August Sperl
Kinder ihrer Zeit
August Sperl

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Der Obrist

Vier Gewappnete, zwei Herren und, in weitem Abstande hinter ihnen, zwei Knechte, ritten auf ermüdeten Gäulen talaufwärts.

Neben einem breiten Bache lief die erbärmliche Straße. Ueber den roten Weidenbüschen zur Rechten lag es wie grausilberner Hauch, die Wellen murmelten im dunkelgrünen Bette, und am Ufer hoben sich schon die runden, goldgelben Blumen aus den saftstrotzenden Blättern.

In kurzen Stößen fuhr der Märzwind einher, und graue Wolken zogen in endlosen Heeren von Norden nach Süden. Nur zuweilen brach die Nachmittagsonne durch, und schrägher schossen ihre stechenden Strahlen über das kahle Land. Und immer aufs neue flogen die Wolken heran und dämpften das Licht.

Wortlos zogen die Gewappneten fürbaß.

Das Tal ward breiter und breiter, die tannwaldbedeckten Höhen zur Rechten und Linken wichen mehr und mehr zurück. Wieder einmal zerrissen die Wolken, und wieder einmal schwamm das Land im Lichte.

10 Nun bogen die Männer um eine Ecke, und vor ihnen versperrte ein Flecken mit halb zerstörten Ringmauern und einem ausgebrannten, dachlosen Kirchturme den Weg.

»Ei der Kuckuck, wie sieht das Nest aus!« rief der alte Herr an der Spitze des Zuges und hielt stille. Sein Begleiter ritt noch ein paar Schritte, dann hielt auch er: »Nichts Besonderes, Herr Obrist – viel Ausgebranntes, zwischen drinnen Geflicktes – ich dächte, wir sind's gewohnt.«

»Grausig, grausig!« murmelte der Alte und ritt weiter. Plötzlich wandte er den Kopf: »Sind wir nun, Brandtner, sind wir nun eigentlich Anno sechsundzwanzig so weit heraufgekommen?«

»Weiß nicht, Herr Obrist. Kann sein, kann sein auch nicht. Sechzehnhundertsechsundzwanzig – das sind nun siebenundzwanzig Jahre – wer vermag sich alles zu merken?«

»Schon siebenundzwanzig Jahre!« sagte der alte Herr in tiefen Gedanken. –

Sie kamen nahe an den Flecken.

»Ei, da schau doch, Brandtner!« rief der Obrist abermals, hielt seinen Gaul an und wies mit dem Reitstocke auf das große Ackerland, das sich von der Ringmauer bis an den Wald zur Rechten erstreckte. »So was hab' ich denn doch schon lang' nimmer gesehen.«

11 »Zwanzigspännig!« sagte der andre und lachte lautlos. Dann rief er ein schallendes »Heda« über den Acker.

Mit Geschrei erhoben sich etliche Krähen aus den Furchen und flogen dem Walde zu. Mit einem Ruck hielten die zwanzig Menschen, die den Pflug über die schwere Erde zogen, und wandten die Köpfe. Schrägher fielen die Sonnenstrahlen auf ihre Gesichter. In kurzen Stößen fuhr der Wind einher und zerrte an den Röcken der Weiber und riß an ihren Haaren. »Heda!« rief der Reiter zum zweiten Male und winkte. Mit Geschrei liefen kleine Kinder vom kahlen Birnbaume, der seitwärts am Raine stand, über die Ackerbeete und verkrochen sich zwischen den Menschen vor dem Pfluge. Und zum dritten Male rief der Gewappnete sein herrisches »Heda!« Nun ließ der Mann den Pflugsterz fahren, riß die Mütze vom Kopfe und rannte herzu. Keuchend hielt er in sicherer Entfernung und blickte scheu auf die Reiter.

»Wie weit ist's noch auf Breitenburg?«

Der Bauer brachte die hohle Hand hinters Ohr und horchte in unterwürfiger Stellung.

»Auf Breitenburg!« donnerte Brandtner und fuchtelte mit dem Stocke.

»Zwei gute Stund'!« schrie nun der Bauer und reckte Daumen und Zeigefinger empor. Und der 12 Wind riß ihm die Worte vom Munde und zauste sein Haar.

Der Gewappnete wandte den Gaul und trieb ihn an die Seite des Obristen.

Langsam stapfte der Bauer zurück. Der Sonnenglanz erlosch, und in trostloser Oede ragten die brandgeschwärzten Mauern des Fleckens gegen den grauen, niederen Himmel. Die Kindlein krochen zwischen den Röcken der Weiber hervor, und noch eine Weile glotzten die armseligen Menschen hinüber auf die Straße. Dann spuckte der Alte in die Hände, griff nach dem Pflugsterz und sagte »Hüh!« Die zwanzig Menschen machten kehrt und legten sich stumm wie Zugtiere in die Stränge. »Hüh!« rief der Alte und drückte die Pflugschar tief in die schwarze Erde. Die Kindlein kletterten wieder über die aufgebrochenen Schollen und balgten sich zurück zum kahlen Birnbaume. Die Krähen flogen herzu, stolzierten in der langen Furche hinter dem Pflüger, nickten und pickten, und keuchend lagen die Leute in den Strängen. –

»Ich meine, wir sind Anno sechsundzwanzig doch nicht so weit heraufgekommen, Brandtner,« sagte der Obrist, als sie zwischen den Häusern und Ruinen des menschenleeren Fleckens dahinritten.

Unablässig spähte der andre in alle Torwege, in alle Seitengäßlein zur Rechten und Linken.

13 »Nein, Herr,« entschied er zuletzt, »nein, wir sind nicht hier oben gewesen.«

*

Der Flecken lag schon seit Stunden hinter den Reitern. Statt des Baches von vorhin murmelte nun in enger Rinne neben dem Wege ein Bächlein. Der Wind hatte abgeflaut. Noch einmal vor ihrem Niedergange war die Sonne durchgebrochen, säumte die schwarzblauen Wolken im Westen mit feurigen Borten und überhauchte das Ackerland zu seiten der Straße mit purpurnem Schimmer.

Wieder bogen die Reiter um eine Talecke, da hielt der Obrist und rief: »Brandtner –!«

Sein Begleiter hob sich in den Bügeln und musterte das große Dorf, die plumpe Kirche mit dem neuen, grellroten Ziegeldache und das hochragende fünftürmige Schloß, das abseits zur Rechten auf einem vorspringenden Hügel thronte.

»Das, Brandtner, das muß es sein. Nun pocht aber mein Herz, kann's nicht leugnen.«

»Glaub's wohl,« sagte der andre, während seine Blicke rastlos umherfuhren.

»Fünf Jahre nimmer gesehen, das gute Kind, fünf Jahre, Brandtner!«

»Und vordem auch nicht allzuoft, Herr Obrist.« –

Ueber die Aecker zur Rechten und Linken zogen sechs, acht Pflüge, alle mit starken Rossen bespannt.

14 Auf der Straße, zwischen den Fremden und dem Dorfe, hielten zum Schutze der Pflügenden drei Berittene. Von den Türmen des Schlosses grüßten schwarzgelbe Fahnen und blähten sich im Windhauche des Abends.

»Hier sieht es anders aus,« meinte Brandtner, »hier ist gut wohnen.«

»Das Geld, Brandtner, das Geld, viel harte Taler haben's zuwege gebracht!« rief der Obrist und setzte den Gaul in Trab.

Einer von den Berittenen sprengte heran und legte die Hand an die Eisenkappe: »Euer Gnaden kommen um einen Tag früher?«

Der alte Herr parierte den Gaul und nickte.

»Mit Eurer Erlaubnis, ich will's der gnädigen Frau vermelden.«

Im Galopp sprengte er von dannen. Im Trabe ritten die Fremden hinter ihm her. Dann klommen sie Schritt vor Schritt den Schloßberg hinan.

Aus dem Tore rannte eine junge Frau; die trug auf dem Arm einen Knaben. »Herr Vater, Herr Vater!«

Wie ein Jüngling sprang der Weißbart vom Pferde. »Vater – Lotte – Großvater –!« klang es durcheinander. Lachend und weinend schloß der Obrist die Tochter und den Enkelsohn an sein Herz.

*

15 »Es ist ja trotzdem alles bereit, Herr Vater,« sagte die junge Frau mit Stolz und öffnete hochaufatmend das Gastzimmer, die große, runde Turmstube im zweiten Gaden des Schlosses. »Seit vierzehn Tagen schon ist es bereit. Aber wahrhaftig, lange haben wir bitten müssen, ehe sich der Herr Vater zur Reise entschloß!«

»Der Weg ist weit, Lotte, und die Knochen sind mürbe,« antwortete der Obrist, trat über die Schwelle, hob die Eisenhaube ab und setzte sie auf den Tisch. »Aber wie schön du mir alles bereitet hast, mein Kind!«

»Nur eines fehlt, Herr Vater,« sagte sie traurig. »Mein Eheherr hat's nicht leicht genommen, gerade jetzt nach Speier zu reiten; aber es ging nicht anders, meinte er.«

»Wie steht's mit dem Prozesse?«

»O gut, Herr Vater, Gott sei Dank! Und es wird wohl in diesen Monaten noch zu Ende gehen. Aber vorher kann Jost nicht nach Hause kommen.«

»Ich warte, Lotte, ganz geduldig will ich warten. Ihr bringt mich nun so geschwinde nicht aus dem Hause, und ehe die Blätter fallen –«

»Ihr wolltet bei uns bleiben bis zum Herbste, Herr Vater?« jubelte sie und schlang die Arme um seinen Panzer. »So viel hätten wir im Traume nimmermehr gehofft!«

16 »Ei laß, Lotte, laß, ich bin staubig, und dein schönes weißes Kleid wird schmutzig, laß!«

»O, Herr Vater, was liegt an dem Kleide? Herr Vater, wie habe ich mich gesehnt nach diesem Tage!«

Da legte der Alte die Hände auf ihre Schultern und blickte forschend unter den weißen Brauen hervor auf ihr klares Antlitz: »Bist du glücklich, Lotte?«

»Ganz und gar, Herr Vater,« sagte sie einfach, und dabei lachten ihm ihre Augen entgegen.

»Dann sei Gott Dank, Lotte!«

»Aber Ihr habt ihn doch drei Jahre um Euch gehabt, Ihr müßtet ihn ja schon längst kennen, Herr Vater?«

»Kennen?« Der Obrist lächelte nachdenklich. »Was heißt ›kennen‹, mein Kind? Wird mit keinem Worte größerer Mißbrauch getrieben als mit dem Wörtlein ›kennen‹. Ich kannte ihn, jawohl, ich kannte ihn, wie der Soldat den Untergebenen kennt, und ich kannte ihn als treu, tapfer und nüchtern. Und dennoch erschrak ich, als er dich zum Weibe begehrte, heftig erschrak ich; denn es ging alles über die Maßen geschwinde.«

»Ihr kanntet ihn vielleicht genauer als mich, Herr Vater. Doch sagt, wollt Ihr den Abend in dem schweren Krebse bleiben? Erlaubet –!«

17 Und mit ein paar Griffen löste sie die Riemen des Harnisches.

»Armes Kind, du hast recht, wir zwei haben freilich im Leben noch nicht viel voneinander gehabt,« murmelte der Alte. »Im Lager bist du geboren, die Mutter hast du kaum gekannt –«

»Ich war schon vier Jahre alt, als sie starb, Herr Vater!«

»Erst vier Jahre, armes Kind! Und dann bist du aufgewachsen unter Fremden –« Er dehnte sich, von seinem Panzer befreit. »– und als es endlich Friede werden wollte, als ich dich hätte bei mir behalten können –«

»– da kam der andre, und Ihr gabt mich hin. Sollte ich nicht mit besserem Rechte sagen: ›Armer Vater‹ –?«

»Wenn du glücklich bist, dann bin ich reich, mein Kind. Aber einsam scheint's bei euch zu sein. Habt ihr gute Nachbarschaft?«

»Nicht viel, Herr Vater. In unsrer nächsten Nähe liegen drei Güter öde. Auf dem vierten haust ein alter, wunderlicher Mann; ich habe ihn kaum zwei- oder dreimal gesehen. Aber der Pfarrer im Dorfe drunten ist oft unser Gast –«

»Verheiratet?« fragte der Obrist.

»Nein, Herr Vater. Trotzdem ein großer Kinderfreund; unser Daniel hängt sehr an ihm. – Ihr 18 solltet, ach, Ihr solltet ganz bei uns bleiben, ganz und auf immer; dann wär's nimmer einsam. Das hat mein Herr auch schon oft gemeint.«

»Ganz hier oben wohnen?« Der Obrist lächelte. »Nein, Lotte, in der großen Stadt hab' ich's bequemer.«

»Aber sagt, Herr Vater, wer ist denn der schreckliche Mensch, Kapitän Brandtner nennt Ihr ihn, nicht?«

»Schrecklicher Mensch, Lotte? Ein alter, tapferer Soldat.«

»O, diese Augen, Herr Vater!«

»Sie gefallen dir nicht, Lotte?«

»Nein, Herr Vater.«

»Wenn ich dir aber nun sage, daß diese Augen damals bei Nürnberg, du weißt ja, daß es diese Augen waren, die damals über deinem Vater wachten –?«

»Er war's, Herr Vater?« rief sie lebhaft. »Ja dann! Aber ich habe ihn doch früher niemals um Euch gesehen?«

»Er hatte vor langen Jahren wegen eines leidigen Handels müssen flüchtig gehen und war auch mir fast in Vergessenheit gekommen. Da klopft es am vergangenen Christabend an meiner Haustüre. Schicke ich hinunter, und siehe, mein alter Kapitän steht drunten. Seitdem lebt er bei mir, besorgt meine 19 Schreibereien, tut, was er mir an den Augen absieht, und, wenn's ihm behagt, mag er bleiben und leben mit mir und den andern Kriegsbrüdern bis an sein oder mein seliges Ende. So hab' ich ihn mitgebracht, und es wird mir lieb sein, wenn du ihn gut hältst, um meinetwillen.«

»Er soll keine Klage haben, Herr Vater.«

Der Obrist streichelte ihre Wange: »Jetzt aber will ich mir's wohnlich machen bei euch.«

»Herr Vater, es soll ein Leben werden, wie's die Englein führen im Himmel!«

»Unberufen, mein Kind!«

*

»Immer könnt Ihr auch nicht vor Eurer Tochter sitzen von früh bis nacht, Herr Obrist,« sagte Brandtner am dritten Nachmittage. »Ich hätte vorgeschlagen, wir gehen ein wenig auf die Jagd. Aber es ist nichts mit der Jagd, die Bauern haben alles verwüstet im Kriege. So denke ich, wir schießen mit der Pistole, wenn's Euch beliebt.«

Und so knallten sie im tiefen Schloßgraben den ganzen Nachmittag.

