haben würdest. Und auch Du nicht gesagt hättest. Gestehe es: auch Du nicht!

Mag sein, Geliebte! Und so wollen wir den beiden danken, die sich beinahe Haß aus der Fülle ihrer Liebe tranken, damit uns die Augen aufgethan würden über dem Quell der Liebe in unserm eigenen Herzen, an dessen Wassern wir standen, und die wir rauschen und rauschen hörten immerdar, ohne ihrer zu achten.

Laß mich trinken! sagte sie und küßte ihn; und: Laß mich trinken! sagte sie wieder und kniete nieder auf das moosige Gestein am Rande der Quelle.

O, wie das labt! trink auch! Weißt Du, Geliebter, wie Du sagtest – an jenem ersten Morgen – es möchte uns allen hier der Aufenthalt Segen bringen? Es hat sich erfüllt. Es hat ein jedes sich Mut und Kraft und Klarheit und Klugheit getrunken; die Glücklichen drunten im Thal, wir die Seligen hier oben im Walde, als wir uns fanden an unsrer Liebe heiliger Quelle.

Und als Kora so gesprochen, hob ein wundersames melodisches Klingen an: O Thäler weit, o Höhen! Sie bliesen es drunten auf der Chaussee, die Säumigen zu rufen. Hier oben aber war es, als sängen Elfen und Nixen des Waldes hohes Lied, unirdisch, geisterhaft, wie das Mondlicht, welches sein Zaubergespinst durch die grüne Wildnis webte, und doch vertraut und heimlich wie die Kinderstimme der Quelle zu ihren Füßen.

Sie nun, die Herzen voll von einem Glücksgefühl, das keine Worte mehr fand, folgten dem Rufe zurück in die Welt, welche ihnen nicht länger eine verworrene war, Hand in Hand durch das Waldthal, begleitet vom Gemurmel ihrer Quelle, den Fußpfad hinab zu den harrenden Freunden.

 

Ende.

 


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