Gegen Abend trat ein kleiner schwarzgekleideter Mann auf die Brücke, zog den Hut, verneigte sich tief gegen den Obristen und etwas weniger tief gegen den Kapitän und sah den Schießenden eine Weile zu. Dann ging er ins Schloß.

20 »Wir hätten ihn einladen sollen, den Pfarrer,« lachte Brandtner.

»Den Pfarrer?« wiederholte der Obrist, zielte und schoß. »Den wollen wir doch lieber damit unbehelligt lassen.«

»Es wäre lustiger zu dritt,« behauptete Brandtner.

Nach kurzer Zeit kam die Schloßfrau mit dem Pfarrer auf die Brücke; zwischen ihnen trippelte der vierjährige Daniel.

»Erlaubet, Herr Obrist!« raunte der Kapitän. Dann rief er laut: »Wollt Ihr nicht auch etliche Schüsse abbrennen, ehrwürdiger Herr?«

Der Pfarrer neigte sich zu dem Knäblein herab und streichelte ihm die Locken. Dann ging er wortlos über die Brücke und stieg in den Schloßgraben.

»Nehmt Euch in acht, Herr Vater!« rief Frau Lotte und drohte lachend mit dem Finger, nahm das Knäblein an der Hand und beugte sich erwartungsvoll übers Geländer.

»Also gilt's, Ehrwürden?« fragte der Obrist höflich.

»Mit Eurer Gnaden Verlaub!«

»Bitte, Herr Pfarrer!« sagte Brandtner und reichte dem kleinen Manne eine gespannte Pistole. »Ihr wißt doch, wie man losdrückt?«

»Auf die große Scheibe dort?« fragte der Pfarrer und rührte sich nicht.

»Gewiß, und auf die Luft ringsumher nach 21 Euerm Belieben,« lachte der Kapitän. »Aber so nehmt doch!«

Der Pfarrer lächelte ein wenig, griff unter seinen weiten Mantel und zog eine Pistole hervor.

»Potz –!« rief Brandtner. »Ihr seid bewaffnet wie ein Soldat?«

Lächelnd schüttete der Pfarrer Pulver auf die Pfanne, hob die Pistole und zielte. Aber seine Hand zitterte so heftig, daß die Mündung der Waffe auf und nieder fuhr.

Unverwandt, mit verhaltenem Lachen beobachteten die beiden Soldaten den seltsamen Schützen.

»Na, so wird's kaum gehen, Ehrwürden,« meinte endlich der Obrist mit gutmütigem Spotte.

In diesem Augenblicke krachte der Schuß, und höflich erwiderte der Pfarrer: »Seit fünf Jahren habe ich leider das Zittern; es ist auf einmal über mich gekommen.«

»Dem Schießen tut's keinen Abbruch, Ehrwürden, nur allein dem Treffen,« bemerkte Brandtner.

»Um Vergebung, Herr Kapitän, habt Ihr schon nachgesehen?« fragte der kleine Mann.

»Die Scheibe gefehlt, Ehrwürden.«

»Um Vergebung, ich glaube nicht, Herr.«

Lachend ging Brandtner zur Scheibe. Aber sogleich rief er zurück: »Potz Blitz – welch ein Zufall – sitzt im Schwarzen!«

22 »Zielen, fangen und losdrücken, das ist alles,« bemerkte der Pfarrer gleichmütig gegen den Obristen.

»Respekt, Respekt!« lächelte dieser ungläubig.

»Weiter!« sagte der Kapitän, nahm eine Pistole aus der Hand des Reitknechts, zielte und schoß in den fünften Ring.

»Herr Obrist!«

Dieser zielte und schoß in den vierten.

»Eine Pistole für den ehrwürdigen Herrn!« befahl Brandtner dem Reitknechte.

»Um Vergebung, es ist doch erlaubt?« sagte der Pfarrer und zog die zweite Pistole unter seinem Mantel hervor.

»Alle Wetter, tragt Ihr eine ganze Waffenkammer mit Euch umher?« rief der Obrist.

»Nie mehr als zwei, aber auch nie weniger, Euer Gnaden,« antwortete der Pfarrer mit Bescheidenheit.

»Seht nur, seht,« rief der Obrist und deutete nach der Scheibe, auf deren Rand sich ein Spatz niedergelassen hatte, »der freche Kerl!«

»Dem gilt's, Herr Obrist!« raunte der kleine Mann.

Und abermals zielte er, heftig zitternd, aber nur ein paar Augenblicke, dann krachte der Schuß.

In Sätzen lief der Kapitän zur Scheibe, suchte, hob einen Flügel des zerfetzten Vogels aus dem Grase und kam langsam heran.

23 »Zielen, fangen und losdrücken!« sagte der Pfarrer wie vorher. »Und das Fangen ist das Wichtigste bei dem Geschäfte,« setzte er lächelnd bei.

»Respekt!« rief der Obrist mit ehrlicher Bewunderung. »Wie habt Ihr das gelernt?«

»Dreißigjährige Uebung, Euer Gnaden. Wenn nur das beschwerliche Zittern nicht wäre!«

»Wir wollen öfter miteinander schießen!« meinte Brandtner.

»Wird mir eine Ehre sein, Herr Kapitän.« –

Mit wichtiger Miene stapfte der kleine Daniel durchs dürre Gras und zupfte den Pfarrer am Mantel: »Du – ich muß dir was sagen, du, kommen sollst, die Suppe wird sonst schneekalt, hat die Mutter gesagt.«

»Das mußt du dem Herrn Großvater bestellen,« antwortete der Pfarrer und beugte sich freundlich zu dem Kinde herab.

»Wenn Ihr da seid, Ehrwürden, gilt der ganze Großvater nichts mehr; das habe ich schon gestern bemerkt,« lächelte der Obrist. »Aber beliebt's Euch?«

Mit würdigen Schritten gingen die beiden alten Herren zur Abendmahlzeit, und zwischen ihnen trippelte der kleine Daniel.

*

Das Knäblein auf den Knien des Großvaters war eingeschlummert, und regungslos saß der alte 24 Mann neben seiner Tochter in einem Lehnstuhle. Vornübergeneigt saß Brandtner am Kamine und sog den Rauch aus einer kurzen Tonpfeife, starrte ins Feuer und hatte die Linke aufs Knie gestemmt. Von Zeit zu Zeit hob er den Zinnkrug von den Dielen, bog den Kopf zurück, ohne sich aus seiner Stellung aufzurichten, und tat ein paar kräftige Züge. Der kleine Pfarrer saß zusammengesunken in seinem Stuhle auf der andern Seite der Schloßfrau.

»Gebt mir das Kind, Herr Vater, Ihr könnt ja gar nicht rauchen!«

»Laß ihn, Lotte, er schläft so fest!«

»Ihr habt recht, Herr Obrist,« sagte der Pfarrer nach einer Weile, »das ganze Reich ist ein siecher Leib, und ob er wieder einmal gesunden wird, wer kann das überhaupt sagen?«

»Je nun,« meinte Brandtner, »die Krüppel kriechen zu Tausenden herum, die werden freilich nimmer ganz. Aber das Reich? Zwei Geschlechter, und man wird alles vergessen haben, wie ein altes Märlein.«

»Um so tiefer sitzt es uns noch im Herzen,« sagte der Pfarrer. »Wir sind eigentlich alle samt und sonders Krüppel.«

»Oho!« rief Brandtner und setzte sich gerade. »Da schaut mich an! Ich habe sechs Schlachten, fünfunddreißig Tressen und Scharmützel hinter mir, 25 habe vierzig Dörfer und Flecken stürmen, zwanzig Schlösser brennen und drei Städte erobern helfen, Brandtner heiß' ich.« Er lachte laut auf. »Brandtner! Und aus all den Gefahren bin ich unverletzt entkommen, nicht einen Streifschuß, nicht eine Narbe trag' ich am Leibe.«

»Unverletzt?« fragte der Pfarrer gedehnt. »Da könnt Ihr Gott danken, Herr Kapitän.«

»Er hat immer ein unerhörtes Glück gehabt,« sagte der Obrist; »ich glaube, er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, der Brandtner.«

»Und dennoch unverletzt?« murmelte der Pfarrer.

»Es muß furchtbar sein, an all die Greuel zurückzudenken,« sagte Frau Lotte nach einer Weile.

»Der Soldat denkt nicht zurück,« erklärte Brandtner mit Stolz und tat einen tiefen Zug.

»Und sie laufen doch zurück, unsre Gedanken, ob wir wollen oder nicht,« warf der Pfarrer ein.

»Hunde sind's,« murmelte der Obrist, »Hunde, die alle Wege zehnmal machen.«

Das Knäblein lächelte im Traume, dehnte sich und hob die Aermlein, und das rote Licht aus dem Kamin flackerte gleichermaßen über seine rosigen Wangen, wie über das gelbe Gesicht des Alten. Mit einem leisen »bitte, Herr Vater, nun ist's genug!« nahm Frau Lotte das Kind und trug es in die Nebenkammer.

26 »Und unverletzt ist keiner aus dem dreißigjährigen Brande entkommen,« wiederholte der Pfarrherr.

»Ich sag's Euch ja, Herr, ich – ich bin ein lebendiges Exemplum!« rief der Kapitän fast drohend und wandte den Kopf nach dem kleinen Manne.

»Ich meine das gleichnisweise,« entschuldigte sich der Pfarrer.

»Gleichnisweise?« Brandtner lachte kurz auf. »Das verstehe ich nicht. Nun also, Herr Pfarrer – Ihr selbst? Ihr sitzet nun neunundzwanzig Jahre, nicht? – also neunundzwanzig Jahre auf dieser Pfarre, seid die ganze Zeit nicht fortgewesen – – sagt an, habt Ihr auch eine Verletzung?« Er hatte sich aufgerichtet und blickte dem kleinen Manne voll in die Augen. »Keiner ist unverletzt aus dem Brande entkommen, sagt Ihr. Da wäre ich doch neugierig –?«

Der Pfarrer sprach: »An meiner Verletzung werde ich zu tragen haben, bis sie mich drüben an der Kirche einbetten, und mein letztes Wort wird sein: ›Gott sei mir armen Sünder gnädig!‹«

»Na ja, diese Sprüche gehören so zu Euerm Amte wie das Rad zum Schubkarren,« meinte Brandtner und stemmte die Ellbogen wieder auf die Knie. »Das ist die Geschichte vom unverletzten Gewissen, oder wie man's nennt. Habe vorzeiten auch Religionsunterricht genossen.«

27 »Ja, Herr, das ist's,« sagte der Pfarrer mit Nachdruck.

Eine Zeitlang wurde nach diesem kein Wort zwischen den dreien gewechselt. Das Feuer sank zusammen. Die Türe der Nebenstube öffnete und schloß sich leise, Frau Lotte kam geräuschlos zurück.

»Das Gewissen?« rief endlich der Kapitän und schlug mit der Linken in die Luft.

»Ja, das Gewissen, Herr. Und wenn ich Euch nun anvertraue, was kein Geheimnis und vielleicht auch keine Schande ist: das Gewissen quält mich seit siebenundzwanzig Jahren, es geht mit mir zu Bette, es steht mit mir auf, es grinst mich aus der dunkeln Stubenecke und aus dem Kaminfeuer an, es klingt mir entgegen aus dem Abendglockenläuten – ja, Herr Kapitän, dürft's glauben, ich selber bin einer von den Verletzten.«

»Aber, Herr Pfarrer, Ihr redet sonderbar und verwunderlich – habt Ihr am Ende einen umgebracht?« fragte der Obrist und versuchte zu lächeln. Doch es gelang ihm nicht, und das Lächeln wurde zum Grinsen.

»Nein, Euer Gnaden, aber Ihr seid nahe dabei: Weil ich einen zur rechten Zeit nicht umgebracht habe, deshalb finde ich keine Ruhe mehr auf Erden.«

»Ei, da soll doch – so gottlos Reden hätte ich aus Euerm Munde nimmermehr erwartet!« lachte 28 der Kapitän. »Mich dünkt, Ihr tragt außer den Pistolen noch mehr Geheimnisse unter Euerm Mäntelein.«

»Nicht umgebracht habe?« fragte die Schloßfrau entsetzt.

»Umgebracht, wie man einer Viper den Kopf zertritt, umgebracht, wie man einen tollen Hund niederschlägt,« sagte der Pfarrer und umklammerte mit der Linken die Armlehne seines Stuhles.

»Erzählen!« rief der Kapitän und spuckte in die Kaminglut.

»Erzählet, Herr Pfarrer!« bat auch Frau Lotte.

»Erzählen?« wandte sich der Pfarrer zur Schloßfrau. »Ihr wißt, ich habe noch niemals darüber gesprochen, solange wir uns kennen. Aber es kann ja nichts schaden. O nein, es kann nichts schaden. Und am Schlusse möget ihr dann selbst urteilen.«

Und er begann:

»Eine Wette war's, so sagten die Leute hernach, eine über die Maßen gottlose Wette. Hernach – was wird nicht alles geredet hernach? Also, mag er gewettet haben, der friedländische Reiter – –«

»Friedländischer Reiter?« unterbrach ihn der Obrist.

,.Ein friedländischer Reiter war's, Euer Gnaden, und ich könnte ihn heute noch malen nach siebenundzwanzig Jahren.«

29 »Sind die Friedländischen Anno – wann war's doch –?«

»Anno sechsundzwanzig, Herr Obrist.«

»Sind die damals so weit heraufgekommen?«

»Nicht eigentlich, Herr. Sie waren auf dem Durchmarsch und lagen nur zwei Tage lang drunten im Flecken – Euer Gnaden haben ihn ja auf der Herreise passiert. – Also, um eine Haarlocke von unsrer gnädigen Frau soll die Wette gegangen sein: noch in der Nacht den unbekannten Weg heraufzureiten, vermaß sich der friedländische Reiter, die Haarlocke abzuschneiden und bei Sonnenaufgang seinen Gesellen zu bringen.«

»Friedländischer, sagt Ihr?« fiel der Kapitän ein. »I, das können auch Strotzische oder Ferrarische oder Sassen-Lauenburgische gewesen sein!«

»Ein Friedländischer war's, Herr Kapitän, und da in dieser Stube hat sich die Geschichte zugetragen. Eine heiße Sommernacht war's, höre noch in meinen Ohren den Lärm der Frösche aus dem Dorfweiher; denn wir hatten die Fenster geöffnet. Und ich weiß noch, wie wir damals saßen.« Er sprang auf und lief in die Mitte der Stube: »Hier stand der Tisch, an diesem Ende saß die gnädige Frau, dort der junge Herr Sohn, und da saß ich.« Langsam ging er zu seinem Stuhle zurück. »Und ich las den Herrschaften vor wie fast alle Abende, seit 30 der Herr Obristwachtmeister ins Feld gezogen war. Und ich weiß noch, daß aus dem Erdgeschosse herauf jezuweilen in mein Lesen der Lärm trunkener Soldateska schlug; denn wir hatten seit etlichen Wochen von wegen der friedländischen Durchzüge eine Tillysche Salvaguardia im Schlosse. Alles weiß ich, als hätte ich's gestern erlebt – warum also sollt' ich nimmer wissen, daß der Reiter ein friedländischer war?«

»Weiter!« sagte der Obrist.

»Also, wir saßen um die Kerze, und ich las. Sie hörte gerne lesen, und da hieß es immer: ›Ei, Herr Pfarrer, habt Ihr nicht ein lustig Buch für den Abend?‹«

»Ehrwürden, vergebt, daß ich Euch in die Rede falle, aber sagt, war sie schön?« fragte die Schloßfrau.

»Schön, Euer Gnaden? Ich war damals ein junger Mann, hatte aber auf dreien Universitäten studiert und als Präzeptor ein gut Stück Welt gesehen in Deutschland, Italia und Frankreich. Und sie erschien mir damals vom ersten Augenblicke an als das schönste Frauenbild, das ich je geschaut. Und vergebt« – er lächelte schwermütig – »mich dünkt, ich habe hernach nie mehr so Schönes geschaut wie unsre gnädige Frau. Ich besitze ja auch ein Bild von ihr und ihrem Sohne, es hängt über meinem Schreibtische. Aber was ist ein Bild?«

31 »Das ist sie?« murmelte die Schloßfrau verwundert. »Dann ist sie freilich schön gewesen, Herr Vater.«

»Wäre nunmehr auch schon ein altes Weib, diese Gnädige!« rief der Kapitän ungeduldig und spuckte in die Glut. »Ich vermute nämlich, sie ist gestorben, Herr Pfarrer; denn Ihr sprechet, als hieltet Ihr einen Leichensermon.«

»Aber Herr Brandtner!« sagte die junge Frau.

»Um Vergebung, Euer Gnaden, ein herzhafter Schwank wäre mir lieber,« entschuldigte sich der Kapitän.

»Weiter!« wollte der Obrist sagen. Doch die Kehle war ihm trocken geworden. So räusperte er sich nur.

»Ihr habt recht, Herr Kapitän,« fuhr der Pfarrer fort; »sie war damals achtundzwanzig Jahre alt, mit fünfzehn hatte sie geheiratet, der junge Herr war zwölf Jahre alt geworden – nach dem natürlichen Laufe der Dinge wäre sie heute allerdings eine alte Frau. Aber sie ist's eben nicht; denn die in ihrer Jugend sterben, die leben mit uns weiter in unveräußerlicher Jugend. Also, ich las an jenem Abend einen Gesang aus dem heidnischen Poeten Homer, ihn unterm Lesen verdeutschend.«

Der Pfarrer bedeckte die Augen und sann.

»Es steht dort geschrieben, wie ein Held vor der 32 Schlacht Abschied nimmt von seinem Weibe. Dann wird ihm das Söhnlein zum letztenmal auf die Arme gegeben, und er betet zu Gott, der Knabe möge dem Vater nachschlagen, ja ihn übertreffen. Zuletzt aber klagt der Held, das Unheil ahnend, klagt, man werde einst sein wehrloses Weib fortschleppen in die elende Sklaverei – mächtig schöne Verse! Und ich sitze gebückt über mein Büchlein und lese und lese und vergesse alles um mich her. Da schluchzt es am andern Ende des Tisches auf, und ich sehe hinüber: Hat sie die Hände gefaltet auf der Tischplatte, sitzt vorgebeugt und blickt mich an. Rinnen ihr die Tränen übers Gesicht. Springt der junge Herr auf und legt seine Wange an ihr Gesicht, tröstet sie: ›nit weinen, Frau Mutter, nit, herzallerliebstes Frau Mutterl, nit weinen –!‹ Sie aber schluchzt und bringt unter Schluchzen heraus: ›Ach, ist das nicht gleich wie deines Herrn Vaters Abschiednehmen gewesen, Wolfgang? O bitte, Herr Pfarrer, noch einmal die Worte: Künftig spricht dann wohl, wer dich in Tränen erblicket –!‹ Ich las die Verse zum zweitenmal bis zu dem Wunsche des kühnen Prinzen Hektor:

Aber mich halte im Tod der gewölbte Hügel umfangen
Ehe von deinem Geschrei ich gehört –

So las ich. ›Ei, aber Frau Mutter,‹ rief da der junge Herr, ›ist nicht Held Hektors Söhnlein noch 33 in den Windeln gelegen? Und hat nicht zu mir der Herr Vater gesagt beim Abschiednehmen, ich solle die Frau Mutter beschützen? Und hab' ich's etwa nicht getan das Jahr her, Frau Mutter? Und‹ – er trat zurück, strich seine Locken aus dem Gesichte und reckte die feine, schlanke Gestalt – ›ließe ich Euch wohl fortschleppen in Knechtschaft? Seh' ich so aus?‹ – Da lachte sie inmitten ihres Weinens, stand auf und legte den Arm um seine Schultern und herzte ihn. ›O bitte, leset weiter, Herr Pfarrer!‹ sagte sie und zog ihr Kind mit sich zum offenen Fenster. Ich aber schneuzte die Kerze und las weiter. Dort standen sie!« –

Der Pfarrer wandte sich und wies mit dem gestreckten Arme auf das mittlere von den drei Fenstern, deren runde Scheiblein gerade jetzt im Widerschein der starken Kaminglut wie weitaufgerissene Augen herüberfunkelten.

»Eng umschlungen standen sie, hinaussehend in die mondhelle Nacht, und ich lese weiter. Auf einmal sagt die gnädige Frau: ›Hörst du nichts, Wolf?‹ Und sie wendet sich zurück zu mir: ›O bitte, Herr Pfarrer, wollet einen Augenblick herüberkommen!‹ – ›Trappeln hör' ich, Frau Mutter,‹ sagt der junge Herr und beugt sich weit hinaus. ›Jetzt nimmer – da, jetzt wieder!‹ – Ich stehe auf und trete ans Fenster nebenhin: ›Reiter sind's, 34 Euer Gnaden, ihrer zwanzig zum wenigsten nach meiner Schätzung.‹ – ›Ganz helle hör' ich's,‹ ruft der junge Herr; ›an der Mühle können sie sein.‹ – ›Um Gottes Barmherzigkeit – Reiter?‹ sagt die gnädige Frau und geht mit gefalteten Händen an den Tisch zurück. ›Was wollen jetzt in der Nacht bei uns heroben Reiter?‹ – ›Und unsre Musketiere trinken den ganzen Tag!‹ – rufe ich und renne aus der Stube, renne den langen mondhellen Gang vor, springe die Stiegen hinunter, schlage hin der Länge nach, raffe mich auf und schreie in die Wachtstube hinein. Johlen sie mir entgegen aus dem Qualm, heben ihre Krüge. Trete ich ein, hebe die Hände ihnen entgegen: ›Um Gottes Barmherzigkeit willen, höret mich, ihr Herren Soldaten!‹ – ›Deine Gesundheit, Herr Bruder Pfarrer!‹ schreit der Korporal, trinkt und bietet mir seinen Krug. – ›In fünf Minuten ist der Feind vorm Schloß!‹ schreie ich wieder. Da steht der Korporal auf und kommt schwankend auf mich her, hält mir den Krug unter die Augen und greift mit der andern Hand an seine Wehre: ›Willst du mir Bescheid tun, Pfaffe?‹ Da reiß' ich ihm den Krug aus der Hand und trinke, renne aus der Stube übern Hof, nach dem Schloßtor zu sehen. Komme ich ans Tor, steht es offen, und lungern etliche von den Musketieren im Mondschein auf der Zugbrücke 35 draußen. Schrei' ich: ›Der Feind kommt, herein mit euch!‹ – Und ganz hell hör' ich die Hufe klappern im Dorf unten, nahe dem Berg. Lallt mir einer was entgegen, kann's nicht verstehen, weiß nur eines, auch diese sind trunken. Pack' ich den nächsten am Arme: ›Aber hört ihr's denn nicht, der Feind kommt!‹ – flehe ihn an. Der schüttelt mich ab und greift an seine Wehre: ›Willst du einen Tillyschen Soldaten anrühren?‹ – Renn' ich ins Schloß, hinauf in meine Stube, hole meine geladenen Pistolen, renne den Gang vor zu den andern. – Herrgott im Himmel, ich werd's niemals vergessen: ›Wolf, du bleibst!‹ – ›Ich tu' nach des Vaters Gebot!‹ – ›Und ich befehle, du bleibst, Wolf!‹ – ›Ist das Tor geschlossen, Herr Pfarrer?‹ fragt mich der junge Herr. ›Es ist offen, und die Soldateska ist trunken.‹ – ›Dann gilt's, Herr Pfarrer.‹ – Und damit zieht er die Mutter an einen Stuhl und drückt sie darauf. – ›Aber Herr Pfarrer,‹ klagt sie, ›muß es denn sein? Wolf will mich einschließen und an der Türe Wache stehen! O barmherziger Gott!‹ – ›Ich weiß nichts Besseres,‹ antworte ich; denn wie ein Alter steht der Knabe vor mir mit dem blanken Degen in der Faust. ›Vorwärts, Herr Pfarrer!‹ Da rasseln auch schon die Reiter in den Hof, und vom Geschrei der Soldateska wird das hilflose Rufen der Mutter 36 verschlungen. Der Knabe zieht mich, den Mann, aus der Stube und schließt die Türe ab und steckt den Schlüssel in seine Tasche. ›Ihr an der Stiege – ich hier an der Türe!‹ befiehlt er. Und ich renne zur Stiege. ›Wolf, Wolf!‹ schreit die Herrin und schlägt mit den Fäusten an die Türe.«

Der Pfarrer hielt ein wenig inne; dann fuhr er fort:

»Es war eine knabenhafte Veranstaltung, ich weiß wohl; aber ich hatte damals nichts Besseres gewußt. Und es ging alles geschwinde zu Ende. Drunten schreien sie und schießen auseinander – zum Scheine und wohl nach den Sternen; denn hernach hatte keiner von unsern Salvaguardia-Brüdern ein Loch im Leibe. Ich stehe an der Stiege mit gerecktem Pistol. Alles, was man hätte tun sollen, alles, was man hätte sollen anders machen, fährt mir durch den Kopf. Und nun rennt einer die Stiege herauf, ein langer Gesell mit blanker Wehre; ich sehe im Mondlichte seine brennrote Feldbinde; es war ein friedländischer Offizier. Und das Wort will mir stecken bleiben im Schlunde; aber ich stoß' es heraus: ›Halt!‹ Er hält drei Schritte unter meiner Pistole, und ich sehe sein Gesicht; der Mond bescheint's. ›Platz da,‹ schreit er, ›ich muß zur Frau!‹ – Ich stehe regungslos, und eine Stimme in mir sagt: Schieße ihn nieder! 37 Und ich habe den Finger am Drücker, ich muß ihn nur krumm machen, und die Kugel sitzt ihm gewißlich im Herzen. Ich stehe, und ich schieße nicht. Und abermals höre ich eine Stimme: ›Schieße!‹ Aber diesmal ist's nicht die Stimme in mir, diesmal ist's der Knabe am Ende des Ganges. ›Mach Platz, ich habe ja nur eine eilige Botschaft zu bestellen!‹ höre ich noch, wie der Friedländische sagt. Dann geht's wie der Blitz vom Himmel: der Friedländische schlägt mir den Degen über die Hand, daß der Schuß in die Stiege fährt, und den zweiten Hieb kriege ich über den Schädel – hier!«

Der Pfarrer beugte sich gegen Brandtner, griff an seinen Scheitel und strich seine Haare auseinander.

Der Kapitän stand auf und besah die Narbe mit Kennermiene. »Achtzöllig,« sagte er lachend, »das war allerdings eine Verletzung!«

»Was nun hinten an der Türe vorging, weiß ich nicht mehr zu sagen,« fuhr der Pfarrer fort; »denn ich lag bis zum andern Mittag ohne Besinnung. Aber das weiß ich, er hatte sich mit allen seinen Kräften gewehrt, der junge Herr. Elf Wunden trug er auf Brust, Armen und Antlitz, und ein Herzstich hatte ihm den Garaus gemacht. Und bis auf die Zähne muß er gekämpft haben, der mannhafte Knabe; denn zwischen seinen Zähnen hielt er 38 noch im Tode einen Fetzen von der roten Feldbinde seines Feindes.«

»Und die Mutter?« fragte Frau Lotte mit bebenden Lippen.

»Die Türe war erbrochen – die andern Reiter mochten ihrem Leutnant beigesprungen sein – aber die Locke hatte er nicht bekommen: als er eindrang, hatte sich die Herrin aus dem Fenster gestürzt, zwei Stockwerke hoch hinab in den gepflasterten Hof.«

»Und der Offizier?« stieß die Schloßfrau nach einer Weile heraus.

»Der ritt nach einer Viertelstunde vom Hofe. Und als er zu Pferde stieg, ließ er sich für seine Pfeife ein Stücklein Kohle bringen. Ich hab's ja nicht gesehen; denn ich lag noch, von Sinnen, da draußen auf dem Gange. Aber sie haben mir's erzählt. Und das Seltsame war: geplündert ist nicht worden in dieser Nacht; wie sie gekommen, so ritten sie wieder von dannen, die friedländischen Soldaten.«

»Welch ein Bube!« seufzte Frau Lotte.

»Eure Schwänke sind unlustig, ehrwürdiger Herr,« murrte Brandtner, stand auf und klopfte die Asche seiner Pfeife in die zusammengesunkene Glut.

»Um Vergebung,« antwortete der Pfarrer, »es ward gewünscht.«

»Ich danke Euch, Ehrwürden,« sagte nun der 39 Obrist und reichte dem Pfarrer die Hand. »Aber beliebt's Euch, so wollen wir zu Bette gehen!«

Da wandte sich der Geistliche zur Schloßfrau: »Hätte ich nun, so frage ich Euch, hätte ich schießen sollen, auch ohne den schrecklichen Ausgang des Handels zu wissen?«

Die Männer schwiegen. Die Frau aber sagte: »Wie einen Hund hättet Ihr ihn niederschießen sollen, Herr Pfarrer!«

*

Der Geistliche hatte sich draußen mit tiefen Bücklingen vom Obristen verabschiedet.

»Gute Nacht, Herr,« sagte nun auch der Kapitän,. machte ein gleichgültiges Gesicht, hielt seine Kerze seitab und dem Alten die Rechte entgegen.

»Brandtner!« flüsterte dieser. »Auf einen Augenblick!«

Sie standen in der Turmstube wortlos voreinander.

Endlich sagte der Kapitän: »'s ist alter Schnee, Herr Obrist.«

»Also da war's, Brandtner!« flüsterte jener.

»Alter Schnee ist's, Herr, ich sag's ja. Und was mußte sie rennen und sich aus dem Fenster stürzen? Er wollte eine Locke. Was ist eine Locke? Hätte sie ihm doch die Locke gegeben. Zum Lachen!«

»Nein, Brandtner, nein – Ihr wißt am besten, 40 was bei diesem Soldatenvolk der Locke Sinn gewesen ist.«

»Legt Euch aufs Ohr, Herr, und schlagt's Euch aus den Gedanken, das rate ich.«

»Gute Nacht, Brandtner.«

»Gute Nacht auch, Herr Obrist.«


Ein leichter Schritt kam den Gang herunter. Es pochte an der Türe des Turmzimmers: »Väterchen, Väterchen, seid Ihr noch wach?«

»Was willst du, Lotte?« Der alte Herr stand mühsam vom Stuhle auf und schob den Riegel zurück.

»Gute Nacht sagen, sonst nichts, Herr Vater.« Sie trat ein und stellte ihren Leuchter neben den andern auf den Tisch. »Ihr seid so bald gegangen, Herr Vater –?«

»Bin müde gewesen, mein Kind.«

»Und waret so bleich, Herr Vater!« Sie schaute ihm ängstlich forschend ins runzelige Gesicht. »Seid Ihr unwohl, Herr Vater?«

»Müde, Lotte, sehr müde.«

»Ei, dann ruhet aus, und gute Nacht!«

»Gute Nacht, Lotte.«

»Und noch etwas, Herr Vater –«

»Was, mein Kind?«

»Ich wollt' Euch nur noch sagen, wie über alle Maßen lieb ich ihn habe, meinen Herrn Vater.«

41 Sie hob sich auf den Fußspitzen und legte die Hände auf seine Schultern. Er aber sah sehr alt und hinfällig aus, als er sich bückte und seine Tochter auf die Stirne küßte.

»Gute Nacht auch, tausendmal, Herr Vater!«

Sie nahm den Leuchter vom Tische und ging langsam zur Türe. Dort wandte sie sich: »Und der Pfarrer darf uns auch keine so grausigen Geschichten mehr erzählen, Herr Vater!« –

Der Obrist stand regungslos und lauschte, bis die Schritte verhallt waren. Dann ging er mit einem tiefen Seufzer zum Fenster und riß es auf. Drunten im Dorfe schlug es elf Uhr, und als die dumpfen Schläge mit Brummen und Summen verklangen, begann es zu Häupten des Einsamen zu rasseln, und auch die Schloßuhr rief mit ihrem hellen Stimmlein elfmal hinaus ins Land.

Ein Windhauch zog über die Nadelwälder, und die Wälder rauschten. Im Schloßhofe drunten aber sprudelte Wasser aus einem Brunnen, laut, sehr laut anzuhören in der stillen, mondklaren Nacht.

*

Wiederum stand der helle Mond über dem Tale, und aus weiter Ferne kam es wie leiser Glockenton durch die laue Luft. Unterm Schloßtore schwatzten Knechte und Mägde, und um die Türme flatterten die Fledermäuse.

42 Da verstummte das Plaudern und Lachen, und die Leute drückten sich scheu zur Rechten und zur Linken an die Mauer. Vom Schloßportale her schritt langsam der Obrist, blieb in der Mitte des Hofes stehen, wandte sich und blickte starr zu einem Fenster des zweiten Stockwerkes empor.

Das Fenster öffnete sich, und eine lichte Gestalt beugte sich weit heraus: »Ihr geht noch fort, Herr Vater?«

»Ein wenig Luft schöpfen, Lotte.«

»Aber Ihr kommt doch bald wieder, Herr Vater?«

»Ja.«

Und langsam ging er durchs Tor, über die Holzbrücke, hinunter ins Tal. – –

»Wenn ich so reich wär' wie der da,« sagte ein Stallknecht, »hernach ging' ich auch nit so trübselig herum; da müßt' alleweil Kirchweih sein bei mir.«

»Is er 'leicht wirklich so reich?« fragte eine Magd mit unverhohlener Ehrerbietung.

»Der?« Nun spuckte der Stallknecht kunstvoll aus. »Der is unmenschlich reich.«

Einer von den Reisigen des Obristen kam sporenklirrend über den Hof gegangen.

»Johann, is es so oder is es nit so?« fragte der Stallknecht.

»Du Ochs, wie kann ich wissen, ob es so is – weiß ich doch nit was?«

43 »Die da wollen nit glauben, daß er unmenschlich reich is, dein Herr Obrister!«

Johann, der reisige Knecht, stellte sich mit gespreizten Beinen vor die andern hin, schob die Hände in die Hosentaschen und sagte: »Reich? Was wißt denn ihr von reich? Ich sag' euch nur so viel, nur so viel sag' ich euch, wenn ich, und hätt' von jedem Taler, den der da –« er wies mit einer Kopfbewegung torauswärts – »den mein Herr Obrister hat, einen Pfennig, wenn ich hätt', sag' ich, dann tät' ich mir einen Bauernhof kaufen, tät' herrlich leben und in Freuden, und kann sein, ich wüßt' auch, was ich sonst noch tät' –« Er zog die Rechte aus der Hosentasche und schlug der Obermagd mit vornehmer Gelassenheit auf die Schulter.

»Ei was, er wird dir seine Taler auch noch nit einzeln vorgezählt haben, tu nit so dick!« meinte der Altknecht ärgerlich, ergriff die kichernde Obermagd am Handgelenke und zog sie näher zu sich.

»Und was wär' denn euer Herr da heraußen, wenn unser Herr nit gewesen wär', mit Verlaub?« Nun spuckte Johann aus. »Ein armer Fretter, sag' ich. Wer hat denn der gnädigen Frau das Gut da gekauft, wer denn? Von unsers Herrn Obristen Talern ist's gekauft – wovon sonst? Das weiß doch ein jeder. Und sind ihm dabei noch so 44 viele übriggeblieben, daß ich zufrieden wär', ich sag's ja, mit einem Pfennig vom Taler.«


Vor der offenen Kirchentüre standen die Läutbuben und warteten auf den Schlag der Turmuhr.

Langsam schritt der Obrist die fast taghelle Dorfgasse herunter.

Da begann es im Turme zu rasseln, und mit hartem Klange fiel der Hammer auf die Glocke. Wie Schatten huschten die barfüßigen Kinder in die Vorkirche und hingen sich an die Stränge. Und mit dem achten Schlage begannen die Glocken zu läuten: die große und die kleine, die helle und die dumpfe, die uralten Glocken, die seit Jahrhunderten Geschlecht auf Geschlecht ins Leben gesungen, durchs Leben begleitet und aus dem Leben geklagt, die Glocken, die sogar den Krieg überdauert hatten.

Ein Schauer fuhr dem alten Soldaten über den Rücken, als er die ausgetretenen Steinstufen zum Pfarrhause emporstieg, und hastig hob er den Klöpfel.

Es rührte sich nichts.

Zum zweiten Male pochte der Obrist. Dann drückte er gegen den Metallknopf, und mit leisem Klirren sprang die Falle vom Bügel.

Im oberen Stockwerke knarrte eine Türe, und Schritte kamen zur Stiege her. Langsam klomm der alte Herr im Mondlichte hinan.

45 »Jemand da?« fragte der Pfarrer und beugte sich über das Abschlußgatter.

Da hob der Obrist sein Haupt, und durch ein Fenster im Rücken des Pfarrers fiel das helle Mondlicht auf sein Antlitz.

»Herr Jesu Christe!« stieß der droben heraus.

»Ich bin's, Ehrwürden, ich, der Obrist!«

»Ihr, Euer Gnaden?« stotterte der droben und hielt sich am Gatter. »Um Vergebung – ich – ich habe Euch nicht sogleich erkannt.«

Der Obrist blieb auf der drittletzten Stufe stehen, und etliche Augenblicke sahen sich die beiden starr in die Gesichter. Nur etliche Augenblicke, nicht lange – und doch sehr lange.

Zuerst raffte sich der Soldat auf und stapfte weiter. »Um Vergebung, Ehrwürden, Ihr habt gestern abend – von einem alten Bilde habt Ihr gestern abend gesprochen.«

»Gehorsamster Diener, Herr Obrist,« murmelte der andre und riß das Gatter auf; »der Mondschein war's, der ungewisse.«

»Bedaure, Herr Pfarrer –!« Der Obrist hielt schwer atmend neben dem Geistlichen. »Ich vermute, Ihr seid im Studium begriffen, bedaure. Steile Stiege das! Aber könnt' ich das Bild sehen?«

»Jederzeit zu Euern Diensten, nur eine Ehre, nur eine Ehre,« dienerte der andre, sah scheu in 46 das bleiche Antlitz, senkte die Augen und mußte doch alsbald wieder emporblicken. »Steile Stiege. Euer Gnaden wollen die Stiege – um Vergebung, das Bild wollen Euer Gnaden – – zu Euern Diensten, Herr Obrist.«

Als die beiden in der Moderluft der kleinen Stube sich gegenüberstanden, begann der Obrist:

»Ich habe gestört, Herr Pfarrer, ich komme morgen wieder.« Unschlüssig zwirbelte er bei diesen Worten seinen langen weißen Schnurrbart.

»Nicht, nicht, Euer Gnaden. Und hier ist das Bild. Um Vergebung, ich will's herunternehmen.«

Der Pfarrer streckte sich über das Schreibtischlein und griff in den dürren Erikakranz des Oelgemäldes, daß die Blüten mit leisem Geprassel herabrieselten auf das Konzept seiner Sonntagspredigt. Doch der Gast zog ihm den Arm zurück. »Nicht, nicht, Ehrwürden, ich habe gute Augen, laßt es hängen!« Und er nahm das brennende Talglicht vom Tische, hielt es hoch und betrachtete lange das Bild.

Neben ihm stand der Pfarrer mit gefalteten Händen und wandte keinen Blick vom unbewegten Gesichte des Obristen. Und plötzlich schlugen seine Zähne zusammen.

»Es ist noch Winterkälte im Hause,« entschuldigte er sich.

Der Obrist achtete nicht auf ihn.

47 »Das war – wie lange war's vor jener – – Tat, Herr Pfarrer?« fragte er endlich.

»Ein Jahr, Euer Gnaden. Der Maler verfertigte zwei Bilder, ein größeres und ein kleineres. Das kleinere nahm der Freiherr mit ins Feld, das größere – je nun, Herr, als Anno dreiunddreißig alles drunter und drüber ging, nahm ich's an mich.«

»Der Freiherr ist nie mehr heimgekommen, Herr Pfarrer?«

»Einmal noch, Euer Gnaden. Da ließ er mich rufen, und mußt' ihm alles erzählen. Das heißt –« Er stockte. »Bei Nördlingen ist er dann geblieben, Euer Gnaden,« fügte er hastig bei.

»Ein gutes Bild,« sagte der Obrist nach einer Weile und stellte den Leuchter sorgsam auf seinen Platz zurück. »Viel Dank, Herr Pfarrer.«

»Wollen mir Euer Gnaden nicht die Ehre geben?« Der kleine Mann räumte einen Stuhl ab.

»Viel Dank, habe Euch ohnedies über Gebühr gestört. Ein gutes Bild. Ich kann mir denken, daß es Euch wert ist.«

Der Pfarrer verneigte sich stumm.

*

An einem der nächsten Tage kam Brandtner durchs Dorf gegangen. Wie von ungefähr trat der Pfarrer aus seiner Türe und zog den Hut: 48 »Ihr wolltet meine Waffen besehen, Herr Kapitän – darf ich Euch invitieren?«

»Ein andermal, Ehrwürden,« sagte Brandtner, griff an seinen Hut und wollte vorübergehen.

»Wenn Ihr erlaubt, Herr Kapitän, so schließe ich mich an.«

»Wenn Ihr nicht verschmäht, mit einem Heiden zu spazieren?«

Der Pfarrer überhörte das Wort und ging mit schnellen Schritten neben dem langen Gesellen durchs Dorf. Er sprach vom Wetter und von der Herrschaft im Schlosse, vom Krieg und von vielem andern und bekam einsilbige Antwort.

Plötzlich warf er in gleichgültigem Tone hin: »Wenn nun, wie Ihr neulich gesagt habt, der Herr Obrist vorzeiten unterm Friedländer gedient hat, dann ist er Anno zweiunddreißig wohl auch vor Nürnberg gelegen?«

»Unterm Friedländer?« Einen schiefen, feindseligen Blick warf der Kapitän auf den kleinen Mann. »Wer hat Euch das gesagt – ich? Dann habe ich mich versprochen. Unterm Tilly hat er gedient.«

»Unterm Tilly? Um Vergebung, Herr Kapitän, ich hätte gedacht, unterm Friedländer. So, so, unterm Tilly?«

Und dann erzählte er dem Kapitän des langen und breiten von der schrecklichen Feuersbrunst, die 49 Anno sechsundvierzig das Dorf zur Hälfte verzehrt hatte.


Am Abende dieses Tages aber traf Brandtner den Obristen im Schloßhofe und raunte ihm zu: »Nehmt Euch in acht vor dem Pfaffen. Und daß Ihr's wißt, Herr, Ihr habt niemals unterm Friedländer, sondern unterm Tilly gedient. Er weiß das nicht anders von mir.«

Der Obrist seufzte tief auf und trat unters Portal.

*

Es war in den letzten Tagen des April. Nach langen Regenwochen schien zum ersten Male wieder eine Nachmittagsonne, und in goldenem Lichte erglänzte das junge Grün des Tales und der Höhen.

Aber nicht nur draußen im Wald und auf den Feldern war es helle, sondern auch im alten Schlosse funkelte und gleißte, was zu funkeln und zu gleißen vermochte – vornehmlich das Kupfergeräte in der nie benutzten Prunkküche zu ebener Erde, rechts vom Portale.

Mit verschränkten Armen lehnte die Schloßfrau an der blankgescheuerten Anrichte, und vor ihr stand der Kapitän.

»Ach Gott, ich seh's doch selber all die Wochen her! Sagt, ist er denn – ach Gott, ist er denn immer so seltsam gewesen, der Herr Vater?«

50 »Er ist ja zuweilen schlechter Laune, Euer Gnaden; aber so – nein, Euer Gnaden, so schwermütig hab' ich ihn noch niemals gekannt. Das beste wäre, Ihr vergebt mir, wenn ich frei rede, das beste wäre, wir machten uns auf und ritten wieder nach Hause. Doch davon will er ja nichts hören, der alte Herr.«

»Aber, Herr Kapitän, wo denkt Ihr hin? Was täte mein Eheherr dazu sagen nach seiner Heimkehr?«

»Das wäre, um Vergebung, meine geringste Sorge. Ihr könntet ihm ja doch wohl alles haarklein erzählen.«

»Und die Leute, Herr Kapitän, was täten die Leute sagen? Nein, das geht nicht!«

Der Kapitän lächelte spöttisch: »Die Leute! – Mit beiden Händen solltet Ihr uns hinausschieben, sage ich, gnädige Frau. Ich sehe kein gutes Ende dieser Sache. Aber Ihr wollt nicht. Gut, so schaffet uns Divertissement. Mit der Jagd ist's nichts, spazierenreiten kann einer auch nicht den ganzen Tag, zumal bei Regenwetter. Ich will's Euch sagen, gnädige Frau, um Vergebung, aber es ist nicht kurzweilig in dem alten Rattenneste.«

»Ach, Herr Kapitän – kann ich dafür?« Sie seufzte tief auf.

»Um Vergebung, ein wenig schon, Euer Gnaden; und es bringt ihn um, meinen Obristen. Ich sag' 51 es frei heraus. Wisset, er ist gewohnt, mit seinesgleichen bei einem Becher Weines zu reden von den Weltläuften und von alten Zeiten. Was wir beide einander zu sagen haben, das wissen wir, ehe einer den Mund auftut. Also bitte ich, schaffet Rat!«

»Könnte man nicht den Pfarrherrn des öftern invitieren, Herr Kapitän?«

»Den Pfaffen? Laßt mich, um Vergebung, laßt mich mit dem in Ruhe.« –

Sie stand noch immer an die Anrichte gelehnt und dachte nach, wie sie ihrem alten Vater Divertissement bereiten könnte in der großen Einsamkeit.

Plötzlich leuchtete es auf in ihren Augen, sie klatschte in ihre Hände und rief: »Herr Kapitän, ich hab's!«

Und nun berieten die beiden noch lange in der sonnenhellen Küche. –

Am Abende, während der Mahlzeit, begann Brandtner wie von ungefähr: »Morgen will ich verreiten, Herr Obrist; gedenke bis zum Abend wieder hier zu sein.«

Der alte Herr nickte und sagte nach einer Weile: »Nehmt Euch aber den Johann mit, Brandtner.«

»Das will ich, Herr Obrist. Und Ihr fragt mich gar nicht, wohin der Ritt geht?«

»Ei hört, Herr Vater,« mischte sich Frau Lotte ins Gespräch, »wir haben einen Nachbarn 52 drüben hinter den Bergen, den ich jezuweilen am dritten Orte sehe. An den habe ich erst heute gedacht, glaube, er könnte Euch behagen. Wildenest heißt er, Baron Wildenest, und Obristwachtmeister ist er gewesen, wenn ich nicht irre.«

»Bei den Schweden,« fiel Brandtner ein. »Nicht wahr, Euer Gnaden, Ihr wißt's genau, bei den Schweden?«

»Das weiß ich gewiß,« antwortete die junge Frau eifrig; »sie nennen ihn ja nur immer den lustigen Schweden. Ach, daß ich an den nicht schon früher gedacht habe!«

»Ein jüngerer Mann?« fragte der Obrist.

»Zwischen vierzig und fünfzig, Herr Vater, klein, dick und über die Maßen lustig. Ja, Herr Kapitän, Ihr müßt ihn holen.«

Der alte Herr legte sein Handtuch zusammen und lächelte trübe: »Da sollte doch ich ihm zuerst aufwarten, Brandtner?«

»Nicht, Herr Obrist, nicht, das besorge ich; denn Euch entschuldigt das Alter.«

»Der Kapitän muß ihm einen guten Trunk verheißen!« lachte Frau Lotte. »Dann kommt der Schwede, und wenn's acht Meilen wären. Er ist nämlich, müßt wissen, gar sehr auf dem Hunde.« –

Und des andern Morgens ritt Kapitän Brandtner in aller Frühe über die Berge, den lustigen Schweden 53 zu holen und seinem Herrn Obristen Divertissement zu bereiten.

*

Sie hatte recht gehabt, die Schloßfrau: schon in den ersten Tagen des Mai ritt der lustige Schwede durch die Wälder nach Breitenburg, einen Trunk zu tun mit dem Herrn Bruder Obristen.

Gegen zehn Uhr vormittags kam er an, und der alte Herr ging ihm eilig bis zur Mitte der Schloßbrücke entgegen. Schwerfällig kletterte der Baron vom Gaule, bedauerte weitläufig, daß er jetzt erst von der Anwesenheit des Herrn Bruders Kenntnis erhalten, und begehrte höflich und dringend, der Gnädigen aufwarten zu dürfen.

Als dies verrichtet war, begab man sich in die Ställe und musterte die Rosse, wie sich's gebührte.

»Ein schönes Gut,« sagte der Baron plötzlich und schaute dem Obristen steif ins Gesicht; »und um ein Bettelgeld hat er's bekommen, der Herr Schwiegersohn.«

»Man sagt, es sei damals nicht weit her gewesen mit der Schönheit, Herr Bruder,« antwortete lächelnd der Obrist. »Meine Tochter erzählt mir, daß ihr Herr habe Jungwald roden müssen aus den Feldern vor fünf Jahren.«

»Mag sein, aber ist doch ein schönes Gut, und jammerschade ist's und bleibt's, daß es aus der 54 Ritterschaft gekommen. Um Vergebung,« setzte er händereibend hinzu, »wüßte mir keinen lieberen Besitzer als Euern Herrn Schwiegersohn – schade, daß er nicht anwesend ist.«

»Ich denke, er wird der Landschaft keine Unehre machen,« versetzte der Obrist mit Zurückhaltung.

»Nur meine Meinung, Herr Bruder, nur meine Meinung. Ein ganzer Kerl, der Herr Schwiegersohn. Aber Ihr dürft mir's nicht verargen, wenn es mich grämt, hm – daß uns so viele Güter durchs leidige Kriegswesen aus den Händen gekommen sind.«

»Kann mir's denken, Herr Bruder, das muß einem leid tun,« sagte der Obrist höflich.

»Die letzte, die hier gesessen, war eine Muhme meines seligen Herrn Vaters und ist elend ums Leben gekommen. Aber vergebt, es ist mir nur so eingefallen. Lassen wir die alte Zeit. Doch was ist Euch, Herr Bruder? Seid Ihr unpaß?«

»Der Herr Obrist sind seit etlichen Wochen schlechter Leibesdisposition,« mischte sich Brandtner ins Gespräch. »Zudem stehen wir schon lange, und das ist ihm wenig bekömmlich. Beliebt's Euch, Herr Baron, so wollen wir zu Tische gehen.« – – –

»Hofbecher – was?« fragte der von Wildenest den Obristen, als sie zum Portale kamen.

»Ganz nach Euerm Belieben, Herr Bruder. 55 Lasse hierin jedem seine Freiheit. Nur bitte ich, mich zu entschuldigen, habe zurzeit keine Inklination zum Trinken. Um so mehr aber wird –«

»Zu Euern Diensten, Herr Obristwachtmeister!« fiel der Kapitän ein.

»Na,« lachte der Baron und musterte Brandtner mit den kleinen Augen, »denke, wir lassen's bei Stengelgläsern bewenden. Vor den Langen und Hagern hab' ich grausamen Respekt, die sind uns Dicken über.«

»Käme auf eine Probe an,« versetzte der Kapitän und neigte höflich das Haupt.


Der letzte Gang der Mahlzeit war abgetragen, die Schloßfrau hatte sich zurückgezogen, und mit roten Köpfen saßen die rauchenden Herren samt dem Pfarrer und den beiden Amtleuten rings um die Tafel.

»Das neue Geschlecht, Herr Bruder,« sagte der Baron und hob sein volles Glas gegen den Obristen. »Ich trinke die Gesundheit des neuen Geschlechts!«

Der Obrist brachte sein Glas an die Lippen und trank es zur Hälfte leer.

»Ei, das gilt nicht, Herr Bruder!« rief der Baron. »Wenn der Spruch lautet auf die Gesundheit eines ganzen Geschlechts, dann darf kein Tropfen im Glase bleiben.«

56 Der alte Herr goß schweigend den Rest des Weines hinunter.

»Ein schönes Kind, Euer Enkel, Herr Bruder,« rief der Baron und hob das frischgefüllte Glas. »Herr Kapitän, es gilt die Gesundheit des Enkelkindes!«

»Es gilt!« antwortete Brandtner und leerte sein Glas.

Unablässig glitten die Lakaien zwischen dem Schenktische und der Tafel hin und her und füllten die Trinkgefäße. Eine dicke Rauchwolke hing über den Zechenden. Immer wieder hob der Gast sein Glas, und zwischen Kriegsgeschichten und Schwänken klang sein Ruf: »Es gilt die Gesundheit –!« – –

Kapitän Brandtner hatte soeben einen Possen erzählt, und schallendes Gelächter belohnte seine Kunst; sogar der Obrist verzog die schmalen Lippen. Da quoll eine dicke Ader auf des Barons Stirne empor, und mit verzerrtem Gesichte rief er über die Tafel: »Amtmann, du Rindvieh, nun hast du's doch vergessen!«

Erschrocken fuhren die beiden Amtleute am unteren Ende der Tafel von ihren Sitzen auf: »Um Vergebung, haben Freiherrliche Gnaden meine geringfügige Person im Auge?« stotterte der Breitenburgsche Amtmann.

»Euch?« schrie der Baron und legte sich zurück 57 und wollte sich ausschütten vor Lachen. »Euch? Den meinigen Amtmann doch! Ihr könnt Euch immerhin setzen und könnt warten, bis Euch der eigne Herr den Ochsen an den Kopf wirft.«

Erleichtert sank der Breitenburgsche auf seinen Stuhl zurück. Der Wildenestsche aber schlug sich an die Stirne, griff in seine Brusttasche und zog ein schmales Buch heraus.

»Gib's!« rief der Baron. Dann wandte er sich, aufrechtstehend, aber schon ein wenig schwankend, zum Obristen: »Wo hat der Herr Bruder Anno sechsundzwanzig gedient?«

»Unterm Tilly!« fiel Brandtner ein.

»I was?« machte der Baron und ließ die Lippe hängen. »Nu hab' ich mich so gefreut, und nu ist's nichts. Hab' ich gedacht, der Herr Bruder müßt' unterm Friedländer gedient haben.«

»Tilly,« murmelte nun auch der Obrist und verneigte sich leicht.

»Wie ist aber der werte Vorname?« fragte der Baron und begann in dem Stammbuche zu blättern.

»Jakob –« sagte der alte Herr und trank.

»Nun also, hier steht's doch!« rief der Baron erfreut, strebte längs der Tafel hin zum Obristen, warf einen Stuhl um und hielt dem alten Herrn das aufgeschlagene Buch unter die Augen: »›Jakob Hilmar Kerkuhlen, Leutnant, schreibt dieses seinem 58 Herzbruder Jost Baron von Wildenest zum steten Gedächtnis –

Was kommen muß, das kommt,
Es sei früh oder spat;
Du, Mensch, regierst es nicht,
Es geht nach anderm Rat.
                            1626, im Monat Jänner.‹

Nun,. Herr Bruder? Jost Wildenest – das war nämlich mein seliger Herr Vater, und der stand unterm Friedländer.«

Der Obrist sah die Schrift unverwandt an und schüttelte endlich das Haupt.

»Der Name kommt öfter vor bei uns im Norden,« sagte Brandtner.

»Oefter,« brachte nun auch der Obrist mühsam heraus, hob sein Glas und goß den Inhalt hinunter.

»Aber der Vorname, Jakob –?« murrte der Baron und tastete sich an seinen Platz zurück.

»Ich hatte einen Vetter des Namens – ich entsinne mich,« sagte der alte Herr stockend und trank aus dem frischgefüllten Glase.

»Und wenn der Herr Obrist Anno sechsundzwanzig unterm Tilly gestanden ist, so kann er nicht unterm Friedländer gewesen sein,« lachte Brandtner und hob sein Glas: »Herr Baron, es gilt die Gesundheit aller mannhaften Tillyschen Reiter!«

59 »Der ganze Spaß ist mir verdorben,« murrte dieser und griff nach seinem Glase. »Herr Kapitän, es gilt!«

»Man sollte denken, ein Bruder des Herrn Obristen hätte das Sprüchlein geschrieben, so ähnlich ist der Duktus,« bemerkte der Pfarrherr, der hinter den alten Herrn getreten war und mit halbgeöffneten Augen auf das Stammbuch starrte.

»Eure Gesundheit, Ehrwürden!« schrie ihn Brandtner an und leerte sein Glas.

»Wes Herkommens ist Eure Familie?« fragte der Baron den Obristen über die Tafel hinüber.

»Mein Vater ist Stadtschreiber gewesen, Herr Bruder, und mein Großvater ein Schmied.«

»Da habt Ihr Fortun gemacht, Herr Bruder, das muß Euch der Neid lassen!« antwortete der von Wildenest mit schwerer Zunge, und der Kapitän rief laut: »Herr Obristwachtmeister, es lebe der Krieg!«

»Er lebe!« sagte der Baron und goß das volle Glas hinunter. »Ist nur die Frage, wem er mehr genutzt hat, der Krieg – euch Bürgerlichen oder uns Junkern?«

Mit diesen Worten begab er sich schwankenden Schrittes aus dem Gemache.

Flüsternd neigte sich der Kapitän zum Obristen: »Es könnte Euch schaden, Herr, Ihr seid solchen Trinkens lange entwöhnt.«

60 »Laßt mich!« kam die Antwort zurück.

Schweigend rauchten die Herren aus den weißen Tonpfeifen.

»Drunter und drüber ist's gegangen, und wir Junker haben allerorten die Zeche bezahlt,« schrie der zurückkehrende Baron in der Türe und lehnte sich einen Augenblick an den Pfosten. Dann ging er vorsichtig zur Tafel. »Halt!« rief er und streckte den Arm aus. »Wer bist denn du? Wohin denn?«

»Der Pastor loci,« murmelte der Gefragte, schlüpfte mit einer tiefen Verbeugung an dem Trunkenen vorüber und gewann die Tür.

»Und du –?« Der Baron stand mit gespreizten Beinen an der Tafel, stemmte die Fäuste auf die Platte und starrte dem Breitenburgschen Amtmann ins Gesicht. »Du –?«

»Um Vergebung, der diesseitige Amtmann,« sagte dieser und fuhr in die Höhe, griff nach seinem vollen Glase und verneigte sich, so gut es gehen wollte: »Kann ich die Permission haben, Eurer Hochfreiherrlichen Gnaden dieses zu fernerer untertäniger Rekommandation meiner Wenigkeit zu bringen?«

»Du –?« lallte der Baron, wandte sich ab und spuckte aus. »Ja, Herr Kapitän – soll – soll denn ich – ich da hieroben jedem Troßbuben Bescheid tun? Pfui Teufel!«

61 Der Geschmähte stotterte etwas und sank vernichtet auf seinen Stuhl zurück. Brandtner aber rief: »Ei, Herr Baron, das ist ein wackerer Mann und kein Troßbub –!«

»Troßbuben – und – und Stadtschreiber und – und Schmiedsknechte – alles – alles drunter und drüber,« lallte der Baron, setzte sich auf zwei Stühle und legte die Beine auf den dritten.

»Ihr trinkt nicht, Herr Baron!« mahnte Brandtner und gab dem Lakaien einen Wink.

»Drunter und drunter,« lallte der Baron. »Wenn da, wenn da einer wollt', wenn einer wollt' nachfragen, wo denn das Geld, wo denn das Geld, wo denn die Stadtschreiber das Geld her – herhaben zum Gü – Güterkaufen – Herr Bruder –?« Schwerfällig wandte er sich zum Obristen.

»Ei, laßt den alten Mann in Ruhe, er schläft, Herr Baron. Ihr seht's doch!« rief Brandtner. »Des Kaisers Gesundheit!«

»Des Kaisers!« wiederholte der andre, tastete nach seinem Glase und nahm einen Schluck.

»Potz Blitz, Herr Baron! Des Kaisers, hab' ich gesagt, und Ihr leert Euer Glas nicht?«

»Des Kaisers!« wiederholte der Betrunkene und goß alles hinunter.

Der Kapitän winkte dem Lakaien, hob immer wieder sein gefülltes Glas, ließ leben, was ihm in 62 den Mund kam, von den Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches bis zu den Guckenkeln des Hauses Wildenest.

»Herr Bruder – Kapitän,« lallte der Baron zuletzt und starrte verwundert auf den Breitenburgschen Schloßamtmann, »wer – ist – denn – der –?«

»Unser Amtmann, Herr Obristwachtmeister!« lachte Brandtner.

»Sollst leben, Bruder Amtmann, wa–cke–rer Mann!« brachte der Baron mühsam heraus, griff nach seinem vollen Glase, stieß es um und sank mit Gepolter unter die Tafel.

Nun erhob sich der Kapitän, winkte den Dienern und befahl, zum freiherrlichen Amtmann gewendet: »Traget den da sänftiglich in die Gastkammer und morgen reitet ohne Abschied von hinnen. Sagt Euerm Herrn, ich werde ehestens zu ihm kommen und meinem Herrn Obristen Satisfaktion holen!«

Und also schleppte der Amtmann mit den Dienern den Sinnlosen die Treppe hinunter.

Der Kapitän aber nahm das Stammbuch aus einer Weinlache, wischte darüber und schob es in sein Wams. Dann weckte er seinen Herrn und geleitete ihn sorgsam über den Gang in die Turmstube.

*

63 Des andern Tags blieb der Obrist in seinem Bette, wollte nicht essen und nicht trinken.

In der Abenddämmerung aber betrat Brandtner die Turmstube, stellte eine brennende Kerze auf den Tisch, zog einen Stuhl an des alten Herrn Lagerstätte und begann mit Lachen ein Brieflein vorzulesen, das ihm soeben vom Amtmanne des abreitenden Barons überbracht worden war:

»Meinen freundlichen Gruß mit geneigtem Willen zuvor, edler und mannfester, insonderheit geliebter Herr Kapitän. Der großen Ehr' und erwiesenen Guttat tue ich mich hiermit höchlich bedanken mit Bitt', da ich mich etwa in einem und anderm ungebührlich bezeigt, mir es zu verzeihen und meinem großen gehabten Rausche beizumessen.

In Eil vorm Abreiten

meines hochgeehrten Herrn Kapitäns dienstwilliger

Joachim von Wildenest.«

»Das war nun der lustige Schwede – ich danke! Werd' ihn aber nach diesem wohl müssen laufen lassen,« lachte Brandtner und schob den Brief ein. »Nicht, Herr?«

»O geht hinaus, Brandtner!«

»Hinaus? Nein, Herr Obrist. Ihr habt nun ausgeschlafen. Ich denke, Ihr kleidet Euch an und kommt noch auf eine Stunde in die Wohnstube. Nicht?«

64 Der alte Herr lag regungslos auf dem Rücken, hatte die Hände unterm Kopf gefaltet und sah zur Decke empor. Nun begann er halblaut: »Was kommen muß, das kommt – es sei früh oder spat – So ist's, Brandtner, ganz so. Hierher hab' ich müssen reiten, und hier oben ist's vollends erwacht.«

»Was ist erwacht, Herr Obrist?«

»Das da, Brandtner!« Der alte Mann fuhr mit der Rechten an seine Brust und bohrte den Zeigefinger in die Herzgrube. Dann schob er die Hand wieder unter den Kopf und lag regungslos wie zuvor.

»Unsinn, Herr! Das scharfe Trinken hat Euch geschadet, weiter ist's nichts. Und morgen seid Ihr gesund.«

»Mag sein, Brandtner. Das da drinnen aber ist älter als der Wein von gestern, und jetzt wacht's auf. Laßt mich liegen!«

»Mitnichten, Herr, ich lass' Euch nicht allein.«

»Mich friert.«

»So will ich Feuer machen.« Er ging in die Küche, brachte auf eiserner Schaufel qualmende, glühende Kohlen und schürte mit Spänen das Feuer im Kamin. Prasselnd schlugen die Flammen empor.

»Das richtige Lagerfeuer!« sagte er und setzte sich wieder an das Bett. »Und nun wollen wir unser Garn spinnen, Herr Obrist, das Garn von Anno neunundzwanzig.«

65 »Das von Anno sechsundzwanzig, Brandtner,« murmelte der Greis.

»Nein, das von Anno neunundzwanzig! Weiß noch wie heut', aber den Namen hab' ich vergessen. Wer kann auch alle Namen merken? Sehe vor mir den langen Kerl, den Schultheißen im schwarzen Mantel, und die andern, die Ratsherren. Da hält vor ihnen der Kapitän Jakob Hilmar Kerkuhlen, und hinter ihm halten die Offiziere samt dreien Reiterkompagnien, ihm anvertraut zum Kommando und zur Exekution. Drunten im Grunde liegt das Städtlein. Abend ist's, im Oktober, die Sonne weg, hinter den Bergen. Aber blutrot ist der Himmel über den Bergen, hinter dem Städtlein. Sollen fünftausend Gulden Brandschatzung zahlen und können nicht, die Tröpfe. Ist nun Befehl zum Brennen gegeben. Stehen da, sehe sie heut noch, haben fahle Gesichter, schlottern ihre Knie. Und mit einmal stürzt der lange Kerl, der Schultheiß, nieder, nach ihm die andern: rutschen auf den Knien herzu, heben die Hände. Und in ihrem Rücken tut sich das Stadttor auf –«

»O laßt mich, Brandtner!«

»–das Stadttor, und kommt einer heraus, 'n eisgrauer Pfaff, und nach ihm wimmelt's in langem Zuge, zwei und zwei, das kleine Volk. Stellen sich unter den Ratsleuten auf und fangen an zu singen –«

66 »O laßt mich, Brandtner!«

»– fangen an zu singen, Herr. Und ich wende mich seitwärts, des Herrn Kapitäns Antlitz zu sehen. Blutrot war's – vom Abendscheine. Und sehe aber auch, wie ihm ein Tropfen die Wange hinunterrinnt – – habe allezeit scharfe Augen gehabt, seh's ganz genau.«

»O schweigt, Brandtner!«

»Bin ja schon fertig, Herr Obrist. Hinter mir grollen und murren sie. Vorne aber drängen sich die armen Tröpfe herzu, heben ihre Gören zum Kapitän empor. – Glaub' sicher, heut noch steht in ihrer Ratsstube der Pokal, in dem hernach der Ehrentrunk gespendet wurde, und darf nie keiner mehr trinken daraus.«

»O laßt, Brandtner! Als ob eine Untat könnte wettgemacht werden durch eine gute Tat!«

»Solcher Taten des Herrn Kapitäns könnte ich dem Herrn Obristen noch viele erzählen.«

»Gebt mir Wasser, Brandtner!«

Der Kapitän stand auf und holte den Krug. Mit tiefen Zügen trank der Obrist. Dann lag er wieder regungslos. Endlich aber sagte er: »Und wovon ist dann dies Gut gekauft, Brandtner? Und mein Stadthaus? Nun? Alles wacht auf.«

»Ehrlich erworbenes Beutegeld, Herr Obrist.«

»Mit Blut und Tränen benetzt, Brandtner. Alles wacht auf.«

67 »Des einen Sattheit ist des andern Hunger, des einen Lust des andern Weh, Herr Obrist. So geht die Welt. Und hättet Ihr's nicht genommen, was Euch gebührte, so wär's in eines dritten Tasche geflossen.«

»So hab' ich nun auch für den dritten zu büßen, Brandtner. – Das Gemurmel! Hört Ihr nichts?« Er richtete sich auf und starrte nach der zusammengesunkenen Glut hinüber.

»Es ist der Brunnen im Hofe, Herr.«

»So gebt mir Wasser! – – – – – – – – Ein jeder hat's, Kapitän!«

»Was, Herr?«

»Das da drinnen – das Gewissen.«

»Unsinn, Herr! Am Abende zuvor – wir reden jetzt von Anno sechsundzwanzig – also, am Abende zuvor hatte ich da drunten in dem Flecken – weiß noch wie heut – ein zweijährig Kind durch den Rauchfang ins brennende Herdfeuer geworfen –«

»Es ist nicht wahr,. Brandtner, Ihr seid's nicht gewesen – –!«

»Zutage ist's nie gekommen, aber ich bin's gewesen, Herr, und heute geb' ich's Euch zum besten.«

Der alte Herr hatte sich aufgerichtet und blickte den Kapitän entsetzt an.

»Und wenn Ihr mich fragt, Herr Obrist, ob ich heute irgendwas verspüre da drinnen, ob ich vor 68 etlichen Wochen, als wir den Flecken passierten, etwas verspürte da drinnen – ich sage nein! Siebenundzwanzig Jahre sind's her. Ja, sagt, bin ich nun heute der Fähnrich Brandtner, der damals Hunger hatte, Rauchfleisch haben wollte und den Bauern bedrohte, er werde was erleben? Bin ich's, der ihn damals zwang, das Rauchfleisch herauszugeben, wenn nicht unversehens und von ungefähr auch sein zweites Kind ins Feuer fallen sollte? Bin ich's? Ei, fragt die Mädels, ob ich's bin! Ich verspüre nichts davon. Ich bin's nicht.«

»Ihr?« murmelte der alte Herr und legte sich zurück.

Es war stille in dem halbdunkeln Gemache. Nur die Taschenuhr am Nagel über dem Bette tickte laut. – – –

»Und es ist doch so, Brandtner,« sagte der alte Herr nach einer Weile. »Jeder hat's. Der eine zuvor, der andre hernach. Das Wasser hat einen kleinen Kopf, der dringt durch die engste Ritze. Aber tut mir die Uhr weg!«

Brandtner nahm die Taschenuhr vom Nagel und trug sie hinüber auf den Waschtisch.

Regungslos, mit halbgeschlossenen Augen, lag der Alte auf dem Rücken. »Tut mir die Uhr weg!«

»Sie ist weg, Herr.«

»Sie tickt und tickt. Ins Wasser mit ihr!«

69 Brandtner nahm die kostbare Uhr und versenkte sie wortlos in den Wasserkrug.

»Ihr müßt mich hören, Brandtner!«

»Ich höre, Herr Obrist.«

Also begann der Obrist: »Sie sagen immer das Gewissen, Brandtner. Sie lügen! Die Gewissen müßte man sagen; denn es sind ihrer zwei. Ein kleines, schwaches, mit Flüglein, vielleicht ein Engel – das eine. Das kommt her zu dir, wenn du Böses tun willst, läuft dir stracks vor die Füße, stemmt sich gegen deine Knie – hört Ihr –?«

»Ich höre.«

»– kommt und will dich aufhalten. Du aber gehst vorwärts, immer vorwärts und trittst das Kleine, Schwache unter deine Füße. Hab' ich auch getan, Brandtner; jawohl, unter die Füße hab' ich's getreten. Und dann? Ja, dann wimmert's ein wenig und stirbt. Und dann? Dann kommt eines Tages, wo du's am wenigsten vermutest, ein starker, gewappneter Mann, tritt neben dich und schaut dir ins Gesicht. Du treibst ihn fort; er geht. Aber er kommt wieder und geht nicht mehr: ißt aus deiner Schüssel, setzt sich zwischen deine Freunde, legt sich zu dir ins Bette und geht und geht nicht mehr von dir. Siehe, das ist das andre Gewissen. – – – Brandtner, es wird mich erwürgen.«

»Gebt mir Eure Hand, Herr, – so! Könnt Ihr wohl schlafen?«

70 »Weiß nicht.«

»Versucht's!«

Regungslos verharrte der Kapitän am Lager des Obristen und saß noch, als dieser längst entschlafen war. Endlich stand er auf, nahm einen Mantel von der Wand, rollte ihn, streckte sich auf den Teppich und schob das Bündel unter seinen Kopf.

*

Es war um die Mitte des Monats Mai.

Heftig atmend kam Frau Lotte in den Stall gelaufen: »Brandtner, ich bitt' Euch!« Sie hielt die Hand aufs Herz gedrückt und schaute mit großen, angstvollen Augen zum Kapitän empor. »Brandtner!« Sie zog ihn am Wamse hinaus in den Hof: »Er ist nun aufgestanden und in die Dirnitz gegangen.«

»Gut, daß er einmal aus dem Bette ist, Euer Gnaden.«

»Nein, Brandtner, nein! Es ist ärger als vordem. Er steht und redet mit jemand, der nicht da ist. Ich bin zu ihm hineingetreten – es war entsetzlich, Brandtner: ich rief ihn an – da warf er mir ein paar Augen zu, als wollt' er mich erwürgen. Da bin ich heruntergelaufen. Helft, Brandtner!«

»Ich will nachsehen,« sprach der Kapitän, wandte sich zum Portale und stieg die Treppe empor.

71 Neben der öden Dirnitz des Schlosses befand sich ein kleines fensterloses Gemach. Dort hatten sie wohl in alten glanzvollen Zeiten ihre Mäntel abgelegt, die schönen Frauen, und hatten unbemerkt durch die Gucklöcher in der Bretterwand das Festgewühl überschaut, ehe sie eintraten in den Saal.

Nun stand der Kapitän an einem dieser Gucklöcher.

Das gedämpfte Licht der untergehenden Sonne erfüllte den weiten, säulengetragenen Raum. Was noch übrig war von den buntgemalten, wappengeschmückten Fenstern der Westseite, das glühte in satten Farben. Die meisten Fensterhöhlen aber waren mit Brettern verschlagen. Denn seit einem Menschenalter hatte man kein Fest mehr gefeiert in diesem Raume.

Seitab in einer Ecke stand der Obrist und begann grollend: »Du – bist du schon wieder da? Warum bist du so klein und schwach? Her da, her – stell dich in meinen Weg! Was hast du gesagt? Laut! Gewarnt hast du? Noch einmal! Hund, kleiner, geh her!«

Nun kam er mit gesenktem Haupte bis zur Mitte des Saales, blieb stehen und murmelte Unverständliches vor sich hin. Auf einmal warf er den Kopf zurück, riß die Augen auf, streckte die Rechte abwehrend aus und schrie: »Du auch? Fort, 72 sag' ich! Erst der Junge, dann der Alte. Hund von einem alten Gewissen! Ich hab' nun, ich hab' nun lange mit dir Geduld gehabt – fort, sag' ich!«

Die Rechte sank ihm schlaff herunter, ein Zittern überlief ihn. Dann stand er regungslos.

Das Sonnenlicht warf die bunte Pracht der wappengeschmückten Fenster in verzerrten blutroten und himmelblauen und goldgelben Flecken auf die hellen Steinfliesen. Und langsam krochen die bunten Flecken schräghin nach rückwärts und stiegen sachte empor an den weißen Marmorsäulen.

Regungslos stand der Kapitän am Guckloche, regungslos der Obrist inmitten des Saales. Das Gesumme zahlloser Fliegen kam von den Fenstern her und erfüllte den Raum.

Endlich begann der Obrist auf und ab zu gehen und mit geballten Fäusten und weitaufgerissenen Augen in allen Sprachen des Feldlagers zu schelten und zu fluchen auf den Kleinen und auf den gewappneten Großen. – – –

Die bunten Flecken waren die Wand hinaufgekrochen, in die vertäfelte Decke geschlüpft. Lautlos schlich Brandtner von seinem Guckloche weg, hinaus auf den Gang, trat fest auf, öffnete die Saaltüre und ging stracks gegen seinen Herrn und Freund: »Ihr seid müde, Herr Obrist. Ich denk', Ihr legt Euch schlafen.«

73 Wortlos blickte ihm der Alte ins Gesicht und ließ sich willenlos die Treppen hinuntergeleiten.


Die ganze Nacht saß der Getreue am Bette des Kranken, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Die ganze Nacht saß Brandtner und getraute sich nicht zu schlafen. Gegen Morgen aber konnte er sich nimmer bezwingen und nickte ein.


Erschrocken fuhr er in die Höhe. Die helle Morgensonne leuchtete ins Turmgemach, und das Bett des Obristen war leer.

Brandtner stürzte hinaus.

»Herr Kaptähn –!« Der Türe gegenüber, an der Wand, lehnte der kleine Daniel und machte ein ängstliches Gesicht. »Du – wajum sagt denn der Großvater nix? Da hinten, schau, is an'bunden und sagt nix.«

Mit wenigen Sätzen stand Brandtner vor der Tür des Eßzimmers. Neugierig trippelte der Knabe hinter ihm her.

Der Kapitän sah zurück und hob die Hand: »Mach, daß du weiterkommst!«

Entsetzt wandte sich das Kind und lief schreiend die Stiege hinunter. –

Mit einem Schnitte war's geschehen. Dann schleppte Brandtner den Leblosen in das Turmgemach und schloß sich ein mit ihm. –

74 Es war zu spät gewesen. – – –

Keuchend stand Frau Lotte vor der Tür und pochte: »Um Gottes willen, was ist denn?«

Der Kapitän öffnete die Tür und drängte die junge Frau sachte zurück. »Nicht, Euer Gnaden, jetzt nicht, später!«

»Angebunden, Herr Brandtner – was soll das?«

»Kindergeschwätz Aber faßt Euch in Geduld – ich will's Euch sagen. der Herr Obrist war aufgestanden und gedachte wohl ins Eßzimmer zu gehen. Da glitt er aus und stürzte gegen die Tür.«

»Tot, Brandtner?«

»Ich glaube, es hat ihn ein Schlag gerührt.«

*

In der Eßstube des Schlosses lag der Obrist auf der Bahre. Zu seinen Häupten brannten dicke Wachskerzen, zu seiner Rechten und Linken standen die zwei gewappneten Knechte und hielten die Totenwache. Auf einem Schemel zu seinen Füßen kauerte Frau Lotte mit ihrem Söhnlein.

Regenschauer gingen den ganzen Tag hernieder, und eine frühe Dämmerung senkte sich auf das Land.

*

Der Pfarrer war allein zu Hause und arbeitete in seinem Museum. Ueber dem Schreibtische flackerte 75 das Flämmchen einer Kerze, und mit aufgestemmten Fäusten stand der kleine Mann und sah herab auf das spärlich beleuchtete Manuskript seines Leichensermons. Dann richtete er sich empor, nahm den Leuchter und hielt ihn vor das bekränzte Bild. Mit eingekniffenen Lippen stand er lange Zeit und betrachtete die lieblichen Züge der Mutter und ihres Knaben. Endlich murmelte er unverständliche Worte, stellte den Leuchter zurück, begann auf und ab zu wandern in der engen Stube und hob mit schallender Stimme an.

»Also stehet geschrieben im zweiten Buch Mosis, im einundzwanzigsten Kapitel: Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. Wo jemand an seinem Nächsten frevelt und ihn mit List erwürget, so sollst du denselben von meinem Altar nehmen, daß man ihn töte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule. – Und weiter stehet geschrieben im dreiunddreißigsten Kapitel des Propheten Jesaja: Weh aber dir, du Verstörer! Meinst du, du werdest nicht verstöret werden? Und du, Räuber! Meinst du, man werde dich nicht berauben? Wenn du dein Verstören vollendet hast, so wirst du auch verstöret werden, wenn du des Raubens ein Ende gemacht hast, so wird man dich wieder berauben. – 76 Jawohl, Andächtige, so wirst auch du verstöret werden, jawohl, so steht es geschrieben. Und dies Wort Heiliger Schrift wollen wir an dieser offenen Grube miteinander betrachten. Vor siebenundzwanzig Jahren habe ich Unwürdiger gleichfalls gestanden an dieser heiligen Stätte und habe meines Amtes mit bitteren Tränen gewaltet. Es werden nicht viele mehr vorhanden sein, die mich damals haben reden hören; denn der große Würger Krieg hat mit seiner Buhle Pest und seinem Knechte Hunger die meisten hinweggerafft vor ihrer Zeit aus dem Lande der Lebendigen. Aber ihr alle wisset es, wen ich damals versenkt habe in sein Schlafkämmerlein und stilles Ruhebette, die Alten haben's den Jungen erzählt, und man wird's noch lange erzählen an Winterabenden in unserm Dorfe: Eine vortreffliche gottesfürchtige gnädige Frau ist's gewesen, eure von Gott eingesetzte Obrigkeit, die ein wilder Soldat in den jähen Tod getrieben hatte; und ein junger Held von zwölf Jahren ist's gewesen, den jener Uebeltäter grausam zu Tode gestochen. Und ich habe mir nachmals den Bissen vom Munde gespart, damit ich den beiden konnte setzen das Epitaphium dort, fein ausgehauen, verziert mit ihrem Wappen und beschrieben mit dem Spruche Heiliger Schrift: In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. – Nun 77 aber nach siebenundzwanzig Jahren ist wiederum der Boden dieses Gotteshauses geöffnet, und mir dünkt, ich höre eine Stimme aus dem benachbarten Grabe – – nein, ich höre sie nicht aus diesem Grabe, nein, die liegen und schlafen ganz mit Frieden. Der Geist Gottes ist's, der diese Stätte umschwebet und den Erdkreis erfüllet, und aus allen Ecken dieses Gotteshauses und von allen Enden der Erde tönt es gewaltiglich, was geschrieben stehet im zweiten Buche Mosis: Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, die mich hassen. Jawohl, andächtige Gemeinde: Gottes Mühlen mahlen langsam –«

Erschöpft hielt der Pfarrer inne und trocknete seine nasse Stirne. Da ertönte ein heftiges Pochen, die Tür ward aufgerissen, und aus der Dunkelheit trat in das Dämmerlicht der Stube der Kapitän.

»Komme, Euch die Zeit zu vermelden, Herr Pfarrer. Morgen abend um halb neun Uhr wollen wir den Herrn Obristen bestatten.«

Der Geistliche verneigte sich leicht: »Ich bin bereit, Herr Kapitän.«

»Ihr seid überm Leichensermon, Herr Pfarrer?«

»Ich bin fast zu Ende damit, Herr Kapitän. Ein jäher Tod, ein sehr jäher Tod!«

»Ein Unfall, Herr Pfarrer. Mein Herr Obrist 78 wollte ins Eßzimmer gehen, da glitt er aus – der Lakai hatte wohl ein wenig Fett ausgeschüttet – so kam mein Herr zu Fall, schlug mit dem Schädel an die Tür und gab nach wenigen Zügen seinen Geist auf. So war's.« Die Stimme des Soldaten klang drohend, er schloß die Tür und trat hart vor den kleinen grauen Mann. »Verstanden?«

Der andre wich keinen Zoll und sagte mit Ruhe: »Man erzählt die Affäre auch anders, Herr Kapitän, man spricht von einem Stricke –!«

»Wer? Ich schlage ihn nieder!«

»Wer? Ein Gerücht, weiter nichts. Und beruhigt Euch, das kümmert mich nicht weiter – bin ja nicht dabei gewesen.«

»Ich wollt's dem Herrn auch nimmermehr geraten haben, daß er sich kümmere um unsre Angelegenheiten. Und mit dem Sermone macht's kurz, Ehrwürden, ganz kurz, sag' ich Euch. Er ist ein Reiter gewesen: sprechet ein Vaterunser, werfet drei Schaufeln voll Erde hinunter, und damit fertig!«

»Ich werde meines Amtes walten, Herr Kapitän.«

»Kommt nichts 'raus bei den langen Sermonen, Herr Pfarrer. Nichts – oder zuweilen nichts Gutes.«

Von des Kapitäns Mantel tropfte das Regenwasser, und auf dem Fußboden entstand eine Lache.

»Um Vergebung, Herr Pfarrer – ein verfluchtes Regenwetter – ich stehe als in einer Blutlache. 79 Ja, diese Sermone an offenen Gräbern! Ich erinnere mich einer alten Geschichte. In unsrer Kompagnie war einer beim Plündern erschlagen worden. Wir hatten ihn gerne gehabt und ließen ihn mit aller Solennität zur Erde bestatten. Weiß noch wie heute –«

Der Kapitän wich bis an die Türe zurück.

»– dort, wo Ihr steht, Herr, stand der Pater und hielt seinen Sermon. Da, wo die Lache blinkt, war das offene Grab. Und da, wo ich stehe, stand des Erschlagenen liebster Kumpan. Und der hatte unter seinem Mantel eine geladene Pistole – seht, Herr Pfarrer, so – –!«

Er öffnete den Mantel ein wenig und zeigte eine Pistole.

Der Pfarrherr stand regungslos, mit gekreuzten Armen an seinem Schreibtische.

»Seht – so! Und als nun der Pater den toten Reiter schmähen wollte, daß ihm recht geschehen, da begab sich's, daß die Pistole von ungefähr losging über das Grab des Erschlagenen und dem andern die Kugel in den Leib. Habt Ihr verstanden, Herr Pfarrer?«

»Herr Kapitän, mir dünkt, der Pater hatte getan, was seines Amtes war, und konnte seine Seele Gott befehlen. Der andre aber hat übel gehandelt, und seine Strafe wird ihm geworden sein.«

80 »Sie haben ihn aufgeknüpft, ganz richtig, Herr Pfarrer. Doch das hatte er ja im voraus gewußt. – Und somit wünsch' ich eine geruhsame Nacht!«

Der Kapitän stampfte die Stiege hinunter und ging hinaus in die Dunkelheit. Der Pfarrherr aber reckte sich, begann wieder auf und ab zu wandern und memorierte unbeirrt mit starker Stimme seinen Sermon.

*

Der kleine Daniel wurde von seiner Mutter zur Beisetzung des Großvaters angekleidet. Doch er wollte nicht stille halten, hatte viel zu fragen, und wenn er konnte, lief er ans Fenster.

»Daniel!«

»Gleich, Mutter. Jetzt führen sie Großvater sein Pferd aus dem Stall. Darf denn Großvater sein Pferd auch mitgehen?«

»Das kann nicht fehlen hinter dem Sarge.«

»Wajum?«

»Weil's ihn auch zu seinen Lebzeiten getreulich getragen hat in allerhand Not und Gefahr. Doch nun komm, ich muß dir deine Schuhe anziehen!«

Er trippelte eilig heran, setzte sich auf den Stuhl und streckte die zappeligen Füßlein hin.

»Und so viel Kuchen hat die Trude gebacken – einen Haufen – – so hoch, ich hab's ja gesehen, Mutter.«

81 »Hast du den Großvater selig liebgehabt, Daniel?«

»O, so lieb!«

Er glitt auf den Boden hinab, umhalste die Mutter und küßte sie stürmisch. »So lieb, Mutter! Und sag nur, Mutter, kriegen die Dorfbuben all den schönen Kuchen?«

»Komm, Daniel, setze dich. Bist ihnen am Ende gar neidig, Junge?«

»Ach nein, Mutter, nur möcht' ich auch ein bissel Kuchen haben.«

»Den sollst du bekommen. So, nun den andern Fuß her – ei, halte doch stille!«

»Horch, Mutter, jetzt läutet's!«

»Fertig!« Sie schluchzte auf.

Er aber hüpfte vom Stuhle und begann umherzutanzen in seinem schwarzen, langen Klagmäntelein, stolperte, fiel hin, sprang auf und tanzte rund um den Tisch. »O, bin ich lustig, bin ich lustig!«

»Aber, Daniel, hast du denn deinen Großvater gar kein bissel liebgehabt? Hierher komm!«

Und er kam sehr erschrocken getrippelt, sagte leise: »Aber der ist doch im Himmel, Mutter?«

»Du mußt nun ganz, ganz stille sein und mit gefalteten Händen neben mir zur Kirche gehen. Sonst tut's mir bitter weh. Verstanden?«

82 »Bitter weh?« wiederholte das Kind und sah scheu zur Mutter empor, die den langen Klagmantel übergeworfen hatte, scheu und sehr verwundert, und konnte nicht verstehen, warum es nicht lustig sein durfte beim Begräbnis des lieben Großvaters.

*

Es war ein lauer Abend. Ueber den Kornfeldern sangen verspätete Lerchen, von den Waldhöhen leuchteten im Zwielichte die Birken und junggrünen Buchen – und gleich einem schwarzen Wurme kroch fast lautlos der kleine Leichenzug ins Tal hinab.

Vor dem Dorfe hielt der Pfarrer neben dem Kantor und den Schulkindern und übernahm die Führung. Im Dreiklange ertönten die Glocken. Der Kantor begann mit brummendem Basse, und die Kinder fangen:

»Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf,
Mein' Zeit zum End' sich neiget;
Ich hab' vollendet meinen Lauf,
Des sich mein' Seel' sehr freuet –«

Im Kote der Dorfstraße kroch der Zug fürbaß.

Weit offen stand die Kirchentür, und aus der schwarzen Höhlung flimmerten die sechs Kerzen des Altares wie Glühwürmchen hervor.

Die singenden Knaben verschwanden mit dem Pfarrer. Der Sarg begann sich zu bäumen unterm 83 Portale, und keuchend überwanden die Träger die Steinstufen.

Das Schlachtroß ward zur Seite geführt, scheute und hob sich auf den Hinterbeinen, daß die schwarze Decke in den Kot herabglitt.

Langsam kroch der Zug vollends hinein in die Dunkelheit, und bedächtig schloß der Küster die Tür.

*

Mitten im Schiffe, zwischen den beiden Bankreihen, hatte man der Länge nach die Gruft ausgehoben.

Die Kinder sangen, und knarrend glitt der Sarg in die Tiefe.

Zu Häupten der Gruft stand der Geistliche, zu Füßen, hart neben der Schloßfrau, stand im wallenden Klagmantel der Kapitän. Es war beinahe wie gestern, und wie gestern über die Lache des Regenwassers hinüber, so starrten sie sich nun über die Gruft in die Gesichter.

»Mutter –!« lispelte der kleine Daniel und drängte nahe heran. Aber sein Stimmchen ward von den Schlußakkorden der Orgel verschlungen.

Mit furchtsamen Aeuglein blickte der Kleine über die Grube hinweg auf seinen Freund, den Pfarrer. Schon zweimal hatte er ihm zugenickt, so freundlich zugenickt, wie er nur konnte. Aber der schwarze Mann hatte ihn gar nicht beachtet. Aengstlich 84 tastete der Knabe nach seiner Mutter Hand und sagte lauter als vorher: »Mutter!« Da ward seine Hand heftig gedrückt, und verzagt hielt er stille.

Das Orgelspiel klang aus, der Pfarrer warf das Haupt in den Nacken. Brandtner hob die Rechte bis zum Gürtel und griff unter seinen Klagmantel.

Ein verächtliches Lächeln flog über die finsteren Züge des Pfarrers, und mit erhobenem Kopfe und starker Stimme begann er in der Totenstille seinen gewaltigen Sermon: »Also stehet geschrieben im zweiten Buche Mosis, im einundzwanzigsten Kapitel – Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben – –«

Zitternd hatte das Kind zu Füßen der Gruft bis dahin den schwarzen Mann beobachtet. Nun aber vermochte es nimmer stille zu stehen, riß sich los von der Hand seiner Mutter, umklammerte ihren Klagmantel an den Knien und schrie: »Mutter, ich fürcht' mich!«

Die Mutter beugte sich herab, flüsterte und suchte ihr Knäblein zu beruhigen. Ringsumher streckten sie die Hälse und murmelten. Kapitän Brandtner allein stand regungslos, mit der Hand unterm Klagmantel, und wandte den Blick nicht von seinem Gegner. Der Geistliche aber hatte innegehalten, sah wie gebannt auf das Kinderköpflein 85 und suchte nach Worten. Und als er fortfuhr zu sprechen, klang seine Stimme so anders als vorher, daß sich das blonde Köpflein zu Füßen der Gruft schüchtern aus den Falten des Klagmantels löste. Und es währte nicht lange, dann lächelte der Knabe unter Tränen. Ei, das war ja doch sein guter alter Freund, der sich dort herüberneigte und ihn tröstete mit beruhigenden Worten: »Nicht weinen, Kind, nicht, liebes Kind, und auch nicht fürchten!« Und in seinen Tränen nickte der Knabe hinüber zu dem freundlichen schwarzen Manne.

Der aber stand und hatte den Faden seines gewaltigen Sermons unrettbar verloren, faltete die Hände und sprach: »Ein Kind hat uns durch sein ängstliches Weinen den rechten Weg gewiesen, hat uns gesagt, daß wir sollen draußen lassen von diesem heiligen Orte alles, was uns fürchten machen könnte in Zeit und Ewigkeit. Darum wollen wir nicht reden von dem, was uns Furcht erregen müßte beim Anblick einer offenen Gruft, nicht reden vom Zorne Gottes, der auf jedem von uns liegt, ob er nun als Kriegsmann über die Erde geritten ist und Sünde getan hat, oder als Ackersmann die Scholle umwirft mit seiner Pflugschar und Sünde tut. Wohl aber möchten wir reden von dem, der da gesagt hat: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Sintemalen der die Kindlein kommen lässet, hat auch 86 die Sünder kommen heißen. Und so reden wir also von dem, der gesagt hat: Friede sei mit euch!«

Leise hatte Kapitän Brandtner die Hand unterm Klagmantel hervorgezogen, und als nun der Geistliche mit der Gemeinde das Gebet des Herrn anhob, da legte auch der alte Soldat die Hände ein wenig zusammen. Und gleich dumpf murmelnden Wellen schlug das Gebet der Männer und Weiber und Kinder zusammen über der Gruft des toten Obristen.

*

Am Morgen des vierten Tages ritt Brandtner mit den Knechten seines Herrn reisefertig zu Tale. Am Pfarrhofe hielt er, befahl den andern vorauszuziehen und trieb den Gaul an die Freitreppe.

Im oberen Stockwerk öffnete sich ein Fenster, und der graue Kopf des Pfarrers ward sichtbar.

»Gehabt Euch, Ehrwürden!«

»Ihr reiset, Herr Kapitän?«

»Gegen den Türken braucht man Soldaten. Ich lass' mich gebrauchen.«

»Herr, auf ein Wort!«

»Wie's Euch beliebt.«

Eilig kam der geistliche Herr die knarrende Stiege herunter, öffnete die Tür und trat hart neben den Reiter: »Die da haben's nicht verhindert, Herr Kapitän!« Er sagte es fast drohend und stieß verächtlich mit dem Zeigefinger an die Pistolentasche.

87 »Weiß ich, Herr,« sprach der Soldat und griff nach der Eisenkappe. »Das Kind ist's gewesen.«

»Sein Erbe ist unbefleckt vor den Menschen,.« murmelte der Pfarrer. »Und also fahrt mit Gott, Herr Kapitän.«

»Mit Gott? Je nachdem!« lachte der andre, gab dem Pferde die Sporen und klapperte die Straße hinunter. 88

 


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